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Hilflos auf dem offenen Meer ausgesetzt - Menschen­rechts­wid­rige Frontex-E­in­sätze gegen Flüchtlinge

Grundrechte-Report 2009, Seite 214

»Wir waren zehn Afghanen in einem Schlauchboot. Wir waren auf dem Weg nach Lesbos, als ein großes weißes Schiff kam. Dieses Schiff hat uns an Bord genommen. Anschließend fuhr es weiter. Es war auf der Suche nach weiteren Flüchtlingen. Wir trafen auf ein Boot mit 22 Flüchtlingen. Auch sie wurden festgenommen. Dann fuhren wir Richtung Türkei. Sie zwangen uns, das größere der beiden Schlauchboote zu besteigen. Das Schlauchboot hatte weder einen Motor, noch gaben sie uns Paddel. Wir waren hilflos auf dem offenen Meer ausgesetzt. Doch unser Boot trieb nicht Richtung Türkei, sondern zurück nach Lesbos« (Bericht eines minderjährigem afghanischen Flüchtlings, Lesbos, August 2008).

Vor den Toren Europas spielen sich Tragödien ab. Die Berichte und Bilder von den Vorfällen im Mittelmeer und Atlantik sind schockierend. Auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben sterben Tausende Flüchtlinge und Migranten an Europas Grenzen. Es sind Menschen, die durch Krieg, Verfolgung, Gewalt und elende Existenzbedingungen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Auf der Flucht drängen sie sich in winzigen Booten zusammen, verstecken sich in Lastwagen, kampieren in provisorischen Lagern oder vor hochgerüsteten Grenzanlagen. Häufig ertrinken, ersticken oder verdursten sie. Viele sterben an Erschöpfung. Und die Antwort der Europäischen Union: Die Grenzen Europas werden immer perfekter abgeriegelt. Zu diesem Zweck hat die EU die so genannte Grenzschutzagentur Frontex gegründet. Unter ihrer Koordination operieren die Grenzpolizeien der EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer und im Atlantik. Je lückenloser die Kontrollen werden, um so gefährlicher werden die Wege für die Flüchtlingsboote. Sie sind gezwungen, immer riskantere Routen auf sich zu nehmen. Die Boote werden kleiner, die Wege länger. Die Gefahr, zu Tode zu kommen, nimmt zu. Obwohl die europäische Agentur Frontex seit fünf Jahren tätig ist, gibt es keine klaren Anweisungen, die die Grenzbeamten verpflichten, die Menschenrechte einzuhalten (vgl. auch Tillmann Löhr, Grundrechte-Report 2008, S. 179 ff.: Frontex – Europäischer Grenzschutz im rechtsfreien Raum?).

Auch Deutschland beteiligt sich an Frontex-Operationen im Mittelmeer. „Auftrag der Hubschrauber der Bundespolizei ist die Überwachung eines zugewiesenen Seeraums; lagerelevante Feststellungen werden an die an der Operation beteiligten Schiffe gemeldet.“ (Pressestelle des Bundesinnenministeriums, Antwort an das Rheinische Journalistenbüro vom 28. August 2008)

Menschen­rechts­ver­let­zungen unter europä­i­scher Flagge?

PRO ASYL beobachtete im Sommer 2008 einen Einsatz der europäischen Grenzagentur auf der ägäischen Insel Lesbos. Die griechische Küstenwache operiert in Zusammenarbeit mit europäischen Frontex-Einheiten. Mitarbeiter von PRO ASYL haben die italienische und griechische Küstenwache mehrfach gemeinsam in den Hafen von Mitilini (Lesbos) einfahren sehen. Das Schiff hatte neben der italienischen auch die griechische und europäische Flagge gehisst. Auf Nachfrage von PRO ASYL bestätigte eines der Besatzungsmitglieder, im Auftrag von Frontex zu agieren.

Es handelte sich um ein etwa 30 Meter langes weißes Schiff. Ob es sich um das Schiff handelte, von dem die eingangs zitierten Flüchtlinge berichteten, ist nicht zu beweisen. Doch die Frage, ob unter europäischer Flagge Menschenrechtsverletzungen verübt werden, drängt sich auf und ist von den Verantwortlichen noch immer nicht befriedigend beantwortet worden.

Es stellt sich die Frage, inwieweit Frontex in Menschenrechtsverletzungen involviert ist. Die Einsatzpläne und Arbeitsteilungen bei der Grenzabwehr auf See sind bislang geheim. Einen Hinweis, wie ein Einsatz von Frontex auf See konkret vor sich gehen kann, liefern die Aussagen des Haupteinsatzleiters der italienischen Militärpolizei in einem ARD-Radiofeature über Frontex-Operationen: „Wir wurden bei offiziellen Treffen mit Einsatzplänen und schriftlichen Befehlen konfrontiert, laut denen die Abwehr der illegalen Einwanderer darin besteht, an Bord der Schiffe zu gehen und die Lebensmittel und den Treibstoff von Bord zu entnehmen, so dass die Immigranten dann entweder unter diesen Bedingungen weiterfahren können oder aber lieber umkehren.“

Aufbringen und Abdrängen

Während die Übergriffe auf das Leben von Bootsflüchtlingen durch Frontex-Einheiten bislang nicht nachgewiesen werden konnten, gibt die Agentur selbst freimütig zu, dass unter ihrer Ägide Boote von Flüchtlingen auf hoher See in Richtung Drittstaaten zurückdrängt wurden. Dies ist zum Beispiel dem Frontex-Jahresbericht 2007 zu entnehmen. Im Rahmen eines Einsatzes in der Ägäis wurden laut Bericht 3.405 Personen „intercepted“ (aufgebracht), 422 Personen „diverted“ (abgedrängt).

Auch für das Jahr 2008 wurden Zahlen über die von Frontex koordinierten Einsätze auf dem Mittelmeer und vor der westafrikanischen Küste vorgelegt. Diese belegen, dass das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten auf hohem Niveau weitergeht: Im Jahr 2008 waren vor den Kanarischen Inseln Frontex-Schiffe im Einsatz. Dort wurden allein 3.767 Menschen abgedrängt. Von Frontex wird hierzu erläutert: Die abgedrängten Personen seien entweder überzeugt worden, umzukehren, oder sie wurden zum nächsten Hafen (im Senegal oder in Mauretanien) eskortiert.

Die Frontex-Operationen führen letztlich dazu, dass verhindert wird, dass die unter den Bootsinsassen befindlichen Asylsuchenden das Territorium der EU erreichen. Statt ein Asylverfahren in der EU zu erhalten, finden sie sich an den Küsten der Türkei, des Senegals oder anderer Drittstaaten, die keinen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention bieten, wieder.

Verstoß gegen inter­na­ti­o­nales Flücht­lings­recht

Ein von der Stiftung PRO ASYL, amnesty international und dem Forum Menschenrechte in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass es Grenzbeamten europäischer Staaten verboten ist, potenziell Schutzbedürftige auf See zurückzuweisen, zurückzueskortieren, an der Weiterfahrt zu hindern oder in nicht zur EU gehörende Länder zurückzuschleppen. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention verbieten eine Zurückweisung ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit. Diese Praktiken stellen demnach nicht nur einen Angriff auf das Leben der betroffenen Menschen dar, sondern stehen zudem in eklatantem Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten.

Gegen die Praktiken von Frontex und der nationalen Grenzbeamten formiert sich europaweit Kritik. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit die Grenzbeamten in internationalen Gewässern verbriefte Menschenrechte einhalten. Bis heute gibt es keine verbindlichen Richtlinien oder Dienstanweisungen, die Frontex verpflichten, die Europäische Menschenrechtskonvention und das internationale Flüchtlingsrecht einzuhalten.

Auch wenn es im Einzelnen bislang nicht möglich ist, Frontex die unmittelbare Verantwortung am Tod von Flüchtlingen nachzuweisen, häufen sich die Hinweise, dass die Agentur Frontex in Menschenrechtsverletzungen involviert ist und zur massiven Gefährdung von Schutzsuchenden beiträgt.

Literatur

Fischer-Lescano, Andreas / Löhr, Tillmann (für das European Center for Constitutional and Human Rights), „Menschen- und flüchtlingsrechtliche Anforderungen an Maßnahmen der Grenzkontrolle auf See“, September 2007.

Herzog, Roman, ARD-Radiofeature vom 26. Juni 2008: „Krieg im Mittelmeer. Von der Cap Anamur zu Frontex und Europas neuen Lagern“.

Offizielle Internetseite von Frontex: www.frontex.europa.eu

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