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Jetzt reicht es selbst dem BGH - Jahrelange Überwachung der »militanten gruppe« war rechts­widrig

Grundrechte-Report 2011, Seiten 146 – 149

Durch gezielte Indiskretion erhielt der Focus im Jahr 2003 Informationen über ein »brisantes« Ermittlungsverfahren. Es galt der »militanten gruppe«, die sich seit Mitte 2001 zu etwa 27 Anschlägen vor allem im Berliner Raum bekannt und im Sommer 2009 ihre Auflösung erklärt hat. Erstmals in Erscheinung trat die sich als sozialrevolutionär und antiimperialistisch verstehende Gruppe durch die Verschickung von drei gleichlautenden Schreiben an den Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter und zwei Repräsentanten der »Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft«. Den Schreiben lagen jeweils scharfe Kleinkaliberpatronen bei.

Unter der Überschrift »Familienfoto mit Kanzler« veröffentlichte der Focus im November 2003 eine Geschichte seines Autors Josef Hufelschulte, der für seine intimen Kontakte zu den Staatsschutzbehörden bekannt ist. Handfestes hatte der Journalist nicht zu bieten: Nach »zuverlässigen Focus-Informationen« habe das Bundeskriminalamt (BKA) vier Berliner im Alter zwischen »30 und 49 Jahren« identifiziert, »die zum konspirativen Kern der ›Militanten Gruppe‹ gehören sollen«. Die Betroffenen erfuhren erst aus der Presse, dass gegen sie wegen »Bildung einer terroristischen Vereinigung« nach § 129a Strafgesetzbuch ermittelt wurde. Ansonsten passierte nichts. Weder erfolgte eine Festnahme, noch kam es zu einer Hausdurchsuchung. Die Wohnräume von drei Betroffenen werden
erst 2007 – vier Jahre später – im Rahmen der spektakulären Razzia im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm durchsucht. Ein Jahr zuvor hatte der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH) letztmalig die Telekommunikationsüberwachung der Betroffenen angeordnet. Rechtswidrig – wie der BGH am 11. März 2010 entschied (Az. StB 16/09).

»Terro­ris­ten­ver­fahren« auf Geheiß des Verfas­sungs­schutzes

»Die angeordneten und durchgeführten verdeckten Ermittlungsmaßnahmen waren bereits deshalb rechtswidrig, weil zum jeweiligen Zeitpunkt ihrer Anordnung und Durchführung ein ausreichender Tatverdacht … nicht bestand.« Mit dieser schallenden Ohrfeige setzte der BGH das endgültige Schlusszeichen hinter die jahrelangen Ermittlungen gegen drei Berliner Mitglieder der bundesweiten Initiative Libertad!, die sich für die Freiheit politischer Gefangener weltweit einsetzt. Die Entscheidung des BGH betraf 27 Beschlüsse des Ermittlungsrichters am BGH zur Telekommunikationsüberwachung, acht Beschlüsse zur Observation nebst Videoüberwachung sowie drei Verfügungen des Generalbundesanwalts in dieser Sache. Nach sieben Jahren, im September 2008, wurde das Verfahren eingestellt, weil die jahrelangen, umfangreichen Ermittlungen keine belastbaren Hinweise erbracht hätten, dass die Betroffenen an Straftaten beteiligt gewesen seien. Solange galten die drei Berliner Aktivisten auf Geheiß des Verfassungsschutzes dem BKA als Gründer der »militanten gruppe« – obwohl es immer wieder selbst Zweifel an diesen Vorwürfen hegte.

Ein Blick zurück auf die Ermittlungen gegen die »militante gruppe« offenbart eine enge Kooperation zwischen BKA und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Nur einen Monat nachdem die »militante gruppe« im Juni 2001 erstmals in Erscheinung getreten war, erklärte das BfV der Bundesanwaltschaft, ihr seien die Mitglieder der Gruppe bekannt. Bei den Gründern der Gruppe handele es sich, so der Verfassungsschutz, um drei Mitglieder der Initiative Libertad! Das BfV
forderte die Bundesanwaltschaft auf, gegen die drei zu ermitteln. Das BKA ermittelte: Die Wohnungen und Arbeitsstellen der Beschuldigten wurden Tag und Nacht gefilmt, Telefone abgehört, Autos verwanzt und mit Peilsendern versehen. Alle Banktransaktionen wurden kontrolliert. Die drei Personen wurden auf Schritt und Tritt von Zivilpolizisten verfolgt. Das BfV führte einen Teil der technischen Überwachung durch und stellte einzelne Ergebnisse, etwa die Auswertungen von Überwachungskameras, dem BKA in »Amtshilfe« zur Verfügung. Im Zuge der Ermittlungen gerieten zudem ein Freund und der Sohn eines Betroffenen ins Visier des BKA. Gegen sie wurden 2003 getrennte Verfahren eingeleitet.

Deutliche Richter­worte

In seinem Beschluss vom März ging der BGH mit BKA und BfV hart ins Gericht: Auch »bei Berücksichtigung des den anordnenden Stellen zustehenden Beurteilungsspielraums« hätten die Überwachungsmaßnahmen »nicht gestattet werden dürfen«. Trotz »operativer Maßnahmen« gegen die Libertad!-Mitglieder, die spätestens ab 1998 erfolgt seien, habe der Verfassungsschutz nichts geliefert, »was wesentlich über allgemeine Erkenntnisse über deren politische Orientierung hinausgeht«. »Konkrete Anhaltspunkte« für seine »Erkenntnisse«, die drei seien Mitglieder der »militanten gruppe«, habe er nicht vorlegen können, ebenso wenig plausible Erklärungen für diese Einschätzung.

In Richtung BKA hieß es, es deute viel darauf hin, »dass Grund für die strafrechtliche Verfolgung … nicht die Verdichtung eines … bestehenden Verdachts gewesen sein könnte, konkrete Straftaten begangen zu haben, sondern die Annahme von Polizei- und/oder Verfassungsschutzbehörden, die Gefahrenlage habe sich erhöht«. Dabei sei, schrieb der BGH dem BKA ins Stammbuch, »die präventive Gefahrenabwehr« nicht seine Aufgabe und dürfe schon gar nicht durch Ermittlungen auf Grundlage der Strafprozessordnung durchgeführt werden. Übel stieß dem BGH zudem auf, dass das BKA entlastende
Ermittlungsergebnisse und widersprechende Gutachten dem zuständigen Ermittlungsrichter vorenthielt. Die Ermittlungen hätten »sogar – auch nach Auffassung des Bundeskriminalamts und des Generalbundesanwalts – »entlastende Umstände zutage gefördert, nach denen eine Beteiligung der Betroffenen an Anschlägen der »militanten gruppe« ausgeschlossen werden musste. Seiner »Funktion als Kontrollorgan der Ermittlungsbehörden« könne der Ermittlungsrichter am BGH aber nur nachkommen, wenn er darauf vertrauen könne, »dass die Beweislage, soweit sie für die Entscheidung relevant ist, … ohne erhebliche Lücken dargetan ist«.

»Vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen« waren laut BGH die Grundlage der jahrelangen Ermittlungen gegen die Betroffenen. Sieben Jahre ließ sich die Bundesanwaltschaft Zeit, bis sie die Ermittlungen einstellte. Obwohl es nie einen ausreichenden Tatverdacht gab. Sieben Jahre, in denen die Telefone der Verdächtigten überwacht, ihre E-Mails mitgelesen, ihr Umfeld ausgeforscht und sie selbst observiert wurden.

Funktioniert also die rechtsstaatliche Kontrolle der Ermittlungsbehörden? In diesem Fall erfolgte die höchstrichterliche
»Abmahnung« jedenfalls reichlich spät. Über Jahre hinweg mussten die Betroffenen schwerwiegende Grundrechtsverletzungen hinnehmen. Der Fall zeigt zudem wieder einmal deutlich, dass der Richtervorbehalt als Korrektiv gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaften bei Grundrechtseingriffen nicht funktioniert.

Literatur

Beschluss des 3. Senats des Bundesgerichtshofs vom 10. 3. 2010 (Az. StB 16/09), abrufbar unter: www.bundesgerichtshof.de (Entscheidungen)

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