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Kein Rechtsweg und keine Opferent­schä­di­gung bei Kriegs­ver­bre­chen

Grundrechte-Report 2011, Seiten 134 – 137

Winicjusz Natoniewski war erst sechs Jahre alt, als am 2. Februar 1944 deutsche Soldaten das ostpolnische Dorf Szczecyn dem Erdboden gleichmachten. Insgesamt wurden 368 Personen erschossen, darunter befanden sich auch 71 Kleinkinder. Der Junge erlitt schwerste Verbrennungen an Gesicht und Körper, die Finger des Kindes schmolzen zu dicken Klumpen zusammen. Neben Szczecyn wurden zeitgleich noch fünf weitere Dörfer in der Zamojszczyzna-Region zerstört und zahlreiche Menschen ermordet. Dabei handelte es sich um eine Vergeltungsaktion gegen die Zivilbevölkerung, die nach damaligem
völkischen Rechtsempfinden nur die brutale Rechtsdurchsetzung
vorangegangener Beschlüsse zur Germanisierung dieser Gebiete darstellte.

Während die jüdische Bevölkerung dieser Gebiete bereits zuvor in den deutschen Vernichtungslagern Belzec, Treblinka und Sobibór vergast worden war, begann im Zuge des Generalplans Ost eine ausgedehnte Kolonisierung, deren Ziel die Ermordung und Vertreibung der polnischen Bevölkerung sowie die Ansiedlung von Volksdeutschen war. Zu den als volksdeutsch eingestuften Neusiedlern gehörte auch der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler, dessen Eltern 1943
aus Bessarabien dem Ruf Heinrich Himmlers folgten und sich im polnischen Skierbieszów, das in Heidenstein umbenannt wurde, ansiedelten. Skierbieszów liegt nur wenige Kilometer von Szczecyn entfernt.

Bundesdeutsche Gerichte verweigern regelmäßig Entschädigungsforderungen auf Grund der aus Artikel 134 Absatz 4,
Artikel 135a Absatz 1 Nr. 1 GG folgenden, sogenannten Funktionsnachfolge des Deutschen Reichs, die von ehemaligen Opfern von Kriegsverbrechen oder von ihren Hinterbliebenen eingereicht werden. Für die Beurteilung von Schadensersatz und Schmerzensgeldansprüchen gegen das Deutsche Reich ist die jeweils zum Zeitpunkt der Taten geltende Rechtslage entscheidend.
Gemäß Artikel 135a Absatz 1 Nr. 1 GG handelt es sich dabei immer nur um Verbindlichkeiten des Reichs. Ansprüche aus völkerrechtlichen Verpflichtungen oder auf Grundlage innerstaatlichen Rechts werden damit heute abgelehnt. Selbstständige Nachkriegsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland wurden bislang nur aufgrund massiven internationalen Drucks von Opferverbänden gewährt.

Störung des deutschen Rechts­frie­dens

Der 73-jährige polnische Staatsbürger Winicjusz Natoniewski ging deshalb einen anderen Weg. Er suchte Gerechtigkeit nicht vor deutschen, sondern vor polnischen Gerichten. Ende Oktober 2007 klagte er vor dem polnischen Amtsgericht in Gdansk (Sad Okregowy) gegen das Bundeskanzleramt als Rechtsnachfolger des Dritten Reichs. Natoniewski forderte von Deutschland aufgrund erlittener Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs ein Schmerzensgeld in Höhe von 1 Mio. Zloty (ca. 250 000 Euro). Das Gericht lehnte die Klage mangels Gerichtszuständigkeit ab und unterließ es, diese Entscheidung der Beklagten Bundesrepublik Deutschland zuzustellen. Im Dezember 2009 nahm jedoch das polnische Oberste Gericht (Sad
Najwyuszy) einen Kassationsantrag gegen ein zweitinstanzliches Urteil des Appellationsgerichtes (Sad Apelacyjny) vom 13. Mai 2008 zur Prüfung an, welches sich den vorangegangenen Ausführungen des Amtsgerichts in Gdansk angeschlossen hatte (AZ: IV CSK 465/09).

Am 29. Oktober 2010 erging dann ein vorerst endgültiger Beschluss in der Sache, der die Kassationsklage von Natoniewski unter Verweis auf die Staatenimmunität Deutschlands ablehnte. Das Oberste Gericht berief sich dabei auf die Notwendigkeit internationaler Kooperation und die Achtung des Völkerrechts, welches zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte für eine gefestigte Gewohnheitsrechtspraxis vorweise, die eine Aufhebung der staatlichen Immunität Deutschlands bei Individualklagen von Privatpersonen rechtfertigen würde. Ein vom
Bremer Völkerrechtler Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano im Auftrag des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) vorgelegtes, umfangreiches Rechtsgutachten zur gegenwärtigen Rechtspraxis der Staatenimmunität fand hierbei keine Beachtung.

Die Gdansker Rechtsanwälte sind entschlossen, eine Verletzung
des Rechts auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 der
Europäischen Menschenrechtskonvention vor den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Zugleich
schließen sie das Einreichen einer Klage gegen Deutschland in
Italien nicht aus.

Entrechtet durch Recht

Menschenrechtsanwältinnen und -anwälte sind nach wie vor mit einem ungelösten Problem der Rechtsweggarantie konfrontiert. Dies gilt insbesondere für jene, die über den nationalstaatlich definierten Tellerrand hinaus agieren und durch internationale Kooperation die Bundesrepublik Deutschland für gravierende Verbrechen zur Verantwortung ziehen wollen. Das Problem ist nicht ein Spezifikum der Grundrechte, sondern liegt in der Paradoxie des Rechts selbst begründet. Hannah Arendt beschrieb dieses mit dem Begriff der »Aporie der Menschenrechte«. Denn Rechte beziehen sich immer nur auf bereits existierende bzw. klar definierte politische Gemeinschaften. Arendt ging es dabei nicht um irgendwelche Rechte, sondern um das
elementare Recht, Rechte zu haben. Ihre Diagnose beruhte auf der Analyse der Verbrechen des deutschen Faschismus und dennoch ist sie nach wie vor aktuell. Gerade in einer Welt der negativen Globalisierung, die geprägt ist von Grenzüberschreitungen und gleichzeitiger Verweigerung des Rechtschutzes.

Der gescheiterte Versuch von Natoniewski, nach über 60 Jahren endlich Gerechtigkeit zu erfahren, zeigt, wie fragwürdig die Charakterisierung von Recht als Gerechtigkeitsinstrument oder Motor für gesellschaftliche und soziale Veränderungen sein kann. Spätestens seit Max Webers »Wirtschaft und Gesellschaft« wissen wir, dass modernes Recht ein staatlich gesetztes Recht ist. Und wer immer die formell zuständige Verfassungsinstanz sein mag – Recht in seiner allgemeinen Geltung und
auch in seinem legitimatorischen Effekt ist nur zu verstehen als die jeweils andere Seite des staatlichen Gewaltmonopolanspruchs. Und so vergessen Menschenrechtsaktivisten allzu gerne, dass der Begriff des »Rechts«, nicht nur in der Bezeichnung »Rechtsstaat« Bundesrepublik Deutschland sondern auch in der Bezeichnung ihres Rechtsvorgängers »Unrechtsstaat« Drittes Reich mit inbegriffen ist.

Denn weder die sogenannte Endlösung noch die Kriegsverbrechen in den besetzten polnischen Gebieten folgten einer naturwüchsigen Entwicklung, sondern waren vor allem die Folge einer staatlich und somit auch rechtlich abgesicherten Vernichtungspolitik.

Altersbedingt sinkt die Zahl noch lebender Opfer der deutschen
Verbrechen stetig. Nichtsdestotrotz warten diese nicht nur in Polen seit über 60 Jahren auf eine Entschädigung. Deutsche Behörden versäumen gerade ihre historische Chance, aus dem Versteck der Staatenimmunität hervorzutreten und eine politische Entscheidung über umfangreiche Entschädigungsleistungen zu treffen.

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