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Streik in der Kirche?

Grundrechte-Report 2012, Seite 113

Nach Artikel 140 des Grundgesetzes gelten die Artikel 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung (WRV) hinsichtlich des Status der Religionsgesellschaften fort, und nach Artikel 137 Absatz 3 WRV „ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Aus diesem Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften hat die herrschende Meinung ein besonderes kirchliches Arbeitsrecht abgeleitet, da etwa die Kirche selbst bestimmen können müsse, aus welchen Gründen sie Arbeitnehmer/innen kündigt (etwa bei Kirchenaustritt oder bei Heirat eines geschiedenen Partners). Zu diesem Selbstverständnis der Kirchen soll es auch gehören, dass in ihrem Bereich Streik ausgeschlossen ist. Bei dieser herrschenden Meinung blieb unberücksichtigt, dass das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften nach Artikel 137 Absatz 3 WRV doch nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gewährt ist und dass nach Artikel 136 Absatz 1 WRV „die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“ werden dürfen. Das Recht des Arbeitnehmers auf seinen Arbeitsplatz wird jedoch ersichtlich beschränkt, wenn der kirchliche Arbeitgeber aus religiösen Gründen Sonderkündigungsrechte in Anspruch nehmen und Streiks verbieten kann.

Das „kirchliche Arbeits­recht“ kommt in Bewegung

Allmählich kommt in dieses „kirchliche Arbeitsrecht“ Bewegung. So ist bereits im Grundrechte-Report 2003 (S. 190 ff.) darüber berichtet worden, dass die Nordelbische Kirche im Steuerrecht die Auffassung vertrat, an das Gleichbehandlungsgebot in Artikel 3 GG nicht gebunden zu sein wegen ihres Rechts auf eigenständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten und dass das Bundesverfassungsgericht dem entgegengetreten ist. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf fand im Urteil vom 1. Juli 2010 einen Weg, die Kündigung eines Chefarztes durch die Katholische Kirche wegen Wiederverheiratung nach Scheidung für unwirksam zu erklären, weil sie unverhältnismäßig sei (Grundrechte-Report 2011, S. 78 ff.; bestätigt vom Bundesarbeitsgericht am 8. September 2011, Az. 2 AZR 543/10). Nunmehr haben auch die Landesarbeitsgerichte Hamm (13.1.2011, Az. 8 Sa 788/10) und Hamburg (23.3.2011, Az. 2 Sa 83/10) entgegen der von den Kirchen vertretenen Auffassung den Streik in kirchlichen Institutionen für (teilweise) zulässig erklärt. Die Revision wurde in beiden Fällen zugelassen.

In den Verfahren, die vor den Landesarbeitsgerichten Hamm und Hamburg verhandelt wurden, wollte die Evangelische Kirche den Gewerkschaften verbieten, mit Streiks tarifvertragliche Regelungen zu erzwingen. Ein Streik im kirchlichen Dienst verstoße gegen kirchliche Grundsätze: Die „christliche Dienstgemeinschaft“ würde durch einen Arbeitskampf gesprengt. Anders als bei „normalen“ Arbeitgebern, bei denen das Arbeitsverhältnis durch den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital geprägt sei, handele es sich bei der Arbeit in kirchlichen Institutionen wie Krankenhäusern, Kindergärten, Altenheimen usw. um „Arbeit im Weinberg des Herrn“. Ein Arbeitskampf verhindere den christlichen „Dienst am Nächsten“ und verstoße daher gegen das Recht der Kirchen, nach Artikel 137 Absatz 3 WRV ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln. Insoweit werde die Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 3 GG, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch den Arbeitskampf beinhaltet, durch das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen beschränkt.

Das LAG Hamm fand in seiner Entscheidung einen Mittelweg zwischen den Interessen der Kirche und der Gewerkschaften. Zwar sei der von den Kirchen reklamierte „Dienst am Nächsten“ religiös bestimmt und durch das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen geschützt, so dass insoweit ein Arbeitskampf ausgeschlossen sein müsse; dies beschränke sich aber bei Krankenhäusern auf Ärzte und Krankenpflege und beziehe nicht die Verwaltung, die Küche, die Reinigung, die Abrechnung mit Kassen usw. mit ein. Es müsse differenziert werden zwischen den Kern- und Randbereichen kirchlicher Tätigkeit, so dass nicht pauschal – wie von den Kirchen beantragt – den Gewerkschaften jeder Streik in kirchlichen Institutionen untersagt werden dürfe.

Die allgemeinen Gesetze gelten auch für die Kirchen

Das LAG Hamburg ging konsequent weiter. Das Recht der Religionsgesellschaften, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, gilt nach Artikel 137 Absatz 3 WRV nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Das Koalitionsrecht nach Artikel 9 Absatz 3 GG, welches das Arbeitskampfrecht umfasst, ist ein solches allgemeines Gesetz und gilt folglich auch im kirchlichen Bereich. Nicht nur der kirchliche „Dienst am Nächsten“ erfordert, dass eine dringende ärztliche Behandlung nicht durch Streik verhindert werden darf, sondern natürlich gilt dies genauso in weltlichen Krankenhäusern; in beiden Fällen werden nach dem allgemeinen Arbeitskampfrecht Notdienste vom Streik ausgenommen. Eine Sonderregelung für die Kirchen ist nicht erforderlich und im Rahmen der auch für sie geltenden allgemeinen Gesetze nicht von der Verfassung geboten.

Es bleibt zu hoffen, dass nun endlich auch Bundesarbeits-  und   verfassungsgericht ihre alte Rechtsprechung überprüfen und den Verfassungsauftrag ernst nehmen, dass auch die Kirchen – nach dem Staat der größte Arbeitgeber – das allgemeine Arbeits- und Arbeitskampfrecht anzuwenden haben. Etwas anderes ist aus Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung nicht abzuleiten.

Literatur

Kühling, Jürgen, Arbeitskampf in der Diakonie, in: Arbeit und Recht 2001, S. 241 ff.

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