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Kein Resozi­a­li­sie­rungs­vollzug in Hessen

Kai Guthke

Grundrechte-Report 2003, S. 185-189

Unter anderem mit der Ankündigung, den «härtesten Strafvollzug Deutschlands» einzuführen, wurde die CDU in Hessen 1999 an die Macht gewählt. Vier Jahre später gilt es als erfolgreiche Rechtspolitik, Hafturlaube und Freigänge um die Hälfte zu reduzieren. «Weiter hart durchgreifen» und «Privilegien für Straftäter abbauen» heißen die Parolen. Von diesem «Geiste» beseelt sind bisher die hessischen Modellprojekte zur elektronischen Fußfessel (siehe Grundrechte-Report 2000, 203 ff. und 2002, S. 224ff.) und zur Privatisierung des Strafvollzugs (siehe Grundrechte-Report 2000, 203ff.). Nun ist das «Einheitliche Strafvollzugskonzept » hinzugekommen, eine Konzeption zur – wie es heißt – neuen «Austarierung des Spannungsverhältnisses zwischen Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit».

Die Ideologie des neuen alten Vollzugskonzepts ist schnell skizziert: Ein moderner Strafvollzug verlange die «hohe Beachtung» der allgemeinen Strafzwecke, vor allem der «Sicherheit für die Die Freiheit der Person kann nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden Allgemeinheit» und «Genugtuung für begangenes Unrecht». Wie vor der Einführung des Strafvollzuggesetzes 1977 sollen diese Ziele nicht mehr nur bei der Art und Höhe des Strafausspruchs Beachtung finden, sondern auch bei der Gestaltung des Strafvollzuges. Die «verabsolutierende Dominanz» der Resozialisierungsbemühungen solle überwunden werden. Der weitgehende Verzicht auf Resozialisierung wird euphemistisch als «Akzentuierung des Resozialisierungsauftrages» bezeichnet. Der für die Resozialisierung wichtige Vertrauensvorschuss wird ersetzt durch ein «in dubio contra libertatem»: Eine Öffnung des Vollzuges sei nur noch dann zulässig, wenn eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr ausgeschlossen werden kann. Vollzugslockerungen, Urlaub und offener Vollzug werden rigide beschränkt mit dem Argument, dass von der Rechtsgemeinschaft derartige Maßnahmen nicht mehr als Genugtuung verstanden würden. So ist die Anzahl der urlaubsberechtigten Gefangenen zum Beispiel in Butzbach innerhalb weniger Monate von fast 100 auf knapp 30 reduziert worden. Die Liste der Einschränkungen ließe sich beliebig fortsetzen und wurde insbesondere im Wahlkampf gerne präsentiert.

Neuer Realismus

Neben dem üblichen Hinweis auf spektakuläre Einzelfälle bemühen sich die neuen Reformer auch um eine rationale Einkleidung ihres Anliegens: Bei den heutigen, viel schwierigeren und unzugänglichen Strafgefangenen (aggressiveres Verhalten, verbreiteter Drogenkonsum und ethnische Konflikte) würden Anstrengungen zur Wiedereingliederung nicht weiterhelfen, sondern nur noch repressive Sicherungs-, Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen.

Was ist von diesem neuen Realismus zu halten? Zum einen ist eine schwierigere Gefangenenpopulation durchaus Folge rationa ler Strafrechtspolitik, und nicht per se ein malus. Denn eine Kriminalpolitik, die versucht, die Freiheitsstrafe zurückzudrängen, sorgt tatsächlich dafür, dass sich in einem stärkeren Maße als früher nur die wirklich problematischen Fälle im Strafvollzug befinden.

Zum anderen haben sich natürlich Verhaltensweisen und Zusammensetzung auch der Gefangenenpopulation verändert. Wie sollte es anders sein. Ein anderer Umgang mit Drogen und die Einwanderungssituation sind gesamtgesellschaftliche Phänomene, die sich selbstverständlich auch hinter den Gefängnismauern abbilden. Der Strafvollzug ist keine Insel. Viele Probleme sind ein Spiegel der verfehlten Drogen- und desintegrativen Migrationspolitik sowie der seit Jahren anhaltenden Tendenz, längere und häufigere Haftstrafen auszusprechen. Die Fehler dieser unzureichenden und halbherzigen Politik dürfen nicht innerhalb der Gefängnismauern wiederholt werden. Im Gegenteil: Verstärkte Anstrengungen für die Reintegration der Straftäter sind zwingend notwendig. Entlässt man die Gefangenen ohne Vorbereitung, führt das durch sinnlose Verwahrung angestaute Aggressionspotenzial zu fast unlösbaren Problemen. Soweit es tatsächlich vollzugsspezifische Schwierigkeiten gibt, müssen diese anstaltsintern durch die Herstellung geeigneter sachlicher und persönlicher Rahmenbedingungen gelöst werden und nicht zu Lasten des Resozialisierungsvollzuges.

Something works

Obwohl die empirische Forschung spezifische Methodenprobleme bei der Evaluation von Resozialisierungsmaßnahmen hat, ist unbestreitbar, dass gute Integrationserfolge bei Strafgefangenen zu erzielen sind. Die wissenschaftliche Behandlungsskepsis der 80er Jahre («nothing works») ist grundsätzlich einem optimistischeren «something works» gewichen. Differenzierte Behandlungsangebote und ein realistisches, das heißt moderates Resozialisierungsziel sind dafür die Voraussetzungen. Resozialisierungsprogramme, die sich zum Beispiel an den speziellen Risikogruppen und an deren Lernkompetenz orientieren, straftatbegünstigende Faktoren ansprechen und Handlungskompetenz aufbauen sowie eine klare Implementierung der Programme, ihre Qualitätskontrolle und Evaluation erzielen gute Erfolge. Im Übrigen kann mit Resozialisierung ohnehin nur gemeint sein, die Fähigkeit des Gefangenen zu verbessern, sich straffrei zu behaupten. Unabhängig von diesen Gesichtspunkten ist auf normativer Ebene mehr als fraglich, ob das neue hessische Vollzugskonzept im Rahmen des geltenden Strafvollzugsgesetzes überhaupt legal umgesetzt werden kann. In § 2 Satz 1 StVollzG ist als vorrangiges «Vollzugsziel» formuliert, den Gefangenen zu befähigen, ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen. Dieser Vorrang gilt für alle Gefangenen; unabhängig von der Straftat und Straflänge, von Ethnie, Sprache, Religion, wirtschaftlicher und sonstiger Stellung. Der Rechtssatz gilt auch für so genannte «nicht Resozialisierungswillige» und insbesondere auch für Ausländer, die abgeschoben werden sollen. Die neue Vollzugspraxis in Hessen sorgte dafür, dass diese verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit bereits in mehreren Fällen durch die Strafvollstreckungskammern hessischer Gerichte in Erinnerung gerufen werden
musste.

Für diejenigen, die die Art und Weise der Auseinandersetzung um das Vollzugskonzept im Laufe des Jahres verfolgt hatten, lag die Vermutung nahe, dass in Wirklichkeit die Umgestaltung der gesetzlichen Grundentscheidung beabsichtigt wurde. Tatsächlich ist das hessische Kabinett dann auch im Dezember 2002 zum direkten Angriff auf das Resozialisierungsziel übergegangen: Es wurde beschlossen, mit einer Bundesratsinitiative eine gesetzliche Normierung des «Schutzes der Allgemeinheit» als Vollzugsziel zu erreichen. Der Resozialisierungsvorrang trage dem gewachsenen Schutzbedürfnis der Gesellschaft nicht ausreichend Rechnung. Dagegen versuchen verantwortungsvolle Kriminalpolitiker, die Fachöffentlichkeit und sogar Opferverbände wie der «Weiße Ring» seit geraumer Zeit, diese beiden Aspekte gerade nicht gegeneinander auszuspielen. Eine seriöse Rechtspolitik muss der Verführung durch eine populistische Sicherheits- und Angstrhetorik (die Missbrauchsquote bei gewährter Vollzugslockerung lag 1998 bei 0,3 Prozent) widerstehen, wenn sie für sich in Anspruch nehmen will, bei der Lösung der Sachprobleme wirklich mitzureden. Das hessische Vollzugskonzept und die Gesetzesinitiative sind Schritte in die falsche Richtung.

Literatur

Wagner, Christian, Das «Einheitliche Sicherheitskonzept» in Hessen; in: ZRP 2002, 34
Stellungnahme der Hessischen Strafverteidigervereinigung: www.stvh.org
Eisenberg, Götz, Das Monströse als Ernstfall der Humanität. Entwicklungen im Strafvollzug aus Sicht eines ehemaligen Gefängnispfarrers, in: Grass u. a. (Hrsg.), In einem reichen Land, Göttingen 2002

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