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Again and again - Befris­tungen ohne Ende

Grundrechte-Report 2012, Seite 121

Dass Sicherheit und Vorhersehbarkeit in sozialer und finanzieller Hinsicht Basis jeder vernünftigen Lebens- und Familienplanung ist, lässt sich kaum bestreiten. Und dennoch: Einem großen Teil unserer Gesellschaft wird diese Basis zunehmend buchstäblich unter den Füßen weggezogen. Gerade bei Berufsanfängern besteht eine deutliche Tendenz zu befristeten Arbeitsverhältnissen. Generell ist die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitnehmer ünbefristet einzustellen, in den letzten Jahren signifikant gesunken. Während im Jahr 2001 »nur« 32 Prozent der Neueinstellungen befristet waren, waren es im Jahr 2009 bereits knapp die Hälfte (www.iab.de/1406/view.aspx). Dabei wird in all diesen Fällen der Kündigungsschutz objektiv umgangen und den Beschäftigten jede auch nur mittelfristige Planungssicherheit genommen.

10 Jahre befristet angestellt

Ein Beispiel: Frau B. war gut zehn Jahre lang als Justizangestellte im Geschäftsstellenbereich des Amtsgerichts Köln tätig – auf Basis von 13 aufeinanderfolgenden befristeten Verträgen. Die Befristungen wurden stets mit der Vertretung von Arbeitnehmern in Elternzeit oder Sonderurlaub begründet. Den letzten befristeten Vertrag ließ das Land im Jahr 2007 auslaufen, ohne Frau B. eine weitere Beschäftigung anzubieten.

Bisher hat die Rechtsprechung in derartigen Fällen dem Bedürfnis der Arbeitgeber nach flexibel einsetzbarer Arbeitskraft den Vorrang vor dem Bedürfnis der Arbeitnehmer nach Sicherheit und Planbarkeit eingeräumt – und zwar selbst dann, wenn die betroffenen Arbeitnehmer gar nicht nur »flexibel«, sondern dauerhaft gebraucht und eingesetzt wurden. Etwas anderes gilt nur in dem kaum beweisbaren Fall, dass der Arbeitgeber bereits bei Abschluss des befristeten Vertrages plant, den Arbeitnehmer als »Springer« für eine unbestimmte Zahl von Vertretungsfällen einzusetzen. Maßgeblich ist im Übrigen für das Bundesarbeitsgericht nicht die Gesamtzahl der Befristungen, sondern in der Regel nur die letzte. Wird diese von den Parteien vorbehaltlos vereinbart, soll sie zugleich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis aufheben können. Schließlich soll auch die Dauer der Vertretung keine Rolle spielen. Der Arbeitgeber soll vielmehr regelmäßig auch bei unabsehbarer Dauer von der Rückkehr des Erkrankten oder Beurlaubten ausgehen können.

Ursprünglich hatte die Rechtsprechung eine Verhältnismäßigkeit der Befristungen am Maßstab der Grundrechte geprüft – einschlägig sind hier insbesondere Artikel 12 Absatz 1 GG und das Sozialstaatsgebot. Seit Einführung spezialgesetzlicher Regelungen findet dagegen eine Grundrechtsprüfung nicht mehr statt. Speziell bei der Begründung sogenannter Kettenbefristungen mit dem Sachgrund der Vertretung erweist sich die bisherige Rechtsprechung dabei als nicht hinreichend sensibel für die in ihren Grundrechten betroffenen Beschäftigten.

Hoffnungs­schim­mer: Grenzen durch die EU-Be­fris­tungs­richt­linie

Hoffnung machte eine Vorlage des Bundesarbeitsgerichts vom 17.11.2010 an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf der Grundlage der Fallkonstellation der Justizangestellten beim Amtsgericht Köln. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz sollte danach am Maßstab der ihm zugrunde liegenden EU-Richtlinie überprüft werden. Diese Richtlinie dient der Verhinderung des Missbrauchs von Befristungen zu Lasten der Arbeitnehmer. Der EuGH wiederum überwacht, ob die Mitgliedstaaten den dort enthaltenen Vorgaben zur Wirksamkeit verhelfen.

Der EuGH hatte seit 2006 wiederholt Kritik an Kettenbefristungen geäußert. Nach seiner Rechtsprechung zur Befristungsrichtlinie hat nämlich ein Mitgliedstaat die Arbeitnehmer gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu schützen und den Grundsatz zu verwirklichen, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse als »Normalarbeitsverhältnisse« die übliche Beschäftigungsform sind. Nationale Vorschriften, welche die Verlängerung oder Wiederholung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverhältnisse zur Deckung eines zeitweiligen Bedarfs zulassen, müssen unionsrechtskonform so ausgelegt werden, dass sie nicht missbraucht werden können, um einen tatsächlich vorhandenen ständigen Bedarf zu decken (zuletzt EuGH, Urt, v. 23.04.2009 – Rs. C 378/07 – Angelidaki u.a.).

In dem seit Anfang 2012 vorliegenden Urteil hat der EuGH lange Befristungsketten zwar nicht grundsätzlich untersagt (Urt. v. 26.01.2012 – Rs. C 586/10). Er hat aber bekräftigt, dass EU-rechtlich immer noch die Prämisse gilt, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse die übliche Beschäftigungsform sind. Im Urteil ist festgehalten, dass konkret zu prüfen ist, ob die Verlängerung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge wirklich zur Deckung eines zeitweiligen Bedarfs dient oder die Möglichkeit der Vertretungsbefristung nicht »in Wirklichkeit eingesetzt wird, um einen ständigen und dauerhaften Arbeitskräftebedarf des Arbeitgebers zu decken«. Dazu ist »namentlich die Zahl der mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden be-
fristeten Verträge zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge (….) zurückgreifen«.

Mit dieser Vorgabe, die einen weiteren Schritt in die richtige Richtung darstellt, sind die deutschen Gerichte zumindest gezwungen, mehr als bisher auch vorangegangene Befristungen in ihre Prüfung einzubeziehen.

Eigentlich hätte das Bundesarbeitsgericht seine erlaubnisfrohe Rechtsprechung jedoch auch ohne ein Vorlageverfahren schon vor dem Hintergrund korrigieren können, dass neuerdings auch das Bundesverfassungsgericht vehement eine menschenrechtskonforme Auslegung der Gesetze fordert.

Befris­tungs­schutz in Menschen­rechten

Mit Artikel 6 Absatz 1 UN-Sozialpakt (wie auch mit Artikel 1 der Europäischen Sozialcharta) erkennen die Vertragsstaaten das Recht auf Arbeit an. Sie verpflichten sich zugleich, geeignete Schritte zum Schutz dieses Rechts zu unternehmen. Wie dieses Recht auszulegen ist, ist den sogenannten Allgemeinen Bemerkungen des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu entnehmen. Nach der Allgemeinen Bemerkung Nr. 16 umfasst es auch den Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dürfen dem Ausschuss zufolge nicht dazu führen, dass die Stabilität der Arbeitsverhältnisse oder die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer sinken.

Noch weitergehenden Schutz gewährt Artikel 4 Absatz 1 des Übereinkommens 158 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Demnach darf das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers nur dann beendigt werden, wenn ein triftiger Grund hierfür vorliegt. Nach Artikel 2 Absatz 3 des Übereinkommens darf dieser Grundsatz nicht durch Befristungen umgangen werden. Nach der ILO-Empfehlung 166 sind Befristungen daher nur zulässig, wenn ein unbefristetes Arbeitsverhältnis wegen der Art der auszuführenden Arbeit, wegen der Umstände, unter denen sie auszuführen ist, oder wegen der Interessen des Arbeitnehmers
nicht in Frage kommt. Anderenfalls sollen befristete Arbeitsverträge, insbesondere, wenn sie bereits einmal oder mehrmals verlängert worden sind, als unbefristete Arbeitsverträge anzusehen sein.

Nun hat die Bundesrepublik das ILO-Übereinkommen 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber noch nicht ratifiziert. Folgt man der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Entscheidung Demir und Baykara (Urteil vom 12.11.2008), ist das jedoch auch nicht erforderlich. Vielmehr reicht es, dass die Normen eine kontinuierliche Entwicklung der Vorschriften und Grundsätze des Völkerrechts oder des staatlichen Rechts der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats verdeutlichen und Beweis dafür bieten, dass in einer bestimmten Frage eine übereinstimmende Auffassung der modernen Gesellschaften besteht. Das dürfte hier der Fall sein, zumal auch Artikel 15 und 31 der EU-Grundrechtecharta dieses Ziel verfolgen.

Gesetze völker­rechts­kon­form auslegen

So wie bisher geht es nicht weiter. Die derzeit herrschenden sozialen Bedingungen höhlen das Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 GG und die vorstehend aufgezählten völkerrechtlichen Normen zusehends aus. Der für die Lösung dieses Problems notwendige Normenbestand ist vorhanden. Darauf aufbauend sollte in Zukunft der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung mobilisiert werden, um den ausufernden Befristungen engere Grenzen zu setzen, also insbesondere die Gesamtdauer oder die mögliche Anzahl von Befristungen zu beschränken, statt lediglich – wie bislang das BAG – die letzte Befristung zu überprüfen.

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