Wer einmal der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt - Der Bruch von Verfassungsrecht in Auslieferungsverfahren
Grundrechte-Report 2008, Seite 63
Primo Levi prägte den Satz, dass nicht mehr heimisch werden kann in dieser Welt, wer einmal der Folter erlag. Dank der wertvollen Arbeit der Behandlungszentren für Folteropfer ist bekannt, dass Überlebende von Folter, politischer Verfolgung und Kriegen zuallererst ein Gefühl der Sicherheit und des bedingungslosen Schutzes benötigen, um die tiefen Risse und Zerstörungen in ihrem Innern zumindest ansatzweise verarbeiten zu können.
Die Türkei verfolgt seit einiger Zeit die Strategie, im Exil lebender oppositioneller Kurden dadurch habhaft zu werden, dass sie reihenweise deren Auslieferung beantragt. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach festgestellt hat, dass Strafverfahren der Staatssicherheitsgerichte in der Türkei rechtsstaatlichen Standards nicht entsprechen und deren Urteile unter Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zustande gekommen sind, sind derartige Strafurteile immer wieder Grundlage für Auslieferungsersuchen der Türkei. In Deutschland häufen sich die Fälle in jüngster Zeit. Betroffen sind sogar anerkannte Asylberechtigte – wie der im Jahr 2003 nach Deutschland geflohene Herr O. Sein Fall zeigt, wie leicht durch Auslieferungsersuchen irgendwelcher Unrechtsregime selbst Folteropfer in Deutschland in Haft geraten und eine Behandlung erfahren können, welche menschenrechtswidrig ist.
Folter in türkischer Haft
Herr O. floh 2003 aus der Türkei nach Deutschland und wurde als Asylberechtigter nach Artikel 16a GG anerkannt. Er wurde in der Türkei 1991 unter dem Vorwurf, Mitglied in der PKK zu sein, festgenommen. Ihm erging es wie Tausenden anderer Menschen in der Türkei, die als vermeintlich oder tatsächlich politisch Oppositionelle inhaftiert wurden. Herr O. wurde tagelang in Incommunicado-Haft unvorstellbar brutal und systematisch gefoltert. In einem langwierigen Verfahren verurteilte das Staatssicherheitsgericht Malatya ihn rechtskräftig am 30. Juli 1997 wegen Landes- und Hochverrats zu lebenslanger Haft. In den Folgejahren war Herr O. in verschiedenen Haftanstalten der Türkei inhaftiert. Durch die Teilnahme an Hunger- und Durststreiks zur Verbesserung der Haftbedingungen wog Herr O. zuletzt nur noch 34 kg. Eine Untersuchung durch das gerichtsmedizinische Institut Istanbul am 21. Oktober 2001 kam zu dem Befund, dass Herr O. am so genannten „Wernicke-Korsakoff-Syndrom“ leide und Lebensgefahr bestünde. Daraufhin wurde eine mehrmonatige Haftverschonung gewährt. Als sich im Januar 2003 abzeichnete, dass Herr O. wieder inhaftiert werden würde, flüchtete er.
Erst Inhaftieren – dann prüfen
Anfang 2006 ließ die Türkei Herrn O. über Interpol zur Festnahme und Auslieferung zwecks weiterer Strafvollstreckung ausschreiben. Da Herr O. von einem türkischen Staatssicherheitsgericht verteilt worden war, hätte den zuständigen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an bekannt sein können, dass dieses Urteil aus der Türkei keine rechtmäßige Grundlage für eine Inhaftierung darstellt.
Trotzdem wurde Herr O. am 13. September 2006 in seiner Wohnung festgenommen, obwohl der Staatsanwaltschaft umfangreiche Unterlagen des Landeskriminalamtes vorlagen, die gegen eine Inhaftnahme sprachen. Ausdrücklich wurde in diesen Unterlagen darauf hingewiesen, dass eventuell eine „Verwahrfähigkeit“ gar nicht gegeben sei, da es Hinweise für seine erheblichen gesundheitlichen Probleme gäbe.
Noch am selben Tage wurde Herr O. dem Bereitschaftsrichter vorgeführt. Diesem wurden Unterlagen des Behandlungszentrums für Folterüberlebende Xenion e.V. vorgelegt. Außerdem bestätigte ein ärztliches Kurzattest eines Polizeiarztes, der „zu vorsichtiger Handlung, was Haft und Wegsperren betrifft.“ anrät. Der Betreffende sei „gewiss kein Simulant“. Mit schweren psychischen Krisen sei vermutlich zu rechnen.
Ein weiteres amtsärztliches Gutachten, in diesem Fall von der Agentur für Arbeit ausgestellt lag vor: „Bei Herrn Herr O. liegt offensichtlich ein schwergradig ausgeprägtes seelisches Leiden aufgrund von schwersten traumatischen Erlebnissen über mehrere Jahre bei einer Inhaftierung im Ausland vor … häufig endloses Laufen/Marschieren bis zur körperlichen Erschöpfung mit Zusammenbruch ohne Orientierung zu Person und Ort … eine Hirnschädigung durch das Todesfasten ist nicht ausgeschlossen.“
Während seiner Anhörung wies Herr O. darauf hin, dass er in engen Räumen unter Platzangst mit der Folge von Ohnmacht, Unruhezuständen und Zusammenbrüchen leide. Der Bereitschaftrichter erließ trotz allem eine so genannte Festhalteanordnung.
Zugleich erging ein Beschluss, mit welchem die „unverzügliche Begutachtung auf Verwahr- und Haftfähigkeit durch den leitenden Arzt des Krankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten oder dessen Vertreter“ angeordnet wurde. Das für einen Auslieferungshaftbefehl zuständige Kammergericht Berlin hielt es nicht für notwendig, sich unverzüglich mit der Sache zu beschäftigen.
Einstweilen wurde Herr O. weggesperrt – die Untersuchung ließ sechs Tage auf sich warten. Für ein Folteropfer können sechs Tage in Haft eine Ewigkeit sein. Von einer „unverzüglichen“ Prüfung konnte keine Rede sein.
Fesselung zur angeblichen Krisenintervention
Herr O. trat unmittelbar nach seiner Inhaftierung in einen Hunger- und Durststreik. Darauf hin wurde er aufgrund angeblicher Selbst- und Fremdgefährdung in einem so genannten „Kriseninterventionsraum“ der Haftanstalt Moabit untergebracht. Dieser Raum verfügt – nach Auskunft des Rechtsanwalts von Herrn O. – über kein Tageslicht und ist lediglich mit einer Pritsche ausgestattet, an welcher der Betroffene vom Vormittag des 14. September 2006 bis zum Mittag des 18. September 2006 durchgängig an beiden Beinen und an der rechten Hand in Rückenlage mit metallenen Fesseln fixiert wurde. Da der Betroffene die Bedeutung des ihm überlassenen „Urinarium“ nicht kannte, lag er dort einuriniert in einem Frottee-Schlafanzug. Anwaltlicher Besuch wurde bis zum 18. September 2007 verweigert.
Die Untersuchung der Haftfähigkeit führte schließlich zu dem Ergebnis, dass Herr O. nicht haftfähig ist. Der Anstaltsarzt stellte fest, dass „ganz und gar nicht erwartet werden kann, dass im Falle einer Auslieferung die zu Recht angenommenen psychischen Krisen im Falle einer langjährigen Inhaftierung in der Türkei überlebt werden können.“
Daraufhin wurde der Betroffene am 19. September 2006 aus der Haft entlassen. Mit Beschluss vom 10. Januar 2007 erklärte das Kammergericht Berlin die Auslieferung für unzulässig, da in der Türkei kein rechtsstaatliches Verfahren stattgefunden habe, das Urteil des Staatssicherheitsgerichts keine konkreten Feststellungen zum Schuldspruch enthalte und der Betroffene auf Dauer haftunfähig sei.
Richterliche Unbelehrbarkeit
Auch wenn die erlebten Tage in Haft für Herrn O. nicht ungeschehen zu machen waren, so hätte es für den Betroffenen eine gewisse Wiedergutmachung bedeutet, wenn das Vorgehen der Justiz zumindest im Nachhinein als rechtswidrig bewertet worden wäre. Doch diese Hoffnung ging fehl. Das Berliner Kammergericht stellte in seinem Beschluss vom 23. Juli 2007 fest, dass die Maßnahmen gerechtfertigt gewesen seien. Begründet wurde dies damit, dass die der Verurteilung in der Türkei zugrunde liegenden Taten auf eine ungewöhnliche Gewaltbereitschaft des Betroffenen hindeuten würden. Aggressive Verhaltensweisen habe Herr O. auch schon in türkischer Strafhaft gezeigt, wo er anhaltenden Widerstand bis hin zum Todesfasten geleistet habe. Für sein aggressives Verhalten spreche zudem die diagnostizierte schwere posttraumatische Störung. Statt Herrn O. zu rehabilitieren, wendet das Gericht die erlebte Verfolgung und deren psychische Folgeerkrankungen auf zynische Weise gegen ihn.
Das Gericht hatte nicht einmal zu beanstanden, dass die Fesselung ohne richterliche Anordnung erfolgt ist. Es erteilte die richterliche Zustimmung nachträglich – obwohl ein Antrag nie vorgelegen hat.
Der Fall beschäftigt nun das Bundesverfassungsgericht.