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Bleibe­recht: Kein Ende der Debatte

Grundrechte-Report 2012, Seite 48

1993 fliehen Mujo und Senije Camajs aus dem Kosovo nach Deutschland. Seit einem Schlaganfall ist Senije schwerstbehindert, sie wird von ihrem Mann rund um die Uhr gepflegt und braucht intensive Betreuung. In Deutschland bekommen sie zunächst als Bürgerkriegsflüchtlinge Abschiebungsschutz und ein Aufenthaltsrecht, fünf Jahre später wird ihnen beides wieder entzogen.

Unterstützung erhalten die beiden von der Familie: Der erwachsene Sohn hat bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Er wohnt mit seiner Frau und drei Kindern im gleichen Haus. Die Familienmitglieder helfen bei den alltäglichen Verrichtungen und vor allem bei der Pflege der Mutter.

Im Zuge der Bleiberechtsregelung erhalten die Camajs 2008 eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“. Weil aber der inzwischen 70-jährige Mujo den Lebensunterhalt für sich und seine schwer kranke Frau nicht erarbeitet und die beiden auf Sozialleistungen angewiesen sind, wird die Erlaubnis nicht verlängert. Ungeachtet der familiären Situation betreibt die Ausländerbehörde heute, fast 20 Jahre nach der Einreise, die Abschiebung der beiden Senioren ins Kosovo.

Zu alt, zu krank, zu arm. Auf diese Kurzformel hat PRO ASYL im Herbst 2011 gebracht, woran die Erteilung eines Aufenthaltsrechts für in Deutschland langjährig geduldete Flüchtlinge vielfach gescheitert ist. Kurz zuvor wurde mit der Bleiberechtsregelung für Heranwachsende ein neuer Weg eingeschlagen, dennoch bleibt festzuhalten: Eine grundlegende politische Lösung für die Problematik der immer wieder verlängerten Duldungen steht noch immer aus. Der langjährige rechtlich ungesicherte Aufenthalt zehntausender Flüchtlinge und ihrer heranwachsenden Kinder führt zu einem Leben im Widerspruch von Integrationserwartung und Ausgrenzung, zu einem belastenden Dasein zwischen Hoffnung und existenzieller Angst.

Die Bleibe­rechts­re­ge­lungen von 2006/2007

Nach langem öffentlichem Druck war es zunächst im November 2006 zu einem Beschluss der Innenminister von Bund und Ländern gekommen. Danach erhielten langjährig Geduldete ein Aufenthaltsrecht, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten: Eine Mindestaufenthaltsdauer von sechs (Familien) bzw. acht Jahren (Einzelpersonen) zum damaligen Zeitpunkt, soziale Integration, weitgehende Straffreiheit und vor allem die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit – Letzteres eine hohe Hürde für Menschen, denen man jahrelang gar nicht oder nur „nachrangig“ erlaubt hatte zu arbeiten. 24.000 Aufenthaltserlaubnisse wurden ausgestellt, das Gros der langjährig Geduldeten aber fiel durch.

Deshalb verabschiedete die Bundesregierung im darauf folgenden Jahr eine gesetzliche Altfallregelung für Geduldete, die zum 1. Juli 2007 sechs bzw. acht Jahre in Deutschland lebten. Sie konnten bei Erfüllung weiterer Bedingungen eine „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ erhalten, wenn sie ihren Lebensunterhalt noch nicht oder nicht vollständig decken konnten, dies aber erreichbar schien. Weitere 36.000 Erlaubnisse, viele nur „auf Probe“, wurden ausgestellt. Alte, Arbeitsunfähige und Kranke blieben auch bei dieser Regelung meist außen vor.

Begrenzte Reichweite: Bleibe­rechts­re­ge­lung für Jugendliche

Im Juni 2011 wurde mit dem neuen § 25a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Bleiberechtsregelung für Heranwachsende geschaffen. Im Kern handelt es sich weniger um ein humanitär motiviertes Bleiberecht als um eine Regelung, die angesichts demografischer Entwicklungen die Qualifikationen und Ressourcen der jungen Menschen für den deutschen Arbeitsmarkt zu nutzen versucht. Gleichwohl bietet sie jungen Menschen die Chance, aus der Duldung herauszukommen. Ein wichtiger, positiver Unterschied zu bisherigen Bleiberechtsregelungen ist, dass es sich um eine Dauerregelung handelt, so dass auch in den folgenden Jahren Jugendliche ein Aufenthaltsrecht nach § 25a erhalten können. Mit der Beschränkung auf 15- bis 20-Jährige ist die Regelung aber eng begrenzt. Eine Aufenthaltserlaubnis kann zudem nur erhalten, wer als gut integriert eingestuft wird und wem nicht die mangelnde Mitwirkung an der eigenen Abschiebung angelastet wird.

Durchgefallen

Zehntausende Menschen haben bislang nach keiner der getroffenen Regelungen ein Aufenthaltsrecht erhalten. Hohe Anforderungen an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben ältere oder kranke Menschen von einem Bleiberecht weitgehend ausgeschlossen. Andere sind erst nach den damals gesetzten Einreisestichtagen für ein Bleiberecht nach Deutschland gekommen. Mit jedem Jahr, das verstreicht, kommen neue Langzeitgeduldete hinzu.

Allein 86.000 Menschen lebten Ende 2010 mit einer Duldung, weitere Zehntausende mit einer Aufenthaltsgestattung oder ohne anerkannte Dokumente registriert in Deutschland. Davon sind 75.000 bereits länger als sechs Jahre, viele davon sogar schon erheblich länger in Deutschland:

  • 53.000 Menschen als Geduldete;
  • Weitere rund 18.000 Personen, die nicht einmal eine Duldung haben, aber behördlich registriert sind;
  • über 4.000 Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung. Ihr Asylverfahren ist noch immer nicht abgeschlossen, daher verfügen sie ebenfalls (noch) nicht über eine sichere Aufenthaltsperspektive.

Für die meisten dieser Menschen ist eine Rückkehr ins einstige Herkunftsland aus unterschiedlichen Gründen schon lange undenkbar. Auf humanitäre Rettung aus ihrer Lage warten sie bislang vergebens.

Bleiberecht bleibt prekär

Doch auch diejenigen, die in der Vergangenheit eine (Probe-)Aufenthaltserlaubnis erhielten, können sich nicht unbedingt dauerhaft sicher fühlen. Ende 2011 lief für rund 14.000 in Deutschland lebende Menschen und ihre Angehörigen ihr befristetes „Probe“-Bleiberecht aus. Die Beratung der Innenminister im Dezember 2011 über eine Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnisse endete in einer unkonkreten Verabredung, eine Verlängerung bei positiver Integrationsprognose zuzulassen – Einzelfall offen.

Weitere 46.000 Menschen haben in den vergangenen Jahren ein nicht nur „probeweise“ erlaubtes humanitäres Bleiberecht bereits erhalten, weil sie die Bedingungen dafür vollständig erfüllt hatten. Aber: Auch bei ihnen hängt die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis – zum jeweils individuellen Zeitpunkt – grundsätzlich von ihrer finanziellen Situation und damit ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab. Wer krank oder unverschuldet arbeitslos wird, sieht sich möglicherweise auch nach Jahren noch unvermittelt mit dem Ende der Aufenthaltssicherheit konfrontiert.

Es ist auch 2011 viel diskutiert und entschieden worden beim Thema Bleiberecht. Unter dem Strich scheint die Einsicht gewachsen zu sein, dass langjährige Duldungen allen Betroffenen, aber auch der Gesellschaft mehr schaden als nutzen, und dass auch geduldete Flüchtlinge ihre Potenziale und Fähigkeiten gewinnbringend einbringen können. Aspekte wie Humanität, Menschenwürde oder Familienzusammengehörigkeit sind aus dieser Perspektive allerdings zweitrangig. Nach wie vor fehlt eine großzügige Bleiberechtsregelung, die auch humanitären Grundsätzen genügt. Das Problem von Kettenduldungen und prekärem Aufenthalt wird so auf der Tagesordnung bleiben.

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