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Rechts­schutz in Nordrhein-West­fa­len: Zeitweise außer Betrieb

Roland Appel

Grundrechte-Report 2003, S. 103-107

«Die Mitglieder der Kommission sind in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Sie werden von dem in § 2 genannten Gremium nach Anhörung der Landesregierung für die Dauer der Wahlperiode des Landtags mit der Maßgabe bestellt, dass ihre Amtszeit erst mit der Neubestimmung der Mitglieder der Kommission, spätestens jedoch drei Monate nach Ablauf der Wahlperiode, endet.» . . . § 3 Absatz 3 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz vom 11. 3.
1969

Mehr als fünfzehn Monate lang, vom 2. September 2000 bis zum 19. Dezember 2001, wurde in Nordrhein-Westfalen jene Sicherung des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt, die nach dem Willen Das Fernmeldegeheimnis ist unverletzlich der Schöpfer der Notstandsgesetze an die Stelle des Rechtsweges tritt: die rechtliche Kontrolle der Maßnahmen des Landesamtes für Verfassungsschutz zur Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Mehr als fünfzehn Monate lang fanden diese Grundrechtseingriffe statt, ohne dass die Kommission zusammentrat, ohne deren Zustimmung solche Maßnahmen nicht rechtmäßig sind. Ein klarer Verfassungsbruch.

Die nordrhein-westfälische G-10-Kommission besteht aus vier ordentlichen und vier stellvertretenden Mitgliedern, von denen der Vorsitzende die Befähigung zum Richteramt haben muss. Sie ist nicht zu verwechseln mit der ebenfalls vom Landtag benannten «parlamentarischen Kontrollkommission» (PKK), der Abgeordnete aller im Landtag vertretenen Parteien angehören. Im Gegensatz zur PKK, die regelmäßig die Berichte des Innenministers über die Überwachungsmaßnahmen zur Kenntnis nimmt und darüber hinaus die internen Verfassungsschutzberichte erörtert, entscheidet die G-10-Kommission über Einzelfälle. Das G-10-Gremium wird vom Landtag berufen, genießt rechtliche Unabhängigkeit und entscheidet frei von Weisungen. Stimmt es einer vom Innenminister vorgeschlagenen Maßnahme nicht zu, darf sie nicht durchgeführt werden. Auch eine im Einzelfall bereits wegen «Gefahr im Verzug» vorläufig angeordnete Maßnahme kann aufgehoben werden.

Mit Ablauf der 12. Legislaturperiode des Landtages am 1. Juni 2000 und der Neukonstituierung des Parlaments am folgenden Tag war auch die amtierende G-10-Kommission neu zu benennen. Wie bei der Zusammensetzung anderer Gremien und Unterausschüsse üblich, bat Landtagspräsident Ulrich Schmidt (SPD) auch in diesem Falle alle Fraktionsvorsitzenden, die Kandidaten vorzuschlagen. Doch anders als in jenen Fällen, in denen Abgeordnete entsandt werden, die Nachfrage unter den Volksvertretern hoch und der interne Druck auf die Fraktionsspitzen folglich mächtig ist, mochte sich um das Verfassungsgremium, dem traditionell Fachleute, Juristinnen oder Juristen außerhalb des Parlaments angehören, niemand so richtig kümmern. Zwar meldeten Grüne, CDU und FDP fristgerecht ihre Kandidaten. Die SPDFraktion brachte den aus ihren eigenen Reihen kommenden Präsidenten buchstäblich außer Verfassung. Sie musste mehrfach gemahnt werden und unterbreitete endlich im Mai 2001 ihren Personalvorschlag. Immerhin: Die SPD hatte den Vorsitzenden zu benennen. Mit der erforderlichen Sicherheitsüberprüfung und den zu beachtenden Einladungsfristen kam es dann endlich am 19. Dezember 2001 zur konstituierenden Sitzung der G-10-Kommission. Die gesamte Zeit über hatte kein Rechtsschutz bestanden – ein eindeutiger Verstoß gegen die in Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz verbriefte Garantie des Rechtsweges, die seit Verabschiedung der Notstandsgesetze von 1969 durchlöchert ist: Nach Artikel 10 Absatz 2 Grundgesetz tritt in diesem Falle «an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe . . .» – eben die G-10-Kommission.

Die Mitglieder des Gremiums sahen sich mit Amtsantritt einer pikanten Rechtslage gegenüber: Mehrfach hatte in der Zwischenzeit der Innenminister beim Landtagspräsidenten um Sitzungen des Gremiums nachgesucht, weil über Einschränkungen des Fernmeldegeheimnisses zu entscheiden war. Mangels Existenz des Gremiums seit dem 2. September 2000 konnten keine Entscheidungen ergehen. Das hielt die Exekutive jedoch nicht davon ab, im Wege der vorläufigen Anordnung zur Tat zu schreiten, als ob nichts wäre. Natürlich muss gefragt werden, inwieweit bei der Anordnung der Maßnahmen riskiert wurde, im praktisch rechtswegsfreien Raum zu handeln. Weil der Innenminister in NRW nicht nur Chef der Verfassungsschutzbehörde, sondern auch der Verfassungsminister ist, wird von ihm immerhin Sensibilität für die Bürgerrechte erwartet.

Die hat dem Verfassungsschutz wohl nicht im Weg gestanden: Im schlimmsten Fall hätte eine im entsprechenden Zeitraum von Abhörmaßnahmen betroffene Person nachträglich auf Rechtsschutz klagen können – wenn sie denn von der Maßnahme erfahren würde, ein ohnehin seltener Fall. Oder die aufgrund einer G-10-Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse hätten sich in einem Strafverfahren als unrechtmäßig gewonnen erweisen können. So sind im Verfahren gegen die so genannten «Antiimperialistischen Zellen» vor einigen Jahren die wesentlichen Beweise mit nachrichtendienstlichen Mitteln erlangt worden. Mit seiner Entscheidung, ohne Kommission zu lauschen, nahm der Innenminister somit zumindest in Kauf, mögliche Erkenntnisse nicht verwerten zu
können.

Ein gewisses Unwohlsein über diese rechtlich brenzlige Situation schien durchaus zu bestehen. Hätte man sonst um die nachträgliche Genehmigung der Maßnahmen nachgesucht? Dass dies von der gesamten G-10-Kommission als verfassungsrechtlich und verfahrenstechnisch höchst problematisch angesehen wurde, machte der Vorsitzende dem Landtagspräsidenten deutlich. Und darin liegt eine ermutigende Qualität der inzwischen wieder funktionierenden G-10-Kontrolle: Jenseits aller Parteizugehörigkeit ist das Gremium sich einig, dass die Frage der Funktionsfähigkeit des Gremiums und seines Selbstverständnisses nicht unter Geheimhaltung fallen kann. Und die Rechtmäßigkeit im Nachhinein pauschal zu billigen erschien der G-10-Kommission mehr als fraglich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies in Zukunft noch in Verfahren eine Rolle spielen könnte.

So bleibt zu fragen, welche Bedeutung elementare Bürgerrechtsfragen für das Parlament des größten deutschen Bundeslandes haben. Dass der Landtagspräsident (SPD) und die ihn beratenden Juristen die Brisanz der Lage verkannten, ist offensichtlich. Dass (s)eine Fraktion nicht handelte, entließ ihn nicht aus der Verantwortung, sondern forderte sie geradezu heraus. Hätte ihm etwa der Innenminister auf die Sprünge helfen müssen? Schwerlich, schließlich kontrolliert das Parlament die Regierung und nicht umgekehrt.

Der Präsident der Legislative ist Verfassungsorgan. Er muss die Funktionsfähigkeit der Gesetze in seinem Handlungsbereich sicherstellen. Er hätte dies auch unschwer tun können. Anstatt fruchtlos zu mahnen, hätte er unverzüglich aus der Mitte der benannten Vertreterinnen und Vertreter eine G-10-Kommission bilden und eine Juristin oder einen Juristen kommissarisch in den Vorsitz berufen können und damit der Verfassung Genüge getan. Und alle Erfahrung zeigt: Wäre dies jemand von der CDU gewesen – die säumige SPD hätte wahrscheinlich binnen Stunden nach Kenntnis der Sache ihren Vorschlag unterbreitet . . .

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