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Entschä­di­gungs­ansprüche vor dem Inter­na­ti­o­nalen Gerichtshof

Grundrechte-Report 2011, Seiten 188 -191

Die Transformation der Bundeswehr in eine weltweit einsetzbare
Interventionsarmee macht es notwendig, die rechtsstaatlichen Bindungen dieser »Armee im globalen Einsatz« neu zu justieren. Ein zentrales Feld der Auseinandersetzung stellt dabei die Entschädigung von Opfern völkerrechtswidriger Maßnahmen dar. Die Bundesregierung steht hier auf dem grundsätzlichen Standpunkt, dass die Opfer ihrer militärischen Maßnahmen keinen eigenen Anspruch auf Schadensersatz haben.

Diese Rechtsauffassung kommt auch in aktuellen Entschädigungsverfahren – beispielsweise wegen des Bombardements der Brücke von Varvarin (Serbien) und des Luftangriffs von Kunduz (Afghanistan) – zum Ausdruck. Sofern überhaupt Zahlungen erfolgen, besteht die Bundesregierung darauf, dass eine Rechtspflicht nicht bestehe und nur gnadenhalber geleistet werde.

Entschä­di­gung von NS-Opfern

Indem die Bundesregierung die Opfer aktueller Militäreinsätze in dieser Form rechtlos stellt, nimmt sie ein Argumentationsmuster auf, das seit dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Entschädigungspraxis bestimmt: Ansprüche gebe es nicht. Während einige Opfergruppen mit Entschädigungen bedacht werden, gehen andere leer aus. Begründungen für die Ungleichbehandlung gibt es nicht. Die deutsche Weigerung, auch diejenigen Opfer zu entschädigen, die bislang nicht in den Globalentschädigungsabkommen berücksichtigt wurden, hat in den letzten Jahren zu zahlreichen Verfahren gegen die Bundesrepublik geführt. Unterschiedliche Gruppen von ausländischen NS-Opfern haben erfolgreich vor nationalen Gerichten in Griechenland und Italien rechtskräftige Urteile auf Leistung von Schadensersatz gegen Deutschland erstreiten können.

Die Bundesregierung hat darum ein Verfahren beim Internationalen
Gerichtshof (IGH) eingeleitet. Sie will damit einer vermeintlichen Verletzung deutscher Souveränität und der drohenden Vollstreckung dieser Entscheidungen begegnen. Das Verfahren zielt darauf ab, mit der Autorität des IGH unter die verbliebenen Fragen der zivilrechtlichen Entschädigung von NS-Opfern einen Schlussstrich zu ziehen.

Anders als die Bundesregierung es getan hat, hätte man die
Entscheidungen der ja immerhin höchsten Gerichte europäischer
Mitgliedsstaaten auch zum Anlass nehmen können, den Zustand zu beenden, dass die deutsche Entschädigungspraxis bis heute nachgerade willkürlich einzelne Opfergruppen (wie die italienischen Militärinternierten, Opfer von Kriegsverbrechen in Italien und Griechenland etc.) aus dem Berechtigtenkreis ausgeschlossen hat. Die dadurch entstehenden finanziellen Belastungen wären überschaubar gewesen, Rechtsfrieden wäre eingetreten und überdies wäre die Bundesrepublik ihrer rechtlichen Verantwortung nachgekommen. Die deutsche Schlussstrichpolitik verweigert sich indes einer solchen Lösung und streitet vor dem IGH bedauerlicherweise Seit an Seit mit den Vertretern einer überkommenen Völkerrechtsordnung für eine Staatensouveränität, die zu Lasten des Menschenrechtsschutzes geht.

Indivi­du­a­l­ansprüche und Staaten­im­mu­nität

In völkerrechtsdogmatischer Hinsicht drehen sich die vor dem IGH verhandelten Rechtsfragen um zwei Fragenkomplexe, die zentrale Neustrukturierungsprozesse des Völkerrechts betreffen.

Zum einen geht es um das Völkerkompensationsrecht, also die Frage, ob Individuen gegenüber Staaten eigene Ansprüche auf Kompensation durchsetzen können. Der transnationale Rechtsprozess hat hier in den letzten Jahrzehnten ein Netz von Entscheidungen hervorgebracht, in dem nationale Gerichte in den USA, Italien, Griechenland, Japan, Israel, Großbritannien etc. individuelle Schadensersatzansprüche anerkannt haben. Die mit namhaften Völkerrechtlern besetzte Arbeitsgruppe der International Law Association (ILA) zur »Entschädigung von Opfern bewaffneter Konflikte« hat daher 2008 festgehalten, dass nunmehr ein völkerrechtlicher Individualanspruch bei der Verletzung des Völkerrechts besteht. Ähnlich hat der IGH 2004 in seinem Gutachten zu den rechtlichen Folgen des Baus der Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten die Schadensersatzansprüche von betroffenen Palästinensern begründet und sich dabei auf die auch während bewaffneter Konflikte
grundsätzlich geltenden allgemeinen Menschenrechte berufen (ICJ Rep. 2004, Rdn. 152 f.). Und schließlich kommt dieser Trend zur Individualberechtigung auch in den »Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung« (Grundprinzipien und Leitlinien) zum Ausdruck, in denen die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Individualansprüche systematisiert wurden. Die UN-Generalversammlung hat diese »Grundprinzipien und Leitlinien« indossiert (UN GA, 21. März 2006, A/RES/60/147) und darauf hingewiesen, dass sie das in Geltung befindliche Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln.

Zum anderen stellen sich im IGH-Verfahren Fragen nach dem Geltungsumfang der staatlichen Souveränität. So ist im Hinblick auf die dem Souveränitätsgrundsatz entnommene Immunitätsgewährleistung in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Tendenz in Staatenpraxis und opinio iuris dahingehend zu beobachten, dass bei schweren Verletzungen des Völkerrechts eine Immunität nicht zuzuerkennen ist. Das kommt auch in den »Grundprinzipien und Leitlinien« zum Ausdruck, wo festgehalten ist, dass der gebotene effektive Rechtsschutz für Opfer schwerer Völkerrechtsverletzungen die Pflicht einschließt, »gleichen und wirksamen Zugang zur Justiz zu verschaffen, … gleichviel, wer letztendlich die Verantwortung für die Verletzung oder den Verstoß trägt«. Gerade für Rechtsverletzungen im Territorium des Staates, in dem die Verletzung begangen wird, gilt eine Immunität des Verletzerstaates regelmäßig nicht.

Struk­tur­fragen des Völker­rechts

Der IGH wird also über zentrale Strukturfragen der Völkerrechtsordnung zu entscheiden haben, namentlich darüber, wie
weit die Macht der Bürokratie über die internationalen Beziehungen reicht und wie die Forderung nach einer Einbeziehung der Opfer ins Recht prozedural umgesetzt werden kann. Will man die internationalen Beziehungen juridifizieren, gibt es keine Alternative zur Stärkung der Unabhängigkeit des Rechts und derjenigen juridischen Verfahren, in denen auch vor nationalen Gerichten Verantwortungszuschreibung und Kompensation ermöglicht werden.

Insgesamt bleibt darum das Feld des Völkerkompensationsrechts ein wichtiges Feld rechtspolitischer Auseinandersetzung, weil sich hier entscheiden wird, ob Rechtsverstöße folgenlos und nur sehr eingeschränkt justiziabel sind, oder ob die Interventionsarmee
Bundeswehr zukünftig rechtsstaatlichen Bindungen unterworfen sein wird. Gerade solche Verfahren könnten dann auch Anlass sein, in grundsätzlicher Hinsicht zu hinterfragen, ob man überhaupt möchte, dass die Bundeswehr zu Kriegseinsätzen weltweit entsandt und die Bundesrepublik damit zur Kriegspartei wird.

Literatur

Derleder, Peter, Individualentschädigungsansprüche zur Durchsetzung
des Kriegsvölkerrechts, in: Becker, Peter u. a. (Hg.), Frieden
durch Recht?, Berlin 2010, 331 ff.

Fischer-Lescano, Andreas/Gericke, Carsten, Der IGH und das transnationale Recht. Das Verfahren BRD ./. Italien als Wegweiser der
zukünftigen Völkerrechtsordnung, in: Kritische Justiz 2010, Heft
1, 78 ff.
Focarelli, Carlo, Federal Republic of Germany v. Giovanni Mantelli
and others. Order No 14201, in: AJIL 103 (2009), 122 ff.

Paech, Norman, Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, in: AVR
47 (2009), 36 ff.

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