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„Der Flughafen ist nicht das Wohnzimmer der Fraport.“ - Zum Flugha­fen­ur­teil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Grundrechte-Report 2012, Seite 88

Am 20. Juni 2011, dem internationalen Tag des Flüchtlings, lief eine bunte Schar von etwa 500 Abschiebegegnern in den Terminals des Frankfurter Flughafens umher. Sie waren gekommen, um gegen die fortwährenden Menschenrechtsverletzungen am nach wie vor größten Abschiebeflughafen Deutschlands zu protestieren. Zugleich feierten sie ihre rechtlich zurück gewonnene und erweiterte Demonstrationsfreiheit am Flughafen. Am 22. Februar 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) der Klage der Abschiebegegnerin Julia Kümmel gegen den Flughafenbetreiber Fraport wegen Verletzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit stattgegeben. Dieser hatte ihr nach dem 2003 unternommenen Versuch, gemeinsam mit anderen eine Abschiebung zu verhindern und ein entsprechendes Flugblatt an Passagiere und Passanten zu verteilen, untersagt, das Flughafengelände noch einmal zu betreten. Anderenfalls wurde ihr Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs angedroht.  Für ihr Engagement verlieh ihr die STIFTUNG PRO ASYL den Menschenrechtspreis 2011.

Keine Grund­rechts­bin­dung von Privaten?

Acht Jahre später hob das BVerfG mit 7:1 Richterstimmen die vorangegangenen Entscheidungen sämtlicher zivilgerichtlicher Instanzen bis hin zum Bundesgerichtshof auf, die alle die Klage Julia Kümmels als unbegründet abgewiesen hatten. Trotz der Anteilsmehrheit von Stadt und Land könne, so die Gerichte, Fraport als private Betreiberin des Flughafens auf der Grundlage ihres Hausrechts und der Flughafenbenutzungsordnung frei darüber entscheiden, wem sie zu welchen Zwecken Zutritt zum Flughafen gewähre. Grundrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit seien Abwehrrechte gegenüber dem Staat und begründeten keine Rechte gegenüber einem Eigentümer.

In der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG beriefen sich die Unternehmensvertreter zudem auf ein nahezu totalitär anmutendes Sicherheitskonzept, um massive Grundrechtseinschränkungen am Flughafen zu rechtfertigen. Überdies bestritten sie, dass der Flughafen wegen des immer weiter ausgebauten Freizeit- und Konsumangebots für Passagiere und Besucher zu einem für alle zugänglichen „öffentlichen Marktplatz“ geworden sei.

Das Urteil lässt keine dieser Begründungen gelten. An zentraler Stelle
heißt es darin, dass die Nutzung zivilrechtlicher Formen die staatliche Gewalt nicht von ihrer Bindung an die Grundrechte nach Artikel 1 Absatz 3 GG befreie. Diese verpflichteten sie vielmehr als „unmittelbar geltendes Recht, das keinen Nützlichkeits- und Funktionsvorbehalten unterliegt, umfassend und insgesamt“. Das gelte auch dann, wenn der Staat für seine Aufgabenwahrnehmung auf das Zivilrecht zurückgreife. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung ins Privatrecht, um Artikel 1 GG zu umgehen, sei ihm verstellt. Das treffe für alle Unternehmen zu, die ganz oder mehrheitlich von der öffentlichen Hand beherrscht würden. In solchen Fällen handele es sich nicht um „private Aktivitäten unter Beteiligung des Staates, sondern um staatliche Aktivitäten unter Beteiligung von Privaten“. Demgegenüber unterlägen private oder mehrheitlich privat beherrschte Unternehmen einer solchen unmittelbaren Grundrechtsbindung nur dann, wenn sie „in eine vergleichbare Pflichten oder Garantenstellung hineinwachsen wie der Staat“. Das könne beispielsweise, um die Kommunikationsfreiheit zu schützen, im Post und Telekommunikationsbereich der Fall sein.

Wo endet der öffentliche Raum?

Ein mehrheitlich in öffentlicher Hand befindliches Unternehmen wie Fraport ist demnach gehalten, am Flughafen die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Laut Artikel 8 GG impliziert die Versammlungsfreiheit, dass die Bürger selbst entscheiden können, wo wann und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen könnten. Allerdings müssen dem Urteil zufolge die Orte, für die das gilt, dem allgemeinen öffentlichen Verkehr zugänglich sein. Wobei die Richter eine zeitgemäße Fassung des öffentlichen Raumes formuliert haben. Sei damit traditionell der öffentliche Straßenraum gemeint gewesen, so seien längst weitere öffentliche Märkte wie Einkaufszentren, Ladenpassagen etc. hinzugekommen, die nach dem „Leitbild des öffentlichen Forums“ bestimmt werden müssten, wo eine Vielzahl von Tätigkeiten und Anliegen verfolgt würden. Solche Verkehrsflächen könnten, sofern eine unmittelbare Grundrechtsbindung bestehe, nicht von der Versammlungsfreiheit ausgenommen werden. Infolgedessen hätten Bürger dort auch das Recht, „das Publikum mit politischen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Konflikten und sonstigen Themen zu konfrontieren“, was zur Grundlage demokratischer Willensbildung gehöre. Das gelte auch für die vom Unternehmen selbst geschaffene Konsum- und Flaniermeile „airport city“. Trotz der erheblichen Bedeutung, die der „Sicherheits- und Funktionsfähigkeit“ des Flughafens zukomme, könnten Grundrechtseinschränkungen nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit legitimiert werden, wozu z. B. die Abwehr konkreter Gefahren gehöre. Das Unternehmen könne allerdings in der Benutzungsordnung regeln, welche genau definierten Örtlichkeiten aus Sicherheitsgründen von der Versammlungsfreiheit ausgenommen seien und zudem festlegen, dass Versammlungen ihm vorher angezeigt würden. Spontan- und Eilversammlungen könne es jedoch so nicht verhindern. Ähnliche Prinzipien hat das Gericht hinsichtlich der Meinungsfreiheit formuliert, zu der das Verteilen von Flugblättern gehört. Anders als vom Flughafenbetreiber behauptet, bedarf es dafür nicht seiner vorherigen Erlaubnis. Dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechend können Grundrechtseinschränkungen nur durch anderweitige „gewichtige öffentliche Interessen“ legitimiert werden. „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers“ sei dagegen, so das Gericht unter Anspielung auf das Wohlbefinden von Flughafenpassanten, „kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf“.

Flughäfen bleiben die richtige Adresse

Mit seinem Urteil hat das BVerfG einen Meilenstein zur Sicherung der Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit gesetzt, dem insbesondere angesichts der zunehmenden Privatisierung staatlicher Einrichtungen beträchtliche Bedeutung zukommt. Was die Abschiebemaschinerie angeht, hat sich der rechtliche Spielraum dafür erweitert, am Tatort Flughafen Sand in ihr Getriebe zu streuen.

In der mündlichen Verhandlung äußerten Unternehmensvertreter die Befürchtung, dass bei einer Aushebelung ihres Hausrechts zugunsten einer unmittelbaren Grundrechtsbindung die „Flughäfen zu Haupt-Demonstrationsarenen der Republik“ werden könnten. Das wäre durchaus wünschenswert, wenn man in Betracht zieht, dass 90% aller Abschiebungen auf dem Luftweg erfolgen, davon noch immer mehr als ein Drittel vom Frankfurter Flughafen aus. Jedenfalls werden Abschiebegegner nach dem Urteil gern öfter der an die Besucher seiner Konsum- und Flaniermeile gerichteten Einladung des Flughafenbetreibers folgen: „Wir freuen uns auf ihren Besuch.“ So ist es jüngst Abschiebegegnern aus Frankfurt und München durch gemeinsame Aktionen an beiden Flughäfen in letzter Sekunde gelungen, gegen den verbissenen Widerstand der Bundespolizei, die Rückschiebung eines somalischen Flüchtlings nach Malta zu verhindern. In München musste jedoch auch jetzt wieder gegen ein Verbot des Landratsamts geklagt werden. Erst in zweiter Instanz hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Versammlungsverbot auf.

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