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Das Streikrecht der Beamten ist Menschen­recht… und Grundrecht

Grundrechte-Report 2012, Seite 116

Nach knapp 90 Jahren Stillstand ist Bewegung in die Frage des Streikrechts für Beamte gekommen. Der Kaiser musste gestürzt werden, damit in Deutschland erstmals ein allgemeines Recht ausgerufen wurde, Gewerkschaften zu gründen und zu streiken. Schon kurze Zeit später wurden die Uhren wieder zurückgedreht: Jeder Streik stellte danach eine rechtswidrige Verletzung der Pflichten aus dem Arbeits- oder Beamtenverhältnis dar, soweit ihm nicht eine fristgemäße Kündigung voranging. Für nicht verbeamtete Arbeitnehmer hat das Bundesarbeitsgericht 1955 klargestellt, dass ein im Übrigen rechtmäßiger Streik den Arbeitgeber nicht (mehr) zur fristlosen Kündigung berechtigt (GS 1/54). Der Beamtenstreik blieb bis zuletzt davon ausgenommen.

Mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Düsseldorf vom 15. Dezember 2010 (31 K 3904/10.O) wurde das Streikverbot für Beamte nun erstmals in der deutschen Rechtsprechung in Zweifel gezogen. Entscheidungen des VG Kassel (28 K 574/10) und des VG Osnabrück (9 A 1/11) folgten im Sommer 2011. Auslöser war die Teilnahme von drei verbeamteten Lehrern an Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen und die Ahndung der Streikteilnahmen durch Disziplinarmaßnahmen, von einer „Missbilligung“ bis zur Disziplinarstrafe in Höhe von 1.500 Euro.

Warum beteiligen sich plötzlich verbeamtete Lehrer bundesweit an Streiks?

Seit langem ist geklärt, dass das deutsche Streikverbot gegen Menschenrechte verstößt. Sowohl die Internationale Arbeitsorganisation (IAO/ILO) als auch die Expertengremien der Europäischen Sozialcharta sehen im Streikverbot für Beamte ohne Differenzierung nach der konkreten Tätigkeit eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik. Zuletzt formulierte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen im Mai 2011 verabschiedeten abschließenden Bemerkungen zum letzten Bericht der Bundesrepublik zum UN-Sozialpakt (vgl. hierzu den Artikel von Heiner Fechner zum UN-Sozialpakt, S. 176 ff.) eine harsche Kritik:

„Der Ausschuss bekundet, wie bereits 2001, erneut seine Besorgnis darüber, dass das Streikverbot, das der Vertragsstaat auch denjenigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes auferlegt, die keine Dienstleistung von wesentlichem allgemeinem Interesse erbringen, eine Einschränkung der Tätigkeit der Gewerkschaften darstellt, welche über die nach Artikel 8 (2) des Paktes zulässigen Einschränkungen hinausgeht (Artikel 8). Der Ausschuss legt dem Vertragsstaat erneut dringend nahe, Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Angehörige des öffentlichen Dienstes, die keine Dienstleistung von wesentlichem allgemeinem Interesse erbringen, ihr Streikrecht in Übereinstimmung mit Artikel 8 des Paktes und dem IAO-Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, 1948, in Anspruch nehmen können.“

Nun ist auch in den für Streikaufrufe verantwortlichen gewerkschaftlichen Kreisen bekannt, dass die Berufung auf Menschenrechte bislang bei Politik und Rechtsprechung auf taube Ohren stieß. Dass man sich dennoch traute, zu streiken, hat mit dem neuen Zusammenspiel zwischen Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und Bundesverfassungsgericht zu tun.

So stellte der EGMR in der Entscheidung Demir und Baykara gegen die Türkei bereits 2008 fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in Artikel 11 ein umfassendes Koalitionsrecht garantiert, welches auch für Beamte gilt. In der Nachfolgeentscheidung Enerji Yapi-Yol Sen gegen die Türkei hat er klargestellt, dass dieses Recht auch ein Streikrecht für Beamte enthält. Eingeschränkt werden darf dieses nur, soweit das zur Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit, dem Schutz der Grundrechte Dritter und vergleichbarer Güter in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, sowie bei Polizei, Armee und hoheitlicher Verwaltung. Eine Einschränkung darf allerdings nicht generell für den öffentlichen Dienst, sondern nur für bestimmte Tätigkeitsbereiche gelten. Die statusmäßige Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten beim Streikrecht ist nicht zulässig. Die Auslegung der Einschränkung für die Staatsverwaltung müsse im Einklang mit der hier besonders genauen und fortschrittlichen Auslegung der ILO-Konvention Nr. 98 erfolgen. Demnach sei eine Einschränkung nur für die staatlichen Funktionsträger zulässig, die eigentümlich für die Verwaltung des Staates seien, also für Berufe, die dem Staat vorbehalten sind. Dabei mag man an Richter, Diplomaten oder Träger von Leitungsfunktionen in Ministerien denken.

Der EGMR verhilft Menschen­rechten in der BRD zum Durchbruch

Das Bundesverfassungsgericht misst in seiner Rechtsprechung neuerdings dem EGMR eine große Bedeutung zu (vgl. hierzu Müller-Heidelberg, „Auch europäische Menschenrechte werden durchgesetzt“, in Grundrechte-Report 2005, 192 ff.). So hat es zuletzt in der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung vom 04.05.2011 (Az. 2 BvR 2333/08 u.a.) betont, dass die „Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandards in sich aufgenommen haben.“ Die Rechtsprechung des EGMR diene dabei als „Auslegungshilfe auf der Ebene des Verfassungsrechts über den Einzelfall hinaus“, mit anderen Worten: die Rechtsprechung des EGMR ist für den deutschen Staat mitsamt Gerichten auch dann zu beachten, wenn die Bundesrepublik nicht selbst verurteilt wird, sondern Maßstäbe in Verfahren mit anderen Ländern gefunden werden. Ein in der Entscheidung selbst angeführtes Motiv hierfür ist, eine Verurteilung der Bundesrepublik wegen Völkerrechtsverletzungen möglichst von vornherein zu vermeiden.

Bezogen auf das Streikrecht für Beamte ergibt sich daraus ein Widerspruch innerhalb der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Getreu dem alten Verwaltungsgrundsatz „das war schon immer so“ hatte es bislang in die in Artikel 33 Absatz 5 GG verankerten „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ ein generelles Streikverbot für Beamte hineingelesen. Davon gingen auch die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte aus. Andererseits stellt das Streikverbot für Beamte einen schweren Eingriff in das in Artikel 9 Absatz 3 GG verankerte Koalitionsrecht dar. In diesen ist nach dem neuen Menschenrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts die EGMR-Rechtsprechung hineinzulesen.

Wie lässt sich dieser Widerspruch nun auflösen?

Das VG Düsseldorf bemühte sich in seiner Entscheidung um eine salomonische Lösung. Das Streikverbot sei europarechtswidrig, aber in Artikel 33 Absatz 5 GG verankert und daher zu beachten. Das einfachgesetzliche Disziplinarrecht eröffne dagegen einen Auslegungsspielraum, welcher eine europarechtskonforme Auslegung dahingehend ermögliche, dass Beamtenstreiks zwar verboten, aber nicht zu ahnden seien. Das Verwaltungsgericht Kassel dagegen hat die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ menschenrechtskonform ausgelegt und den Streik für rechtmäßig befunden. Das VG Osnabrück hält dies wiederum für die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts oder des verfassungsändernden Gesetzgebers und bestätigte die ihm vorgelegte Disziplinarmaßnahme.

Die einfachste Lösung wäre, bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Koalitionsrecht aus Artikel 9 Absatz 3 GG die Rechtsprechung des EGMR einfließen zu lassen. So ließe sich feststellen, dass ein Streikverbot jedenfalls in Berufen, die auch im Angestelltenverhältnis ausgeübt werden (z.B. Lehrer) unverhältnismäßig ist und ein eventuelles Streikverbot zurückstehen muss. Auf diesem Weg ließe sich auch „elegant“ die eigentlich notwendige Feststellung vermeiden, dass das Streikverbot mangels hinreichend konkreter einfachgesetzlicher Regelung insgesamt verfassungswidrig ist.

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