Flexicurity oder Flexicarity - Arbeitnehmerrechte in Europa unter Druck
Grundrechte-Report 2008, Seite 163
Im November 2006 veröffentlichte die Europäische Kommission das Grünbuch „Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“. Im Zentrum des dort umrissenen Konzeptes zur vermeintlichen Modernisierung des Arbeitsrechts in den Mitgliedstaaten steht der Begriff Flexicurity – ein Kunstwort, gebildet aus „Flexibility“ und „Security“. Nach der Eigenwerbung der Kommission bezeichnet es ein Konzept, das größere Flexibilität auf den Arbeitsmärkten mit größtmöglicher sozialer Sicherheit verbindet, und besteht aus vier Komponenten:
- Flexible und zuverlässige vertragliche Vereinbarungen,
- Umfassende Strategien des lebenslangen Lernens,
- Wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen,
- Moderne Systeme der sozialen Sicherheit.
Das klingt ausgewogen. Betrachtet man das Grünbuch der Kommission sowie die ergänzende Mitteilung der Kommission vom 27. Juni 2007 jedoch näher, so fällt auf, dass die Arbeitnehmer in Europa als Ausgleich für weit reichende Flexibilisierungsvorschläge nur ein vages Versprechen von sozialer Sicherheit erhalten und wahrscheinlich noch nicht einmal das.
Viel Flexibilisierung
Wenn die Kommission flexiblere vertragliche Vereinbarungen einfordert, so meint dies vor allem den Abbau von Kündigungsschutzrechten. Wie weit dies reichen kann, wird deutlich, wenn die Kommission positiv Bezug nimmt auf die Forderung der von ihr im Frühjahr 2003 auf Initiative der Staats- und Regierungschefs der Union eingesetzten Arbeitsgruppe „Taskforce Beschäftigung“: Die Mitgliedstaaten müssten „prüfen, welchen Grad an Flexibilität ihre Standardarbeitsverträge in Angelegenheiten wie Kündigungsfristen sowie Kosten und Verfahren bei Einzel- oder Massenentlassungen oder bei der Definition ungerechtfertigter Kündigung bieten, und gegebenenfalls die erforderlichen Anpassungen vornehmen.“ In Rede stehen somit nicht „nur“ Einzelfragen, ob etwa der gesetzliche Kündigungsschutz erst ab 15 oder bereits ab 10 Mitarbeitern greifen soll, sondern eine umfassende Revision des individuellen und kollektiven Kündigungsschutzes.
Ein derart deformiertes Kündigungsschutzrecht ist nach Auffassung der Kommission nicht nur effektiver, sondern vor allem gerechter. So lehrt das Grünbuch, dass die seit Beginn der neunziger Jahre bereits vorgenommenen Flexibilisierungsmaßnahmen eine zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarkts bewirkt haben – mit „Outsidern“ in zunehmend prekärer Situation und „Insidern“ in nach wie vor relativ gut abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Eine Entwicklung mit Verwerfungen und Gerechtigkeitslücken. Als Problem erscheint der Kommission jedoch nicht der Abbau von Schutzrechten oder der Umstand, dass die Arbeitgeber diesen Abbau zum massiven Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse genutzt haben, sondern das nach wie vor relativ hohe Schutzniveau im Bereich von Kernbelegschaften: Weil es für die Arbeitgeber nicht attraktiv sei, diese Kernbelegschaften für weitere Teile der Arbeitnehmer zu öffnen, komme es zu einem Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse an den Rändern. Das Konzept der Kommission setzt nun darauf, durch eine weitere Absenkung der Standards die Segmentierung aufzuheben, sie zielt auf eine Angleichung auf niedrigem Niveau.
Gestützt wird dieses Konzept durch den unerschütterlichen Glauben der Kommission, dass durch den Abbau des Kündigungsschutzes neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Denn zurzeit würden Unternehmen lieber darauf verzichten, Profit mit gesellschaftlich nachgefragten und vergüteten Leistungen zu erwirtschaften, als das Risiko einzugehen, einmal angestellte Mitarbeiter nicht mehr loszuwerden. Eine Behauptung, die in zahlreichen wissenschaftlichen Studien, unter anderem von der OECD, widerlegt wurde, neoliberale Ideologen, nicht nur bei der Kommission, aber ungebrochen begeistert.
Wenig Sicherheit
Die versprochene Sicherheit bleibt hingegen ein dürres Pflänzchen. Das Beste, was der Kommission hierzu einfällt, klingt so: „Es ist wichtig, dass die EU-Regierungen angemessene Arbeitslosenbeihilfen vorsehen, die als Sicherheitsnetz dienen, wenn Menschen den Arbeitsplatz wechseln, dass sie Krankengeld zahlen, wenn es an ihrer Gesundheit hapert, und Renten, wenn sie sich zur Ruhe setzen.“ Das ist nicht viel mehr als ein zivilisatorisches Minimum.
Auch die unter dem strapazierten Begriff „lebenslanges Lernen“ in Aussicht gestellten Fort- und Weiterbildungskonzepte bleiben verschwommen. Anstatt konkrete Verantwortlichkeiten für die Finanzierung und das Angebot solcher Programme zu benennen, wird folgenlos an alle appelliert, an staatlichen Stellen, Sozialpartner, Unternehmen und einzelne Arbeitnehmer. Was fehlt, sind verbindliche Rechtsansprüche, die Arbeitnehmer gegen den Staat oder gar ihre Arbeitgeber durchsetzten könnten. Angesichts der Erfahrungen, die in verschiedenen Mitgliedsstaaten gemacht wurden, muss man daher kaum Pessimist sein, um zu befürchten, dass im Wesentlichen ohnehin Hochqualifizierte von Fortbildungsprogrammen der Unternehmen profitieren werden und für die Mehrheit der Arbeitnehmer nur die Verpflichtung bleibt, sich privat immer neue Qualifikationen zu erwerben, um so ihre Verwertbarkeit für die Unternehmen zu verbessern.
Etwas mehr Platz bekommen die „wirksamen aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“ – aber vor allem deshalb, weil Arbeitslosenunterstützung sich „abträglich auf die Intensität der Arbeitssuche auswirken und die Arbeitsaufnahme finanziell weniger attraktiv machen“ könnte. Hier will die Kommission gegensteuern, durch „Arbeitsanreize“, die „ein Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten gewährleisten“ sollen. Euphemismen, die wie eine Drohung klingen. In den Hartz-Reformen bedeutet dies, dass Arbeitslose durch Leistungsentzug unter Druck gesetzt werden, bis sie nahezu jede Arbeit zu fast allen Bedingungen annehmen.
Flexicarity
So wird im Grünbuch ein düsteres Bild eines „modernen Arbeitsrechts“ gezeichnet. Den Arbeitnehmern droht ein erheblicher Abbau von Schutzrechten verbunden mit einem repressiven Arbeitsvermittlungsregime. Auf einen Ausgleich durch einen großzügigen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme oder zumindest durch umfassende Rechtsansprüche auf sinnvolle Fort- und Weiterbildung wird man vergeblich hoffen. Die Kommission selbst bringt es im Grünbuch auf den Punkt: „Auf EU-Ebene werden zahlreiche legislative und politische Maßnahmen getroffen sowie analytische Studien durchgeführt, um festzustellen, auf welche Weise neue, flexiblere Arbeitsformen mit einem Minimum an sozialen Rechten für alle Arbeitnehmer kombiniert werden können.“
Für eine immer größere Zahl von Arbeitnehmern sinkt unmittelbar die Arbeitsplatzsicherheit und die Zahl prekär Beschäftigter wird weiter zunehmen. Zu den Folgen für die direkt Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die scheinbar Verschonten. Für diese wird Prekarität zur omnipräsenten Bedrohung. Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee macht eindringlich klar, dass eben niemand unersetzbar ist, und lässt den Arbeitsplatz geradezu als (bedrohtes) Privileg erscheinen. Gerade der Abbau des Kündigungsschutzes, gepaart mit einem repressiven Arbeitsvermittlungsregime, wirkt als Katalysator dieser Ängste – zeigt, dass man schnell austauschbar ist und der soziale Abstieg auf den Fuße folgen kann.
Die Vorschläge der Kommission zielen damit im Ergebnis auf die Sozialstaatlichkeit als einen der Grundpfeiler unserer Verfassung. Zwar sind die Konturen des Sozialstaatsprinzips in der rechtlichen Diskussion weniger ausgeprägt als etwa das Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip. Vor allem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) überlässt die inhaltliche Präzisierung traditionell weitgehend dem Gesetzgeber und räumt ihm dabei weiten Spielraum ein (vgl. Beschluss v. 27.1.1998, Az. 1 BvL 15/87; BVerfGE 65, 182, 193; 59, 231, 263). Angesichts des erheblichen Drucks, der im europäischen Harmonisierungsprozess auf dem nationalen Gesetzgeber lastet, kann dies jedoch nicht das letzte Wort sein. Der soziale Gedanke des Kündigungsschutz- und Arbeitsförderungsrechts muss gegen das neoliberale Konzept der Kommissionsvorschläge verteidigt werden.
Denn sonst ist das Resultat soziale Demobilisierung: Arbeitnehmer nehmen ihre verbleibenden Rechte seltener wahr, sei es in Tarifauseinandersetzungen oder bei Konflikten im individuellen Arbeitsverhältnis. Eine Entwicklung, die sich bereits jetzt an gesunkenen Reallöhnen und der dramatisch gestiegenen Bereitschaft, krank zur Arbeit zu gehen, beispielhaft ablesen lässt.
Zu Recht macht daher ein neues Schlagwort die Runde: Flexicarity – Flexibility und Precarity.
Literatur
Grünbuch der Kommission, unter:
http://ec.europa.eu/employment_social/labour_law/docs/2006/green_paper_de.pdf