Willkür statt Entsorgungsnachweis - Wie der Staat ein Endlager ohne Bürgerbeteiligung durchsetzt
Grundrechte-Report 2011, Seiten 138 – 144
Die Ankündigung der schwarz-gelben Bundesregierung, die Laufzeit der Atomreaktoren zu verlängern, hat 2010 zu einem ungeahnten Wiedererstarken des Anti-Atom-Protests geführt. Zugleich trat als Folge der Havarie der beiden Atommüllendlager Asse II und Morsleben das Dilemma der sogenannten Entsorgung immer deutlicher hervor. Die Bundesregierung kennt für das Problem der Lagerung hochradioaktiver Abfälle nur eine Lösung: Die Bauarbeiten im Salzstock Gorleben wurden
nach einem zehnjährigen Moratorium wieder aufgenommen – allen Enthüllungen über die Schönung der Erkundungsergebnisse zum Trotz. Motto: Decide, announce and defend. Zugleich aber wird beteuert, dass der Ausgang der »Erkundung« offen und transparent sei. Das Vorgehen in Sachen Gorleben ist ein demokratiepolitischer Skandal.
1961 ging der erste (Versuchs-)Reaktor in Kahl mit der geringen Stromleistung von 15 Megawatt an Netz. In den 1960er Jahren wurde die Frage: Wohin mit dem anfallenden Atommüll? nur in Fachzirkeln diskutiert. Joachim Radkau dokumentierte in seiner historischen Analyse »Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft«, dass Verdrängung und Verharmlosung beim Thema der Entsorgung radioaktiver Abfälle eine verhängnisvolle Symbiose bildeten. Er zitiert aus einem Bericht des zuständigen ministeriellen Arbeitskreises aus dem Jahr 1961: Zu berücksichtigen sei »nicht zuletzt die Tatsache, dass mit einem einmal angelegten Lager eine säkulare Anhäufung radioaktiven Materials geschaffen« werde; dies gebe der Entscheidung über die Art der Endlagerung »eine gewisse Endgültigkeit«, daher solle sie »nicht unter Zeitdruck getroffen und wohl erwogen werden«.
Mit dem Streit um das geplante Atomkraftwerk (AKW) in Wyhl in den 1970er Jahren und den ersten Großdemonstrationen gegen den Bau des AKW Brokdorf erhob sich ein – bis heute nicht verebbter – Bürgerprotest gegen die Atomenergie. Neben der Reaktorunsicherheit wurde die ungelöste Atommüllentsorgung zum Hauptthema der atompolitischen Auseinandersetzung. Das deutsche Atomgesetz verlangt schließlich seit 1976, dass radioaktive Abfälle »schadlos zu verwerten« oder in einer »Anlage des Bundes« endzulagern sind. Dass der weitere Betrieb der Atomkraftwerke und deren Ausbau vom Nachweis sicherer Entsorgung abhängig gemacht wurden, war durchaus von Verantwortungsgefühl geprägt. Vor allem aber sollte die
Akzeptanz des Atomprogramms verbessert werden.
Das Bergwerk säuft ab, der radioaktive Müll liegt drin
Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) bestimmte auf Drängen der Regierung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt im Februar 1977 Gorleben als Standort für ein integriertes Entsorgungszentrum. Geplant war der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage, einer Brennelementefabrik nebst diverser oberirdischer Pufferlager für die Abfälle, einer Anlage zur Abfallbehandlung und eines unterirdischen Atommüllendlagers im Salzgestein. Vorangegangen war auf Druck der Schmidt-Regierung ein dubioses Suchverfahren. Die Länder Hessen, Bayern und Baden-Württemberg hatten abgewinkt, die niedersächsische Landesregierung ignorierte eine bestehende Vorauswahl und bestand schließlich auf
Gorleben als einzig möglichem Standort, von dem der damalige Präsident des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung,
Professor Gerd Lüttig, am 13. Juli 2010 in der ZDF-Sendung Frontal (»Der große Bluff – Die falschen Versprechungen der Atompolitik«) sagte, er habe nicht auf seiner Liste gestanden.
Derweil entledigte sich die Atomwirtschaft in einem stillgelegten Kalibergwerk bei Wolfenbüttel, der Asse II, ihrer Abfälle. 1965 kaufte die Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) im Auftrag des Bundes das Kalibergwerk für 800 000 DM. Von 1967 bis 1978 wurden 124 494 Fässer mit schwachradioaktiven Abfällen gestapelt oder verstürzt. Aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe kamen 1293 Fässer mit mittelradioaktivem Abfall hinzu. Lecke und korrodierte Fässer wurden
angeliefert, flüssige Abfälle eingelagert. Auf ein atomrechtliches
Genehmigungsverfahren verzichtete die GSF bewusst, eine Bergung der Fässer war nie vorgesehen. Diese Atommülldeponie wurde illegal betrieben, aber strafrechtliche Konsequenzen hatte das nicht. Von Anfang an wussten die Betreiber von der Gefahr eines Wasserzuflusses. Doch Wissenschaftler wie u. a. der vielfach als Gefälligkeitsgutachter bezeichnete Professor Klaus Kühn, der auch Gorleben tauglich findet, segneten das riskante Unternehmen ab. Seit 1988 werden in der Asse täglich zwölf Kubikmeter Wasser aufgefangen und abgepumpt. Das
Bergwerk säuft ab, der radioaktive Müll liegt drin. Ob eine Evakuierung der Abfälle – zumindest teilweise – noch möglich ist, lässt sich schwer entscheiden. 2,5 Milliarden Euro sind laut Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) für die Notsicherung veranschlagt. Bisher muss der Steuerzahler die notwendigen Mittel aufbringen. Die Vorgänge um die Asse II sind inzwischen Gegenstand eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Niedersachsen.
Keine Beteiligung der betroffenen Bewohner
Die Asse II war Übungsfeld für Gorleben, nicht nur technisch, sondern auch juristisch. Man wandte nicht das Atomrecht, sondern das Bergrecht an. So konnte die Öffentlichkeit von einem Genehmigungsverfahren ausgeschlossen werden. Und das Gorleben-Projekt wurde bisher ebenfalls ausschließlich nach Bergrecht vorangetrieben, obwohl ein Antrag auf Planfeststellung nach § 9b Atomgesetz (AtG) sehr früh, nämlich schon am 28. Juli 1977, beim niedersächsischen Sozialminister gestellt wurde.
Dieser Antrag bezog sich auf eine Anlage zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle im Rahmen des am Standort Gorleben geplanten integrierten Entsorgungszentrums. Das Bundesamt räumt auf seiner Homepage am 18. November 2009 ein, »dass die Erkundungsarbeiten in Gorleben auf einem bergrechtlichen Rahmenbetriebsplan beruhen, der das Projekt unter den Randbedingungen von vor über 25 Jahren beschreibt. Diese sind teilweise überholt (…) Darüber hinaus sieht die bisherige Rechtsgrundlage bei der Erkundung keine förmliche Beteiligung der interessierten und vom Projekt betroffenen Bevölkerung vor.«
Aufkündigung des Moratoriums
Unbeeindruckt davon kündigte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) als eine seiner ersten Amtshandlungen im März 2010 das im Jahr 2000 von Rot-Grün beschlossene Moratorium auf der Endlagerbaustelle in Gorleben auf. Wer für die Verlängerung von Laufzeiten für Atomkraftwerke plädiere, müsse auch sagen können, wohin mit dem Müll. Seit dem 1. Oktober 2010 lässt die schwarz-gelbe Bundesregierung den Salzstock Gorleben »ergebnisoffen«, aber alternativlos auf seine Eignung als Endlager für hochradioaktive Abfälle weiter untersuchen. Rot-Grün hatte im Jahr 2000 ein Moratorium beschlossen, denn Gorleben schien geologisch und politisch verbrannt.
Komplettiert wurde dieser Beschluss durch die Novelle des Atomgesetzes, das ab 1. Januar 2011 auch die Enteignung von Grundeigentümern vorsieht, die sich gegen den weiteren Ausbau Gorlebens als prospektives Endlager sperren.
Ein Verzicht auf ein vergleichendes Suchverfahren wurde im schwarz-gelben Kabinett intern – wie in den 1980er Jahren – mit der Angst vor Bürgerprotesten an möglichen anderen Standorten begründet. Hans-Peter Friedrich, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, formulierte offen, was andere denken, aber nicht auszusprechen wagen: Der Umweltminister riskiere einen »Flächenbrand«, wenn er neben dem Salzstock Gorleben anderswo Ton- und Granitgestein als Endlagermedium untersuchen lasse (Financial Times Deutschland vom 17. 3. 2010).
Erkundung unter Umgehung der Öffentlichkeit
Genau so war schon 30 Jahre zuvor argumentiert worden, als nach Auswertung der Tiefbohrergebnisse Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Zweifel an der Eignung Gorlebens wuchsen. Vor allem das Deckgebirge des Salzstocks erwies sich als Flopp: Ein Wasserkontakt, das größte Sicherheitsrisiko, war nicht mehr ausgeschlossen. Die federführende Fachbehörde, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) – die Vorläuferbehörde des BfS – schlug deshalb vor, neben Gorleben auch andere Standorte auf ihre Eignung als Atommüllendlager zu untersuchen. Doch per Weisung wurde der PTB dieser Passus aus dem Bericht gestrichen. Das Bundeskabinett Helmut Kohl beschloss daraufhin im Juli 1983, in Gorleben Schächte abzuteufen und ein Endlagerbergwerk aufzufahren – allen Zweifeln zum Trotz. Jetzt befasst sich auch in Berlin ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit diesen Vorgängen. August Hanning, 1981 bis 1983 Oberregierungsrat im Bundeskanzleramt – in seine Zuständigkeit fiel Gorleben -, gab vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Gorleben am 8. Juli 2010 zu Protokoll: Die »Techniker« hätten auf einen Standortvergleich gedrängt, die Politiker hingegen – gleich welcher Couleur – hätten Bürgerproteste im Lande gefürchtet und deshalb an diesem einen Standort festgehalten.
So konnte sich die Öffentlichkeit in keiner Phase in die Endlagersuche
einmischen – außer demonstrativ auf der Straße. Röttgen knüpft mit seiner Entscheidung bewusst an diese zutiefst undemokratische Tradition an und bemüht dabei Rechtskonstruktionen der 1980er Jahre: Die sogenannte untertägige Erkundung soll weiterhin auf der Basis des Berg- und nicht des Atomrechts vorangetrieben werden. Gleichwohl garniert er die Suche nach einem geeigneten Endlager für hochradioaktive Abfälle mit den Begriffen »Transparenz« und »Dialog«.
Die Ausgaben in Gorleben beliefen sich bislang auf 1,51 Milliarden Euro. Die Kosten für den Offenhaltungsbetrieb bezifferte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion mit 239,8 Millionen Euro bis Ende 2008. Nach Angaben von BfS-Präsident Wolfram König würde die Erkundung eines anderen Standorts mit rund 400 bis 500 Millionen Euro zu Buche schlagen. Daraus folgt: Mindestens die Hälfte der Ausgaben ist bereits in den Ausbau des Endlagers Gorleben geflossen. Im Gespräch mit der Braunschweiger Zeitung räumte König im Juni 2009 zudem ein, dass in Gorleben unter dem Deckmantel der Erkundung rechtliche Vorgaben übergangen wurden: »Gorleben ist größer gebaut worden, als es für die Erkundung nötig gewesen wäre. Das war seit langem bekannt. Das Ganze lief ohne formale Öffentlichkeitsbeteiligung, ohne Umweltverträglichkeitsprüfung und allein nach Bergrecht ab.« So wird ein Endlager unter der »Etikette« der Erkundung errichtet, es ist eine Erkundung bis zur faktischen Fertigstellung ohne Öffentlichkeitsbeteiligung.
Eine Form institutioneller Gewalt
Dieses Vorgehen erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Form institutioneller Gewalt: Verwaltungs- und Regierungshandeln entmündigt Beteiligte und Betroffene, beraubt sie ihrer Rechte: Behördeninterne Kritiker werden mit dem Weisungsrecht mundtot gemacht, klagebefugt gegen dieses staatliche Handeln, das noch in Tausenden Generationen jeden Menschen betrifft, sind nur sehr wenige. Verschwindend wenige: Es sind nur die Grundbesitzer, die rechtzeitig bei einer gezielten Novelle des niedersächsischen Bergrechts im März 1978 ihre Salzrechte in Gorleben geltend machten. Juristisch ist sogar umstritten, ob der sogenannte »Drittschutz« zu einer Klagebefugnis gegen die Entscheidung Röttgens zieht. Dann wäre niemand klageberechtigt. Das erinnert an die frühen Warnungen Robert Jungks vor einem Atomstaat.
Literatur
Bundesregierung in ihrer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, Drucksache 16/12957 vom 11. Mai 2009
Endlager Gorleben, Endlagersuche im Salzstock Gorleben, Stationen
eines Irrweg; Zur Sache Nr. 8, Bürgerinitiative Umweltschutz
Lüchow-Dannenberg 1993
Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft,
1945–1975, Reinbek 1983
Rucht, Dieter, Von Wyhl nach Gorleben, Bürger gegen Atomprogramm
und nukleare Entsorgung, München 1980