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Polizei ohne Kontrolle. Neue Eingriffe in das Telekom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­heimnis nach dem Polizei­recht in Thüringen

Jürgen Seifert

Grundrechte-Report 2003, S. 107-111

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit ist am 28. Juni 2002 eine Änderung des Thüringer Polizeiaufgabengesetzes (ThürPAG) in Kraft getreten, durch die für die Polizei ein eigenständiges Recht zum Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis geschaffen wurde. Seit 1968 gibt es in der Bundesrepublik zwei Formen des Eingriffes in dieses Grundrecht: zum einen durch Einschaltung der Staatsanwaltschaft und eines Richters nach § § 100a ff. StPO im Rahmen der Strafverfolgung; zum an deren den Weg nach Art. 10 Abs. 2 GG bei Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates oder einer Gefährdung von Bestand oder Sicherheit des Bundes bzw. eines Landes für die Verfassungsschutzbehörden, den Militärischen Abschirmdienst und den Bundesnachrichtendienst über eine Anordnung des Innenministers sowie einer Entscheidung der G-10-Kommissionen im Bund (bzw. in den Ländern) über Notwendigkeit und Zulässigkeit eines solchen
Eingriffs.

Die Polizei hat zu einer Telekommunikationsüberwachung – außer im Rahmen der Strafverfolgung in ihrer Funktion als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft – aus guten Gründen keine eigene Befugnis. Diese Begrenzung war vielen Polizeibeamten seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Thüringen, ein Land mit einer klaren CDU-Mehrheit, hat nun tätige Abhilfe geleistet. Erstmals wurde in einem Polizeigesetz eines Landes die Telekommunikationsüberwachung für präventivpolizeiliche Zwecke erlaubt. Die Polizei erhält durch dieses Gesetz die Befugnis, Auskunft über den Inhalt und die näheren Umstände der Telekommunikation (einschließlich des Standorts nicht ortsfester Telekommunikationsanlagen) bereits zu verlangen, wenn lediglich der Verdacht besteht, dass Personen Straftaten im Sinne des § 100a StPO begehen wollen oder wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes «erforderlich ist».

Das Gesetz ist auch deshalb problematisch, weil zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Art. 73 Nr 10b GG) durch das G-10-Gesetz bundesrechtliche Regelungen über Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis existieren: Über Notwendigkeit und Zulässigkeit einer Einschränkung des Telekommunikationsgeheimnisses zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes nach § 1 Abs. 1 G-10-Gesetz ist auch in Thüringen wie bisher eine Entscheidung der G-10-Kommission des Thüringer Landtages erforderlich. Die Polizei brauchte – sofern sie meint, diese Aufgabe wahrnehmen zu müssen – nur den Weg über den Innenminister und die G-10-Kommission des Landes zu gehen: Das ThürPAG schafft solche Regelungen nicht ab, kreiert aber für die Polizei einen Nebenweg, der eine bewährte Kontrollinstanz ausschaltet.

Damit wird polizeilicher Selbstvollzug zulässig. Bei Einschränkungen des Telekommunikationsgeheimnisses durch die Polizei trifft nicht mehr der Innenminister die Anordnung (mit «Genehmigung » der G-10-Kommission), sondern ein Amtsrichter. Eine solche Anordnungsbefugnis ist problematisch, weil die bloße Zwischenschaltung eines Richters erfahrungsgemäß kaum eine Sicherung bietet. Der durchschnittliche Amtsrichter ist gar nicht in der Lage, Notwendigkeit und Zulässigkeit eines Auskunftsersuchens zu prüfen; deshalb unterschreibt er.

Das Gesetz ist verfassungswidrig. Der Bund besitzt nach Art. 73 Nr. 7 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für «Telekommunikation». Auch Auskünfte über die näheren Umstände der Telekommunikation einschließlich der Daten über den Standort nicht ortsfester Telekommunikationsanlagen sind Teil des Telekommunikationsgeheimnisses nach Art. 10 GG. So entscheidet auf Bundesebene nach § 8 Abs. 9 BVerfSchG die G-10-Kommission des Deutschen Bundestages über Notwendigkeit und Zulässigkeit eines solchen Auskunftsverlangens des Bundesamtes für Verfassungsschutz an diejenigen Unternehmen, die Telekommunikationsdienste «erbringen». Auch für den Militärischen Abschirmdienst und den BND ist das so geregelt. Für den Einsatz «technischer Mittel» zur Vorbereitung einer Maßnahme zur strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO gilt seit dem 14. August 2002 der neu eingefügte
§ 100i StPO.

Problematisch ist insbesondere auch die in Thüringen bewusst geschaffene neue Entscheidungsinstanz und der Versuch, den direkten Eingriff der Polizei in das Telekommunikationsgeheimnis zu verschleiern: Das Auskunftsersuchen der Polizei bedarf zwar der Anordnung eines Amtsrichters, in dessen Bezirk die «antragstellende Polizeibehörde ihren Sitz hat». Es gibt jedoch die Einschränkung: «Soweit lediglich eine Auskunft über die näheren Umstände der Telekommunikation erforderlich ist, kann bei Gefahr im Verzug der Leiter des Landeskriminalamtes oder einer Polizeidirektion die Anordnung treffen»; zwar tritt die Anordnung eines Behördenleiters außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen bestätigt wird ( § 34a Abs. 2). Die inzwischen gegebenen Auskünfte über die näheren Umstände der Telekommunikationen sowie die auf dieser Grundlage von der Polizei getroffenen Maßnahmen werden dadurch allerdings nicht berührt.

Die neue Regelung im ThürPAG erhöht die Gefahr, dass die Polizei in diesem Land ohne ausreichende Rechtsgrundlage den IMSI-Catcher (International Mobile Subscriber Identity) auch in der präventivpolizeilichen Telekommunikationsüberwachung einsetzt, um auf diese Weise die erforderlichen Daten für ein Auskunftsverlangen zu bekommen. Der IMSI-Catcher ermöglicht es, die üblichen Verbindungen nicht ortsfester Telekommunikationsanlagen zur Basisstation zu unterbrechen, diese zu simulieren und die Kennung von Geräten, die sich in der Funkzelle befinden, zu erfassen. Auch eine nicht aktiv geschaltete nicht ortsfeste Kommunikationsanlage kann «eingefangen» werden, ohne dass Telekommunikationen stattfinden. Mit anderen Worten: Der IMSI-Catcher kann ein Handy und seine Kennung (nicht zu verwechseln mit der Telefonnummer) auch dann noch orten, wenn der Besitzer nicht damit telefoniert.

Die Regelungen des ThürPAG sind für den Bund und andere Länder auch deshalb eine Herausforderung, weil § 34a dieses Gesetzes so formuliert ist, dass diese Vorschriften – so eine Auskunft aus dem Thüringer Innenministerium – auch dann anwendbar sind, wenn sich die betroffenen Personen nicht im Gebiet des Freistaates Thüringen aufhalten. Aus diesem Grund sind sowohl der Bund als auch andere Länder von dem Gesetz mitbetroffen. Ohne dass eine solche Regelung außerhalb des Landes Thüringen eingehend öffentlich diskutiert wurde, hat Thüringen nicht nur das Instrument einer präventivpolizeilichen Telekommunikationsüberwachung eingeführt, sondern auch eine neue Entscheidungsebene bei Eingriffen in das Telekommunikationsgeheimnis geschaffen. Das berührt nicht nur die Arbeit der G-10-Kommission des Landtags Thüringen, sondern langfristig auch die Tätigkeit der G-10-Kommissionen im Bund und in anderen Bundesländern. Im Hinblick auf den hohen Rang des Telekommunikationsgeheimnisses und die Rechte des Bundes und anderer Länder ist es geboten, dass die Regierung des Bundes oder eines anderen Landes bzw. ein Drittel der Mitglieder des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren beantragt.

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