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Klettern gefährdet die Freiheit? - Langzeit­ge­wahrsam für Lappalien als Bestra­fungs­er­satz

Grundrechte-Report 2009, Seite 74

Vier Anti-Atom-Aktivist/innen kletterten am 6. November 2008 bei Lüneburg auf einem Brückenbogen und rollten Transparente aus. Vier Tage später sollte dort der Zug mit strahlendem Atommüll aus La Hague passieren. Die Bundespolizei räumte die Brücke und nahm eine Aktivistin in Gewahrsam. Die Polizei beantragte beim Amtsgericht Lüneburg, die Aktivistin bis zur Einfahrt des Atommüllzuges im Verladebahnhof Dannenberg in Langzeitgewahrsam zu nehmen. Zur Begründung präsentierte die Polizei eine lange Liste mit „Untaten“ der Frau, darunter die Teilnahme an vielen Versammlungen sowie Transparent- und Kletteraktionen, die ohne Zwischenfälle verlaufen waren. Sie waren weder strafbar noch als Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Wegen einiger Aktionen war das Ermittlungsverfahren nach § 170 Absatz 2 Strafprozessordnung (StPO) – also mangels einer strafbaren Tat – eingestellt worden. In einem anderen Verfahren wurde ein Bußgeld von lediglich fünf Euro verhängt. Es handelte sich also um eine Liste legalen Verhaltens und von Taten, die im untersten Bagatellbereich sanktioniert worden waren. Allerdings war diese Aktivistin der Polizei schon lange lästig, weil sie sehr öffentlichkeitswirksam und akrobatisch ihrem Protest immer wieder unerwartet Ausdruck verliehen hatte, ohne dass Strafverfolgungsmaßnahmen erfolgreich waren. Wegen derartiger Lappalien war sie bereits zwei Jahre zuvor bei fragwürdiger Gefahrenprognose längerfristig polizeilich observiert worden. Die Rechtswidrigkeit der Observation hat die Polizei bereits anerkannt, aber die gewonnenen Daten nicht gelöscht. Die Datenliste und die Observation gehen zurück auf Informationen der „Ermittlungsgruppe Castor“, einer Sondereinheit der Polizeidirektion Lüneburg, die zusammen mit der Staatsschutzabteilung seit Jahren Daten mit Anti-Atom-Kontext sammelt und daraus Persönlichkeitsbilder und Gefahrenprognosen zusammenstellt.

Vorbeu­ge­haft wegen möglicher Ordnungs­wid­rig­keiten

Das Amtsgericht ließ sich von der „Gefährlichkeit“ des „Eichhörnchens“ überzeugen und ordnete wunschgemäß den viertägigen Gewahrsam an. Auf ihre Beschwerde bestätigte das Landgericht die „Vorbeugehaft“ (Landgericht Lüneburg, Beschluss vom 7.11.2008 – 10 T 11/08) und führte zur Begründung an: „Bei einer Gesamtschau … ergibt sich aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht, dass von der Betroffenen die Gefahr der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Die Betroffene hat in der Vergangenheit im Zusammenhang mit Castortransporten und ähnlichen Veranstaltungen wiederholt Aktionen unternommen, aufgrund derer Transporte behindert und verzögert werden sollten und auch wurden.“

Wie schon das Amtsgericht nahm auch das Landgericht Bezug auf die fragwürdige Liste des polizeilichen Staatsschutzes und prognostizierte zumindest die Gefahr von Ordnungswidrigkeiten. Vorgeworfen wurde ihr, dass sie „bereit und in der Lage ist, schon im Vorfeld des Castortransportes bewusst Behinderungen des Schienenverkehrs als Protestmittel einzusetzen“. Auch eine Observation habe die Betroffene in der Vergangenheit nicht von „gegen den Castortransport gerichtete Aktionen“ abgehalten, vielmehr habe sie mit anderen ihre Aktionen „konspirativ angelegt“ und die Polizei damit immer wieder überrascht. Beide Instanzen warfen der Aktivistin „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ und „renitentes Verhalten“ bei Räumungsaktionen vor und begründeten damit die Notwendigkeit der Freiheitsentziehung.

Das Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 GG verbietet staatliche Eingriffe in die persönliche Freiheit für Lappalien und ohne Strafverfahren. Der Charakter der Maßnahme als (unzulässiger) Bestrafungsersatz für unbequeme, pfiffige und öffentlichkeitswirksame Protestaktionen schimmert durch alle staatlichen Entscheidungen und Begründungen hindurch. Eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zwischen „Tat“ und ihrem Unrechtsgehalt einerseits, dem Eingriff in das hochrangige Rechtsgut der Freiheit andererseits sucht man vergeblich.

Unzulässige Haftbe­din­gungen

Die Aktivistin wurde von der Gewahrsamseinrichtung in Lüneburg weitab nach Braunschweig verlegt mit der Begründung, die Einrichtung in Braunschweig sei „zentral dafür ausgerüstet“. In Braunschweig war man überrascht und keinesfalls besser vorbereitet. Es gibt dort Zellen für randalierende Männer, die wegen Familiengewalt festgehalten werden. Die Zellen sind geräumig, aber ohne Toilette, ohne richtiges Fenster, ohne angemessenes Mobiliar oder Leselampe. § 20 Absatz 4 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NdsSOG) verbietet andere Beschränkungen als solche, die der Zweck des Gewahrsams erfordert. Der Zweck darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht Bestrafung sein (13.12.2005 – 2 BvR 447/2005). Die Aktivistin musste jedoch eine Nacht mit Dauerbeleuchtung zur Beobachtung verbringen, konnte insbesondere Licht, Zugang zu Wasser usw. nicht selbst regulieren, bekam zunächst nichts zu Lesen (das wurde später verbessert) und hatte nur gefesselt an eine Aufsichtsperson für eine halbe Stunde am Tag die Möglichkeit zum „Hofgang“ auf einem Parkplatz zwischen Fahrzeugen. Die Haftbedingungen waren also weit schlechter, als in Untersuchungshaft, die nur für weit schwerere Anlasstaten und Gefährdungen der Allgemeinheit verhängt werden darf. Sie entsprachen einer weiteren Ersatzbestrafung.

In Fachkreisen ist seit Einführung des präventiven „Langzeitgewahrsams“ (mehrere Tage aufgrund richterlicher Anordnung) bekannt, dass es keine geeigneten Vollzugseinrichtungen hierfür gibt. Dies gilt besonders für Personen, denen lediglich politischer Protest vorgeworfen wird und nicht allgemeingefährliche Gewalttätigkeiten. Auch hier hätte daher eine weitere Verhältnismäßigkeitsabwägung stattfinden müssen zwischen den besonders belastenden Bedingungen des Gewahrsamsvollzugs und dem geringfügigen Anlass. Dies hätte gezeigt, dass die Haft verfassungswidrig war. Die vorhandenen Gewahrsamszellen lassen wenig Tageslicht hinein, sind nicht für einen „wohnlichen“ Aufenthalt ausgestattet und beschränken neben der äußeren Freiheit – die allein zulässig ist – alle weiteren menschlichen Lebensäußerungen. Jeder Untersuchungshäftling und jeder Strafhäftling hat Anspruch auf Hofgang und Bewegung an frischer Luft – dem Präventivhäftling wird dies nicht gewährt. Bücher und Fernseher stehen nicht zur Verfügung. Telefonate ohne Überwachung sind nicht möglich. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) hat in ihrem letzten Bericht die Haftbedingungen in polizeilichen Gewahrsamseinrichtungen kritisiert, so speziell den fehlenden Tageslichteinfall, mangelhafte Beleuchtung und mangelnde Möglichkeiten zur Bewegung im Freien.

Präventivhaft darf nicht als Bestrafungsersatz für politischen Protest mit geringfügigen Regelüberschreitungen missbraucht werden. Polizeibehörden und Gerichte gehen in der Praxis zu fahrlässig mit der von der Verfassung gebotenen Verhältnismäßigkeitsabwägung um.

Die Aktivistin wurde nach dreieinhalb Tagen wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch die Haftbedingungen einige Stunden vor Ablauf der richterlich bestimmten Haftzeit auf Anordnung eines anderen Eilrichters freigelassen. Die Entscheidung über einen nachträglichen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnungen steht noch aus.

Literatur

Niedersächsisches Gesetz über die Öffentliche Sicherheit und Ordnung, §§ 18 – 20;

Bericht der CPT an die Deutsche Regierung vom 28.07.2006

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