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Ketten­dul­dungen - Leben in der Warte­schleife

Umgang mit geduldeten Ausländern verletzt Menschenrechte

Grundrechte-Report 2007, Seiten 57 – 61

Was ein Geduldeter ist, wissen die meisten: Ein Ausländer, der keinen rechtmäßigen Aufenthalt hat, aber nicht abgeschoben werden kann und deshalb eine Duldung bekommt. Was es aber konkret bedeutet, ein Geduldeter zu sein, ist weithin unbekannt. Dies heißt zunächst, den Ausländerbehörden ausgeliefert zu sein. Eine Duldung kann zwar für sechs Monate ausgestellt werden – wird sie aber meist nicht. Je nach Land – Herkunftsland oder Bundesland – gibt es mal eine Woche, mal einen Monat oder bestenfalls drei Monate. Jede Vorsprache kann ein Spießrutenlauf sein: »Warum sind Sie noch da? Warum haben Sie noch keine Papiere? Sie erfüllen Ihre Mitwirkungspflicht nicht!«, hört der Geduldete immer wieder mit mehr oder weniger drohendem Unterton. Der Geltungsbereich der Duldung ist kraft Gesetzes auf ein Bundesland beschränkt, kann aber auch enger gezogen werden: Wer nicht mitwirkt, darf die Stadt oder den Landkreis nicht verlassen. Arbeit gibt es so gut wie keine. Beim Vorwurf der fehlenden Mitwirkung ist sie sowieso verboten, ansonsten gilt das Vorrangsprinzip. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit heißt das: Keine Arbeit oder allenfalls ein 2-Stunden-Job auf niedrigstem Lohnniveau. Eine Wohnung kann man davon natürlich nicht finanzieren, was dann – in Bayern kraft Landesrecht, in anderen Bundesländern nach verbreiteter Praxis – geradewegs ins Lager führt. Dort lebt der Geduldete dann in einem Mehrbettzimmer mit Ehepartner und Kindern oder wildfremden Menschen zusammengepfercht. Dieser Zustand dauert nicht Wochen, nicht Monate, sondern Jahre. Manchmal wird ein Jahrzehnt draus. Dies sind dann die Kettenduldungen, um die es hier geht.

Recht auf private Lebens­ge­stal­tung

Schon 1973 hat das Bundesverfassungsgericht erkannt: »Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Hierzu gehört auch das Recht, in diesem Bereich >für sich zu seinsich selbst zu gehören‘, ist nicht eingelöst. So leben zu müssen, widerspricht der menschlichen Würde und verletzt Artikel 1 GG und Artikel 2 Absatz 1 GG.

Der naheliegende Einwand ergibt sich aus der gesetzlichen Definition der Duldung als »vorübergehende Aussetzung der Abschiebung« (§ 60 a AufenthG). Vorübergehend mit anderen zusammenleben zu müssen, nicht arbeiten zu dürfen oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein, verletzt noch nicht die Menschenwürde. In einer solchen Situation ist auch ein Strafgefangener, unter Umständen ein Kranker oder möglicherweise ein jeder, wenn es das Schicksal nicht gut mit ihm gemeint hat. Nur: Was ist vorübergehend und wann gebieten es die Menschenrechte, auch dem nicht willkommenen Ausländer den Zugang zur sozialen Gemeinschaft durch die Einräumung eines legalen Aufenthalts zu gestatten?

Bleibe­rechts­re­ge­lung — ein erster Schritt

Die Innenministerkonferenz hat in ihrem Bleiberechtsbeschluss vom 17. November 2006 eine Legalisierung nach acht Jahren vorgesehen. Obwohl wegen der strengen Voraussetzungen und der zahlreichen Ausschlussgründe nur circa 20 000 von den derzeit 190 000 Geduldeten hiervon profitieren werden, ist dies ein Anhaltspunkt. Die Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen verlangen kürzere Fristen, vor allem für bestimmte Personen: Kinder und Jugendliche, Traumatisierte und Opfer von Gewalt sollten schon früher einen rechtmäßigen Aufenthalt bekommen, fordern sie.

Artikel 8 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) könnte ein Ansatzpunkt sein. Dieser schützt nicht nur das Familienleben, sondern gewährleistet auch den Anspruch auf Achtung des Privatlebens. Dies umfasst unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person, das Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln und verlangt die Rücksichtnahme auf die individuelle Situation unter Berücksichtigung des Lebensalters, der persönlichen Befähigungen, der Integration in das wirtschaftliche, kulturelle, gesellschaftliche Leben auf der einen Seite und das Maß der Entwurzelung und Reintegrationsfähigkeit im Herkunftsland auf der andere Seite bei Entscheidungen über den Aufenthalt. Unter dem Stichwort der »faktischen Integration« ist das Interesse des Individuums gegen das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung abzuwägen. Eine schematische Beurteilung, damit auch die Festlegung starrer Zahlen, verbietet sich, vielmehr sind sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. In mehreren Entscheidungen hat der EGMR im Einzelfall ein Übergewicht des privaten Interesses gegen das staatliche Interesse bejaht und die Maßnahme der Aufenthaltsbeendigung als nicht notwendig im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 EMRK gerügt.

In zumindest einem Fall leitete der EGMR (EGMR vom 16. 06. 05, 60654/00, Sisojeva) aus dem Recht auf Privatleben auch einen Anspruch auf Einräumung eines rechtmäßigen Aufenthalts ab. Da seine Rechtsprechung als Auslegungshilfe des nationalen Rechts heranzuziehen ist, ergibt sich ein zweifacher Lösungsansatz. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Gebot der Achtung der Menschenwürde aus Artikel 1 GG sowie Artikel 2 Absatz 1 GG verlangt, auch dem Geduldeten die private Lebensgestaltung, in der er seine Individualität entwickeln und wahren kann und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben grundsätzlich und zunehmend zur Aufenthaltsdauer mehr und mehr einzuräumen. Die Einweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft, eine Zwangsverpflegung, die Untersagung einer frei gewählten Erwerbstätigkeit sind umso weniger zulässig, je länger der Betreffende hier ist – und zwar ungeachtet seines ausländerrechtlichen Status. Die Einschränkungen des grundlegenden Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit müssen mit zunehmender Aufenthaltsdauer abnehmen und nicht, wie gegenwärtig, zunehmen. Auch bei Geduldeten verlangt das Grundgesetz die Integrationsförderung und nicht die gezielte Desintegration. Das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Artikel 8 Absatz 1 EMRK definiert dann die Grenze, ab der eine Abschiebung unzulässig wird und damit der Aufenthalt zu legalisieren ist. Starre zeitliche Grenzen gibt es hierbei nicht, vielmehr kommt es auf den Einzelfall, das Alter, die Integration und die Besonderheiten in der Vita an.

Die gegenwärtige Praxis jedenfalls ist nicht akzeptabel. Wer hier lebt, hat Anspruch auf Achtung seiner Individualität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wer lange hier gelebt hat, muss hier bleiben dürfen. Denn Deutschland ist dann de facto zu seiner Heimat geworden, auch wenn es nicht sein Heimatstaat ist. Das Gebot der Achtung der Menschenwürde wird nicht durch die Grenzen des Nationalstaats beschränkt.

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