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Erzwungene Freiwil­lig­keit - Gentests beim Famili­ennachzug von Migran­tinnen und Migranten

Grundrechte-Report 2009, Seite 66

Was staatlicher Datenzugriff bedeutet, bekam eine türkische Familie in Kempen am Niederrhein im Kreis Viersen zu spüren. Hierhin war im Jahr 2006 die junge und damals schwangere Frau gezogen. Ihr Mann war zunächst in der Türkei geblieben, folgte ihr aber nach Deutschland nach, als im Januar 2007 das gemeinsame Kind geboren wurde. Er erhielt eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Als es schließlich um deren Verlängerung ging, zweifelte die Ausländerbehörde des Kreises Viersen jedoch an der gemeinsamen Lebensführung der Eheleute und verlangte von dem Mann zum Nachweis, dass eine „richtige“ Familie vorliege, also dass es sich um sein Kind handelt, einen Gentest. Als er diesen verweigerte, erstattete die Ausländerbehörde Strafanzeige gegen die beiden Eheleute wegen „unrichtiger Angaben zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels“ – kurzum: wegen einer angeblichen Scheinehe. Die Staatsanwaltschaft ließ sich dies nicht zweimal sagen und legte sofort los, indem sie bei dem Kind im September 2007 eine DNA-Analyse vornahm. Die Zustimmung zu diesem Test hatte ein Ergänzungspfleger für das Kind gegeben, der mal eben zu diesem Zweck bestellt worden war.

Diese Umstände sind insofern erstaunlich, als einem Kind ein Verweigerungsrecht zusteht, wenn es um ein Strafverfahren gegen seine Eltern geht. Dieses Recht umfasst auch Blutentnahmen zum Zweck der DNA-Analyse. Der dagegen eingelegten Beschwerde wurde denn auch schließlich stattgegeben.

Gentest in unbestimmter Zahl

Noch beachtenswerter ist jedoch die Tatsache, dass derartige Gentests, wie von der Ausländerbehörde ursprünglich vom Vater gefordert, keine Seltenheit sind. Aus drei Labors in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen ist bekannt, dass allein dort insgesamt ungefähr 500 Tests pro Jahr durchgeführt werden. Im Rahmen einer Anfrage der Bundestagsfraktion der FDP wurde diese Praxis von der Bundesregierung im November 2007 bestätigt. Es ist daher davon auszugehen, dass in ganz Deutschland jährlich DNA-Abstammungsgutachten in vierstelliger Zahl durchgeführt werden. Teilweise werden die Tests auch schon in den deutschen Botschaften der Herkunftsländer verlangt. In Afghanistan ist dies nach einer internen Anweisung des Auswärtigen Amtes der Regelfall.

Zwar werden dabei die Betroffenen in der Regel weder unmittelbar zu dem genetischen Nachweis gezwungen, noch werden die Tests im direkten Auftrag der Ausländerbehörden oder Auslandsvertretungen durchgeführt. Jedoch stellt man die Migrant/innen unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit vor die Alternative, sich dem Gentest zu stellen oder ansonsten auf das Bleiberecht verzichten zu müssen. Dass die Tests „freiwillig“ sind, bedeutet schließlich auch, dass die Betroffenen die Kosten selbst tragen müssen. Dies kann sich auf bis zu 500 Euro pro Test belaufen.

Ohne Rechts­grund­lage

Die Bundesregierung deutete demgegenüber in ihrer Antwort an, dass sich diese Praxis auf die gesetzlichen Mitwirkungspflichten des/der Betroffenen stützen lasse: „Die Praxis gründet sich auf § 82 Absatz 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz, der dem Antragsteller die Beibringung von Unterlagen im Visumverfahren als Obliegenheit auferlegt.“ Da in vielen Herkunftsstaaten Geburten häufig nicht erfasst würden oder die Dokumente gefälscht seien, könne man von den Betroffenen verlangen, stichhaltigere Nachweise für die Familienzugehörigkeit vorzuweisen. Das Auswärtige Amt erkennt nach Angaben der Bundesregierung bei insgesamt 41 Staaten, darunter neben Afghanistan der Irak und ein Großteil des afrikanischen Kontinents, die entsprechenden Urkunden – vor allem Geburtsurkunden – generell nicht an.

Allerdings lässt sich aus § 82 Aufenthaltgesetz (AufenthG) nicht ohne weiteres das Erfordernis eines solchen genetischen Fingerabdrucks herauslesen. Denn bereits der Wortlaut der Vorschrift, der von der Pflicht zum Nachweis persönlicher Verhältnisse sowie von sonstigen Bescheinigungen und Erlaubnissen spricht, deutet nicht ansatzweise auf die Möglichkeit derartiger körperlicher Eingriffe hin. Für einen solch weitgehenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung wäre eine konkretere Bestimmung erforderlich. Mitwirkungspflichten in Gestalt von körperlichen Eingriffen werden jedoch allein in § 82 Absatz 4 AufenthG erwähnt, dort ist allerdings nur von der Möglichkeit einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit die Rede. Daraus ergibt sich, dass andere körperliche Eingriffe und vor allem die Möglichkeit eines Gentests gerade nicht möglich sein sollen.

In diesem Sinne entschied im September 2007 das Verwaltungsgericht Berlin im Fall eines Flüchtlings aus Birma, dass der Nachzug seiner Familie auch ohne Gentest möglich sei, nachdem die Ausländerbehörde zuvor das Gegenteil behauptet hatte. In den meisten Fällen werden die Gentests jedoch ohne Beschwerde vorgenommen.

Neues Recht ohne Schutz

Die Möglichkeit zur Durchführung von Gentests hat unterdessen in den Entwurf der Bundesregierung zu einem Gendiagnostikgesetz Eingang gefunden. Dieses Gesetz soll, auch zum Schutz der Betroffenen, die Voraussetzungen formulieren, nach denen jegliche genetische Untersuchungen am Menschen durchgeführt werden dürfen.

Mit dem Schutz von Migrant/innen scheint es jedoch nicht weit her zu sein. So bestätigt die Bundesregierung in ihrer Begründung nochmals wie selbstverständlich die gegenwärtige Praxis unter Bezugnahme auf jenen § 82 AufenthG. Vor allem aber werden in dem Gesetzentwurf zahlreiche Schutzvorschriften, so etwa eine gesundheitliche Aufklärung über die Risiken, gerade für jene Fälle ausgeschlossen, in denen es um die Erteilung eines Visums für eine Familienzusammenführung geht. Ebenfalls nur für Migrant/innen gilt, dass die erhobenen Daten bei Verdacht einer Straftat an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden dürfen – ein weiteres Einfallstor für die strafrechtliche Verfolgung angeblicher Täuschungen im Aufenthaltsrecht.

Migrant/innen unter Genera­l­ver­dacht

Die Praxis der Behörden wie auch die Gesetzespläne spiegeln damit einmal mehr den weit verbreiteten Missbrauchsvorwurf wider, dem Migrant/innen in der tagtäglichen Diskussion ausgesetzt sind. Wie auch andere Randgruppen der Gesellschaft stehen sie im Generalverdacht, das System hintergehen zu wollen. Es scheint demnach selbstverständlich, dass Menschen, die nach Deutschland wollen, dem Staat ihre innersten Daten preisgeben müssen, und dann bitte auch nicht auf Kosten des „Steuerzahlers“. Aus Sicht der Migrant/innen ist dies aber vor allem ein weiteres Repressionsinstrument und stigmatisiert die Betroffenen bereits bei der Einreise nach Deutschland als Betrüger/innen gegenüber der deutschen Gesellschaft.

Literatur

Amtsgericht Kempen, Beschluss vom 13.09.2007, 29 VIII 3076.

Mende, Ursula, Gentests in Deutschland – kein Wintermärchen, ANA-ZAR 2008, 2 f.

Antwort der Bundesregierung auf Fraktion der FDP zu Gentests in Visa- und Passangelegenheiten, BT-Drucks. 16/6851.

Hebestreit, Steffen, Ohne Gentest keine Einreise, Frankfurter Rundschau v. 22.10.2007.
Schmidt, Wolf, Ämter bei Ausländerkindern zu neugierig, taz vom 6.11.2007.

Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) v. 29.08.2008, Bundesratsdrucksache 633/08.

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