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Die Wahrheit stirbt zuerst - Zur Praxis des Polizei­ein­satzes rund um den G8-Gipfel in Heili­gen­damm

Grundrechte-Report 2008, Seite 103

Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht von essentieller Bedeutung für repräsentative Demokratien. Es kann allenfalls gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden, wenn konkret nachweisbare, unmittelbar bevorstehende Gefahren, die anders nicht abzuwehren sind, dies verlangen. Alle Vermutungen sprechen jederzeit dafür, diesem Grundrecht Geltung zu verschaffen. Anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm hebelte die eigens eingesetzte Ausnahmebehörde „Kavala“ dieses Grundrecht angesichts aller nur denkbaren Gefahren für die Spitzenpolitiker und -politikerinnen völlig aus. In welchem Maße diese Gefahren im Vorhinein konstruiert wurden, zeigt Heiner Busch in diesem Band (S. 99) Auf der Grundlage dieser Vorbereitungen im Vorfeld des Gipfels sind die konkreten Vorkommnisse in Rostock und rund um Heiligendamm zu verstehen, die dieser Artikel schildert.

Polizei­liche Eskala­ti­onss­tra­te­gien

Eine große Auftaktkundgebung gegen die Politik der G8-Staaten fand am Samstag, 2. Juni 2007, in Rostock statt. Entgegen vielerlei Befürchtungen konnte der Demonstrationszug ohne repressive Zugangskontrollen und ohne enge polizeiliche Begleitung durch die Stadt ziehen. Einzig die vielen mit Holz vernagelten Schaufenster machten deutlich, in welchem Maße die Angst bei den Geschäftsleuten geschürt worden war. Als der größte Teil der Demonstrierenden auf dem Platz der Abschlusskundgebung am Hafen angekommen war, änderte sich dieses friedvolle Bild einer riesigen internationalen Demonstration schnell. Kleine Polizeieinheiten, orientiert am Konzept der beweissichernden Festnahmen, stießen mitten in die Menge der Demonstrierenden vor, um einzelne herauszugreifen. Sie ignorierten die Zusammengehörigkeit der Demonstration, die als Ganzes dem Schutz des Versammlungsrechts untersteht, schlugen sich gegebenenfalls ihren Weg frei, filmten auf Video und nahmen Einzelne fest. So wurde etwa ein Demonstrierender aus der Menge gerissen, an dem sich ein Rollstuhlfahrer festhielt. Dieser wurde aus seinem Stuhl gerissen und mitgeschleift. Die Festnahmen erschienen den Umstehenden immer willkürlich, so dass sie stets befürchten mussten, als nächste Opfer dieses polizeilichen Vorgehens zu werden.

Schnell erfolgten von einigen Demonstrierenden Würfe von Steinen, Flaschen oder Feuerwerkskörpern in Richtung solcher Polizeieinheiten, die ebenfalls auch die Demonstrierenden gefährdeten. Das von der Polizei vermittelte Bild einer von Chaoten in Schutt und Asche gelegten Innenstadt stimmt jedoch nicht. Der Senator für Finanzen, Verwaltung und Ordnung der Hansestadt Rostock, Georg Scholze, teilte Wochen später mit, durch die „schweren Straßenkrawalle“ sei „ein überschaubarer Schaden im Stadthafen“ entstanden.

Auch an den folgenden Tagen wurden immer wieder einzelne aus Gruppen und Demonstrationszügen herausgegriffen und festgenommen. Bei den Zugängen zu Demonstrationen wurden Kontrollstellen eingerichtet. Gegenstände im Rucksack, die zur „Vermummung“ geeignet sein könnten, konnten genauso wie ein mitgeführter Zahnschutz zur Festnahme ausreichen. Ein holländischer Medienbus wurde ohne konkrete Anhaltspunkte für eine von ihm ausgehende Gefahr durchsucht und beschlagnahmt. Der Fahrer und ein Journalist wurden festgenommen und erst am nächsten Morgen freigelassen.

Am Montag, 4. Juni 2007, wurde eine große internationale Demonstration mit wechselnden Begründungen daran gehindert, auf dem polizeilich bestätigten Weg vom Kundgebungsort Richtung Innenstadt zu ziehen. Mit zweistündiger Verspätung konnte die Demonstration zwar beginnen, wurde aber nach kurzer Zeit wiederum aufgehalten. Die Versammlungsbehörde, zu der sich die Besondere Aufbauorganisation der Polizei für diese Zeit erklärt hatte, wollte den Demonstrationszug nicht in die Innenstadt zur Abschlusskundgebung lassen. Die große, polizeilich ausnahmsweise auf 10.000 hochgerechnete Zahl der Teilnehmer sollte der Wahrnehmung des Versammlungsrechts im Weg stehen. Nur 2.000 Demonstrierende waren im Vorhinein angemeldet worden. Selbst der vor Ort zuständige polizeiliche Einsatzleiter remonstrierte gegen diese Entscheidung der Versammlungsbehörde, die erneut mit der Gewaltbereitschaft der Teilnehmer und deren Vermummungen begründet wurde. Seine Beobachtungen vor Ort widersprachen den versammlungsbehördlichen Erkenntnissen. Nach der Auflösung der Versammlung zog eine beim Einsatzleiter vor Ort angemeldete Spontandemonstration in die Innenstadt und zur Abschlusskundgebung im Rostocker Hafen.

Fehlin­for­ma­ti­onen verhindern Rechts­schutz

Im Krieg, so sagt man, stirbt die Wahrheit zuerst. Beim Schutz eines Gipfeltreffens hochrangiger Politiker, der im Geiste des „Krieges gegen den Terrorismus“ betrieben wird, scheint dies ebenfalls zu gelten. Schon während und nach der Auftaktdemonstration am Samstag begann die Polizei, die Öffentlichkeit sachlich falsch zu informieren. Die Zahl der verletzten Polizeibeamten wurde ständig nach oben korrigiert, von 400 verletzten Beamten, davon 25 schwer, war schließlich die Rede. Wenige Tage später offenbarten Recherchen, dass diese Zahlen falsch waren. Tatsächlich mussten zwei Beamte kurzfristig stationär behandelt werden und fallen insofern in die Kategorie der schwer Verletzten.

Diese Taktik der Fehlinformation wurde auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) weitergeführt, das am 6. Juni 2007 in einer Eilentscheidung über das Verbot des für den 7. Juni angemeldeten Sternmarsches entscheiden musste (1 BvR 1423/07). „Kavala“ gab dem BVerfG noch am 5. Juni 2007 diese falschen Informationen über verletzte Polizeibeamte. Selbst entgegen den Beobachtungen des polizeilichen Einsatzleiters vor Ort berichtete die Sonderbehörde, am 4. Juni seien bei der Migrationsdemonstration „zahlreiche gewaltbereite Personen vertreten“ gewesen. „Lediglich dadurch, dass die Versammlung vorzeitig abgebrochen“ worden sei, hätten „gewalttätige Ausschreitungen weitgehend verhindert“ werden können. Auch an diesem Tag seien 50 Polizeibeamte verletzt worden. Das Gericht wurde vor „deutlich über 2.000 gewaltbereiten Störern“ gewarnt. Zwei Tage später wurden daraus in einer Verbotsverfügung der ersatzweise angemeldeten Kundgebungen und Demonstrationen am 7. Juni 2007 bereits „3.000 zweifelsfrei gewaltbereite autonome Personen“ und „mindestens die gleiche Anzahl von gewaltgeneigten Personen.“ Unbelegt wurde behauptet, die Polizei sei „gezielt mit chemischen Flüssigkeiten angegriffen“ worden. Obwohl alle Berichte vom Eindringen der Demonstrierenden in die Demonstrationsverbotszone und vor den Zaun am Mittwoch, 6. Juni 2007, nur die Friedfertigkeit des Protestes schilderten, berichtete „Kavala“: „1.500 äußerst gewaltbereite Personen versuchten mehrfach, die technische Sperre zu überwinden. Hierbei gingen die Autonomen mit brutaler Gewalt unter Verwendung von Äxten, Steinen, Brandsätzen etc. vor, wobei sie auch nicht vor Angriffen auf Polizeibeamte zurückschreckten.“

Solcherart polizeiliche Fehlinformationen unterlaufen jeden Rechtsschutz. Das BVerfG sah sich in der gebotenen Eile nicht imstande, dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Schutz zu gewähren. Es stellte nur fest, dass „erhebliche Zweifel an der Tragfähigkeit der Argumentation der Behörde und des Oberverwaltungsgerichts“ bestünden. Es sei „an keine Stelle erkennbar“, dass in das Sicherheitskonzept auch Anliegen der Durchführbarkeit von Demonstrationen, insbesondere solcher mit einer inhaltlichen Stoßrichtung gegen den G8-Gipfel, eingeflossen seien. Die falsch dargestellten Bedrohungen, Gewalttätigkeiten und die hohe Zahl der verletzten Polizeibeamten gaben letztlich den Ausschlag für die Bestätigung des Demonstrationsverbots.

Literatur

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel, Demonstrationsbeobachtungen vom 2. – 8. Juni 2007 rund um Heiligendamm, Dezember 2007

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