Neonazis schutzlos ausgeliefert: Alternative Jugendliche in Sachsen-Anhalt
Grundrechte-Report 2007, Seiten 153 – 157
Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer rechten oder rassistischen Gewalttat zu werden, ist in Sachsen-Anhalt zehnmal so hoch wie in Hessen oder anderen alten Bundesländern. Den Hauptbetroffenengruppen rechter Gewalt – nicht-rechte und alternative Jugendliche, Punks, Flüchtlinge und Migranten/innen – mangelt es nicht allein an Unterstützung aus der gesellschaftlichen Mitte, sondern oft auch am elementaren Schutz durch die dafür eigentlich zuständigen staatlichen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden.
Akut gefährdet sind alle diejenigen, die durch ihr »Anderssein« oder Aussehen nicht ins rechte Weltbild passen – insbesondere auch an Feiertagen wie dem sogenannten »Herrentag«, der in anderen Landstrichen Deutschlands eher als »Himmelfahrtstag« oder »Vatertag« bekannt ist. Seit über zehn Jahren kommt es immer wieder zu rassistisch motivierten Hetzjagden gegen Migranten/innen und Flüchtlinge zum »Herrentag« – sei es 1994 in Magdeburg oder im Jahr 2005 in Halberstadt am Bahnhof. Bei den wenigen soziokulturellen Zentren und Wohnprojekten von Punks und alternativen Jugendlichen herrscht zum »Herrentag« Mitte Mai grundsätzlich erhöhte Wachsamkeit.
Rechte Bedrohung ist Alltag in Oschersleben
So auch am 25. Mai 2006: In der 18000-Einwohner-Stadt Oschersleben bewegen sich nicht-rechte Jugendliche am »Herrentag« 2006 nach Einbruch der Dunkelheit nur in größeren Gruppen auf der Straße. Denn die Kreisstadt Oschersleben und der Bördekreis östlich der Landeshauptstadt Magdeburg gehören zu denjenigen Regionen in Sachsen-Anhalt, in denen die Dominanz einer rechten Alltagskultur seit mehreren Jahren einher geht mit einer Zunahme politisch rechts motivierter Gewalttaten. Die meisten alternativen Jugendlichen erinnern sich, dass nur ein Jahr zuvor – im Frühjahr 2005 – ein Punk auf dem Nachhauseweg vom soziokulturellen Zentrum »Alge e.V.« im Oscherslebener Knochenpark völlig überraschend von mehreren Rechten brutal überfallen wurde. Die Angreifer misshandelten ihr Opfer damals auch dann noch, als es bereits bewusstlos am Boden lag.
Gegen 22:30 Uhr am 25. Mai 2006 bemerkt eine Gruppe von circa zehn alternativen Jugendlichen im Innenstadtbereich von Oschersleben mehrere Neonazis. Aus Angst bleiben die Jugendlichen erst einmal stehen. Dann registrieren sie, dass die Neonazis direkt auf sie zu laufen und flüchten verängstigt in verschiedene Richtungen. Drei junge Männer und zwei junge Frauen entscheiden sich dafür, zu dem scheinbar naheliegendsten Fluchtpunkt zu rennen: dem örtlichen Polizeirevier, das weithin sichtbar ausgeschildert ist. »Als wir dort ankamen, haben wir vergeblich an der Eingangstür des Reviers gezogen und gedrückt und immer wieder panisch geklingelt, aber nie-mand hat uns aufgemacht«, schildert einer der Jugendlichen die Situation. Stattdessen kommen zwei der Neonazis um die Ecke und gehen sofort auf zwei der alternativen jungen Männer los. Die beiden Mädchen und der dritte junge Mann aus der alternativen Gruppe können weglaufen.
Die Neonazis zögern nicht lange. »So, ihr Scheiß-Zecken«, ruft einer der Angreifer und schlägt einem der alternativen Jugendlichen, der noch versucht hatte, beruhigend auf die Rechten einzureden, mit der Faust zweimal aufs Ohr. Der 18-Jährige fällt daraufhin mit dem Kopf gegen die Hauswand und geht zu Boden. Währenddessen schlägt ein zweiter Rechter dem anderen 18-Jährigen mit der Faust aufs linke Auge. In dem Moment kommt ein weiterer Neonazi dazu, brüllt »Scheiß-Zecke«, zieht den 18-Jährigen an den Haaren zu Boden, schlägt ihm ebenfalls mit der Faust aufs Auge und tritt dann weiter auf den am Boden Liegenden ein. Erst als ein weiterer Rechter -offensichtlich ortskundiger als die drei vorherigen Angreifer – hinzu kommt und darauf hinweist, dass man sich direkt vor dem Polizeirevier befinde, lassen die Neonazis von ihren Opfern ab und entfernen sich vom Tatort.
Aus Angst vor weiteren Neonazis verstecken sich die beiden Opfer erst einmal hinter einem Baucontainer beim Polizeirevier. Als sie kurz darauf sehen, dass ein Auto mit zwei Polizeibeamten beim Revier vorfährt, kommen die Jugendlichen aus ihrem Versteck. Aufgelöst berichten sie den Beamten, was ihnen passiert ist. Doch die Polizisten wiegeln ab; die Tür zum Revier sei doch offen gewesen, und überhaupt sei das Revier nur mit einem Beamten besetzt gewesen. Der habe eben nicht direkt intervenieren können. Immerhin bringen sie die Jugendlichen nun zu einer ersten Aufnahme des Sachverhalts ins Revier. Derweil gehen andere Beamte einem Hinweis nach, dass sich die Angreifer in einem Hof direkt gegenüber vom Polizeirevier aufhalten würden – der ohnehin stadtbekannt ist als Treffpunkt für Neonazis aus Oschersleben und der nahen Landeshauptstadt Magdeburg.
Polizei, dein Freund und Helfer?
Während die beiden Verletzten noch von Polizisten vernommen werden, bemerken einige ihrer Freunde, die sich mittlerweile vor dem Polizeirevier eingefunden haben, wie sich um sie herum immer mehr Neonazis sammeln. Ein alternativer Jugendlicher geht deshalb extra ins Revier und erklärt den Beamten, er befürchte weitere Gewalt durch die Rechten. Doch die Polizisten wiegeln ab. Sie reagieren auch nicht, als der junge Mann ihnen erklärt, dass einer der Angreifer nur wenige Meter entfernt vor dem Revier stehe, er diesen identifizieren könne und man doch bitte dessen Personalien aufnehmen solle.
Das Selbstbewusstsein der Rechten ist an diesem Abend ohnehin grenzenlos. »Ich schlag dir den Schädel ein«, droht einer der Rechten vor dem Polizeirevier einer jungen Punkerin und hält dabei einen Plastikbeutel mit einem Schlagwerkzeug in der Hand. Auch die junge Frau wendet sich hilfesuchend an einen Polizeibeamten. Die Reaktion: Ihr wird ein Platzverweis erteilt. Als die beiden verletzten Jugendlichen nach ihrer Vernehmung das Polizeirevier verlassen wollen, warten noch immer etliche Rechte an einer nahe gelegenen Straßenkreuzung. Erst nach längerer Diskussion gelingt es den völlig verängstig-ten jungen Männern, Polizeibeamte davon zu überzeugen, sie nach Hause zu bringen. Ärzte stellen später fest, dass einem der 18-Jährigen durch die Schläge ein Loch im Trommelfell zugefügt wurde; der andere hat ein blutunterlaufenes blaues Auge.
Für diese Jugendlichen und ihre Freunde, die sich selbst als »nicht-rechts« oder »alternativ« bezeichnen, wich die Angst vor den Tätern schnell vor allem einem fassungslosen Staunen darüber, dass sie keinerlei Hilfe von »ihrem« Polizeirevier erhalten hatten. »Wir wollten vor allem eine Erklärung für das Verhalten der Polizisten«, sagt einer der Betroffenen. Doch im Polizeirevier Oschersleben wird jegliches Fehlverhalten geleugnet. Zugehört wurde den alternativen Jugendlichen schließlich in der Polizeidirektion Halberstadt, die auch die Dienstaufsicht über das Polizeirevier in Oschersleben hat. Dort hält man die Aussagen der Jugendlichen für so glaubwürdig, dass ein internes Dienstverfahren gegen die Beamten eingeleitet wurde.
Neun Monate nach dem Angriff gibt es allerdings immer noch keine Anklage gegen die tatbeteiligten Neonazis. Dabei ist es in der Stadt ein offenes Geheimnis, dass am »Herrentag« Magdeburger Neonazis aus dem Umfeld der militanten Freien Kameradschaften mit den »Kameraden« aus Oschersleben feierten. Und da niemand vor Ort den Rechten Grenzen setzt, ist das Selbstbewusstsein auch eher jüngerer Rechter aus dem Umfeld der organisierten Neonazis in Oschersleben seit dem Herrentagsangriff weiter gestiegen: In den Sommermonaten des Jahres 2006 sind es dann vor allem vietnamesische Migranten/innen und deren Läden, die zu Zielen neonazistischer Angriffe wurden.