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Verstoß gegen die Humanität - Keine Kranken­h­aus­be­hand­lung mehr für schwer­kranke alte Menschen?

Grundrechte-Report 2012, Seite 148

Der SPIEGEL machte den folgenden Fall in seiner Ausgabe 39 des Jahres 2011 publik:

Frau X., 87 Jahre, kommt mit Herzbeschwerden und Atemnot mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus. Eine schwere Herzinsuffizienz, eine Verstopfung der Aorta und ein Hochdruck in den Schlagadern werden festgestellt. Die Erkrankung führt zu einem Delir („Psychosyndrom“). Frau X wird im Krankenhaus fünf Tage behandelt und stirbt trotz ärztlicher Bemühungen. Soweit trauriger Klinik-Alltag.

Allgemein beachtenswert macht diesen Fall allerdings das Verhalten der Krankenkasse von Frau X. Sie verweigert die Begleichung der Kosten des Krankenhauses in Höhe von 2.492,39 Euro mit dem Argument, es habe keine Indikation bestanden, Frau X. stationär im Krankenhaus aufzunehmen. Frau X. sei „zum Sterben“ ins Krankenhaus gekommen. Man habe medizinisch – im Nachhinein betrachtet – nichts mehr für sie tun können und hätte sie zum Sterben in ein Hospiz abschieben müssen.

Das Sozialgericht Hannover, von dem Krankenhausträger im Rechtsstreit mit der Krankenkasse eingeschaltet, findet im Urteil vom 28. April 2010 deutliche Worte. Es erscheine „nicht nur inhuman, sondern geradezu verwerflich, eine Patientin mit Herzbeschwerden und Luftnot unter Hinweis auf den ohnehin bevorstehenden Tod nicht in die Krankenhausbehandlung aufzunehmen“.

Wohl wahr. Das Verhalten der Krankenkasse ist anders nicht zu beschreiben. Zumindest das Humanitätsgebot des § 70 Absatz 2 Sozialgesetzbuch V (SGB V) hat die Kasse grob missachtet: „Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken“.

Einzelfall oder Methode?

Ein Einzelfall? Das ist zweifelhaft. Man mag zunächst denken: Es ging ja letztlich nicht darum, ob nun konkret eine Behandlung vorgenommen oder verweigert wird. Doch bedeutet diese Haltung der Krankenkasse nicht generell, dass alten Menschen mit Herzbeschwerden und Luftnot oder anderen Beschwerden, die ein Überleben fraglich erscheinen lassen, nur noch ein Platz zum Sterben zugewiesen wird? Oder hat nicht vielmehr der – unbekannt bleibende – Sozialrichter Recht, der hier von „kalter Euthanasie“ spricht? Es hat sich auch nicht um eine dumme, unüberlegte Aktion eines einzelnen Sachbearbeiters gehandelt, denn die Krankenkasse legte gegen das sozialgerichtliche Urteil auch noch Berufung ein. Indes wird in der Sozialgerichtsbarkeit und von Krankenhausträgern immer wieder beklagt, dass die Krankenkassen zunehmend und rigoros die Erstattung von Behandlungskosten verweigern, weil eine Behandlungsindikation nicht vorgelegen habe. So haben zum Beispiel in Bayern die Krankenhausträger 1400 Klagen gegen die Krankenkassen mit eben diesem Hintergrund eingereicht. Selbstverständlich geben die Kostenträger indirekt vor, in welchem Umfang eine Krankenhausbehandlung tatsächlich stattfindet. Bislang konnte davon ausgegangen werden, dass im Zweifel für eine Behandlung optiert wird. Macht dieses Beispiel Schule, könnten bestimmte „Risikogruppen“ von einer ärztlichen Versorgung ausgenommen werden; sie kommen dann im Zweifel „nur zum Sterben“. Führt man sich vor Augen, dass das Bundesversicherungsamt harsche, kritische Töne anschlagen musste, um das „Abwimmeln“  von Versicherten der geschlossenen „City-BKK“ zu beenden, so wird deutlich, dass die Krankenkassen längst nicht mehr zum Wohle der Versichertengemeinschaft agieren. Es besteht der Eindruck, dass Menschen, die „schlechte Risiken“ darstellen, als  wirtschaftlich untragbar aus der Behandlung herausfallen können. Mag es strukturelle oder „zeitgeistige“ Gründe haben, für die betroffenen Versicherten ist das einerlei. Zwar müssen auch die Krankenhäuser weiter kritisch betrachtet werden, es besteht aber genug Anlass, den Kassen sehr genau auf die Finger zu sehen.

Im Zweifel behandeln!

Nicht nur die medizinische Ethik, sondern auch die Menschenwürde gebietet es, dass zunächst einmal versucht wird, ein noch so geschwächtes Leben zu retten und zumindest Leiden zu lindern.
Müssen die Krankenhäuser damit rechnen, dass dies künftig bei angeblich todgeweihten Menschen nicht mehr finanziert werden soll, findet Humanität im Krankenahaus auch insoweit nur noch eingeschränkt statt. Im Zweifel eben „sozialverträgliches Frühableben.“
Späte Einsicht: Die Krankenkasse hat inzwischen die Berufung gegen das Urteil des SG Hannover zurückgenommen.

Literatur

Sozialgericht Hannover Urteil – 28.04.2010 – S 19 KR 961/08

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