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Gesundheit als Indus­trie­pro­dukt? - Zur Einführung der elektro­ni­schen Gesund­heits­karte

Grundrechte-Report 2012, Seite 44

Seit 1. Oktober 2011 werden die ersten elektronischen Gesundheitskarten (eGK) ausgegeben, die nun ein Foto enthalten. Kritik und Protest hatte die Entwicklung der eGK begleitet, die bereits zum 1. Januar 2006 hatte eingeführt werden sollen. Die Ärztetage haben sich vier Mal in Folge gegen die Einführung der eGK ausgesprochen. Technische Probleme haben aber in erster Linie die Einführung verzögert. Die Karte, die nun ausgegeben wird, leistet zunächst dasselbe wie die bisherige Krankenversicherungskarte. Allerdings kostet diese Karte das Sechsfache, denn die Karte enthält einen Mikroprozessorchip, der die zukünftigen Anwendungen technisch ermöglichen wird und den Zugang zur Telematikinfrastruktur schafft. Die neuen „Fähigkeiten“ werden sukzessive ausgebaut werden – irgendwann werden dann die Gesundheitsdaten der Patienten auf zentralen Servern gespeichert werden können.

Den technischen Problemen in der Praxis stehen immer neue Ideen gegenüber, wofür die Karte außerdem genutzt werden könnte. Neben Notfalldaten, die immer ausgedehnter interpretiert werden, könnten auch die Bereitschaft zur Organspende und die Patientenverfügung mithilfe des Ausweises gespeichert werden. Auch eine Bezahlfunktion könnte die Karte erhalten. Schon lange ist die Rede von (kommerziellen) „Mehrwertdiensten“, die ermöglicht werden und das Interesse der Industrie wecken sollen.

Umbau des Gesund­heits­sys­tems

Mit der „kleinen schlauen Karte“ soll letztlich das Gesundheitssystem insgesamt umgestaltet werden. Ökonomische Interessen werden dominierend, das Arzt-Patienten-Verhältnis wird zunehmend davon bestimmt sein. Ärzte und Patienten sollen kontrollierbar werden, vorgegebene Normierungen sollen die Behandlung bestimmen. Der einzelne Patient wird mit seinen individuellen Problemen nicht mehr im Zentrum der Behandlungsentscheidungen stehen können, ökonomisches Kalkül wird eine immer größere Rolle spielen. Da das Vertrauensverhältnis zum Arzt, das Grundlage jedes Heilungsprozesses ist, angetastet wird, ist nicht nur die Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu befürchten, sondern auch die des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Angesichts von Datenlecks, rechtswidrigen Datensammlungen, gehackten Zugängen zu „sicheren“ Datenbanken müssen Zweifel an der technischen Sicherung von Gesundheitsdaten bestehen. Im Herbst 2011 wurde bekannt, dass die psychiatrischen Befunde und Gutachten, die von der Rendsburger Firma Rebus GmbH verwaltet werden, lange Zeit öffentlich einsehbar waren. Die Firma sagt: „Wir haben keine Erklärung, wie das passieren konnte. Wir haben alles getan, diese vertraulichen Daten zu sichern.“

Die Autonomie der Versicherten, wie auch die Vertrauensbeziehung zwischen Ärzten und Patienten sind gefährdet. Die Süddeutsche Zeitung brachte es im Kommentar zur Einführung der eGK auf den plausiblen Nenner: „Die Heilkunde wird nach und nach den Fertigungsprozessen der Industrie angepasst.“ Es wird so getan, als sei Gesundheit durch den technologisch- bürokratischen Austausch von Daten und die industrielle Datenverarbeitung herstellbar, als bedürfe sie nicht länger der Kommunikation zwischen Arzt und Patient.

Schon im Grundrechte-Report 2007 berichtete Julia Kühn kritisch über die Einführung der eGK. In sieben Testregionen sollten in einer ersten Stufe Feldtests mit ca. 10.000, daran anschließend Tests mit ca. 100.000 Versicherten stattfinden. Inzwischen haben die 10.000er Tests gezeigt, dass der Einsatz der Karte vor allem Probleme mit sich bringt. Patientenannahme, Erstellung von Notfalldatendateien und Übermittlung von Rezeptdaten kosteten vor allem viel Zeit oder funktionierten gar nicht; Patienten und Ärzte vergaßen ihre PIN-Nummern oder gaben falsche ein; Karten wurden deshalb gesperrt. Schnell kam der Vorschlag, die Arztpraxen könnten die PIN-Nummern – die ja der Sicherheit, Kontrolle und „Autonomie“ der Patienten dienen sollen – der Patienten verwalten. Ungeklärt blieb, wer die PIN-Nummern der Ärzte verwalten könnte. Die schlechten Ergebnisse führten zu der Entscheidung, die vorgeschriebenen 100.000er Tests auszusetzen und stattdessen die Karten einzuführen.

„Heimliche“ Geset­zes­än­de­rungen

Angesichts der vielen Probleme erhöhte die Bundesregierung den Druck auf die Krankenkassen, die Karte einzuführen. Die Privaten Krankenkassen hatten sich längst aus dem Projekt verabschiedet. In kurzer Abfolge wurden in den Jahren 2010 und 2011 gesetzliche Änderungen eingeführt:

  • Im Juni 2010 ergänzte der Bundestag während der abschließenden Lesung des „Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften“ die Pflichtfunktionen der eGK um das „Versichertenstammdatenmanagement“. Die Ärzte sollen bei jedem ersten Besuch eines Patienten im Quartal online die auf der eGK gespeicherten Stammdaten mit der Krankenkasse abgleichen. Dies verlagert eine weitere Verwaltungsarbeit zu den Arztpraxen. Verräterisch ist insbesondere, dass den Ärzten die Ausstattung hierfür nur erstattet werden soll, wenn zugleich das Praxisverwaltungssystem mit den Behandlungsdokumentationen geöffnet wird. Damit wird deren Speicherung auf zentralen Servern vorbereitet. Am 5. Dezember 2011 hat die gematik, die Gesellschaft für Telematikanwendungen der eGK,  beschlossen, diese Anwendung wie auch die qualifizierte elektronische Signatur im Jahr 2012 einzuführen.
  • Im November 2010 führte der Bundestag im Rahmen des „GKV-Finanzierungsgesetzes“ die Regelung ein, dass im Jahr 2012 jeder Krankenkasse, die bis Ende 2011 nicht mindestens 10 Prozent ihrer Versicherten mit der eGK ausgestattet hat, das Budget für Verwaltungsausgaben gegenüber dem von 2011 um 2 Prozent gekürzt wird. Wiederum wurde die Änderung per Änderungsantrag zur abschließenden Lesung und ohne Diskussion eingeführt. Der Druck auf die Krankenkassen führt indirekt zu einem entsprechenden Druck auf Ärzte und Patienten.
  • Im Januar 2011 wurde die Testverordnung geändert. Von präzise definierten Teststufen ist jetzt nicht mehr die Rede, insbesondere nicht mehr von den bislang noch gar nicht gelaufenen „100.000er“-Tests. Es wird nur noch verlangt, dass die Anwendungen in realen „Versorgungsumgebungen (Feldtests)“ erprobt werden sollen.
  • Am 1. Dezember 2011 entschied der Deutsche Bundestag über das GKV-Versorgungsstrukturgesetz, bei dem es eigentlich um ärztliche Honorare und Bedarfsplanung geht. Wiederum wurde nachträglich ein Änderungsantrag eingefügt, der klammheimlich wiederum den Druck zur Einführung der eGK erhöht: „Bei Krankenkassen, die bis zum 31. Dezember 2012 nicht an mindestens 70 Prozent ihrer Versicherten elektronische Gesundheitskarten nach § 291a Sozialgesetzbuch V (SGB V) ausgegeben haben, dürfen sich die Verwaltungsausgaben im Jahr 2013 gegenüber dem Jahr 2012 nicht erhöhen.“ (Drucksache 17/8005)

Datenschutz per Freiwil­lig­keit?

Immer wieder wird behauptet, die informationelle Selbstbestimmung der Versicherten läge darin begründet, dass sie völlig freiwillig über die Datenspeicherung entscheiden könnten. Sie entscheiden, was der Arzt speichert und wem dies zugänglich gemacht wird. Diese Argumentation übersieht völlig die Lage von Patienten und die Kommunikationssituation im Arzt-Patienten-Verhältnis. Ein Kranker hat andere Probleme, als sich darüber Gedanken zu machen, welche Daten wo gespeichert werden und welche Rückschlüsse sie zulassen. Er ist vor allem auf ein Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt angewiesen. In der Regel wird er der Empfehlung seines Arztes folgen. Der Arzt aber kann sich nicht auch noch die Zeit nehmen, Fragen des Datenschutzes mit seinem Patienten lange zu erörtern und wird bei mehrmaligen Veränderungen der Entscheidung eher genervt sein müssen.

Die gesamte teure Infrastruktur wird sich ohnehin nur auszahlen, wenn alle bei der Speicherung von Gesundheitsdaten mitmachen. Anreize werden geschaffen werden. Notfalls wird man die Versichertenrechte beschneiden.

Literatur

Steven, Elke u.a.: Digitalisierte Patienten – verkaufte Krankheiten, hrsg. vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln 2011

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