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Das Recht auf körperliche Unver­sehrt­heit gilt auch bei Begegnungen mit der Polizei

Grundrechte-Report 2013, Seite 64

Im Jahr 2012 wurde Bayern von Meldungen in den Medien überschwemmt, in denen von massiver Polizeigewalt berichtet wurde, von Übergriffen auf Bürger und Bürgerinnen; sich anschließende Gerichtsverhandlungen wurden aber dann in der Regel nicht gegen Polizeibeamte, sondern gegen die Betroffenen geführt.
Nicht nur bei Versammlungen und Demonstrationen kommt es zu massiven Polizeieinsätzen, in denen grundlose und regelmäßig Gewalt angewendet wird, sondern auch gegen Einzelpersonen im Alltag geht die Polizei immer rabiater vor.

In Pfaffenhofen, einem beschaulichen Ort in Oberbayern, klingeln Polizeibeamte in Zivil an der Tür und wollen Auskunft über einen Mieter im Haus. Als die Befragung nicht das gewünschte Ergebnis bringt, werden die Polizeibeamten gewalttätig. Am Ende sind vier Nachbarn zum Teil massiv verletzt.

In München wird von einem Hauseigentümer wegen die Polizei gerufen; die Mieter im ersten Stock stören schon lange. Es kommt dann nicht nur ein einfacher Streifenwagen, sondern ein komplettes Team des Unterstützungskommandos (USK), polizeiliche Spezialkräfte der bayerischen Polizei, das den gesamten Einsatz aufzeichnet. Der geistig behinderte Sohn der Familie, der die in voller Kampfmontur angerückte Spezialeinheit mit einer Computermaus bewerfen will, wird ebenso brutal zu Boden gebracht wie die Mutter und der blinde Vater. Auf dem Video sind Schmerzensschreie und Weinen zu hören. Zu sehen ist ein brutales Vorgehen der Polizeibeamten. Am Ende liegen 3 Personen gefesselt und verletzt am Boden.

Eine vereidigte Dolmetscherin erscheint auf der Polizeidienststelle am Münchener Hauptbahnhof, um für Landsleute, die eine Anzeige gegen einen Messerstecher erstatten wollen,  zu übersetzen. Der Dolmetscherin wird unterstellt, sie wisse, wer der Täter der Messerstecherei sei und wolle ihr Wissen nicht preisgeben, um damit seine Bestrafung zu verhindern. Sie wird in einem nicht einsehbaren Nebenraum festgehalten, nicht zur Toilette gelassen, bis sie sich einnässt, und mit dem Kopf drei Mal an die Wand geknallt. Dabei erleidet sie multiple Verletzungen.

Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Das Bemerkenswerte in diesen Fällen ist, dass nicht, wie es das gesunde Rechtsempfinden vermuten ließe, die rabiaten Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt angeklagt und verurteilt werden, sondern es werden Anzeigen wegen Widerstand, Beleidigung, Körperverletzung gefertigt; die Opfer werden zu Tätern gemacht. Ermittlungsverfahren gegen die Beamten werden eingestellt.

Das Verfahren gegen die Pfaffenhofener Nachbarn wird nach einer mehrtägigen Hauptverhandlung eingestellt, die Gerichts- und Anwaltskosten tragen die Angeklagten.

Auch gegen die Mutter des behinderten Jungen wird das Verfahren eingestellt, der Vater aber wegen Widerstands verurteilt. Das Gericht ist der Auffassung, das Vorstrecken seiner Arme in Richtung der Polizeibeamten sei eine Widerstandshandlung. Dass dies der Orientierung eines blinden Menschen dienen könnte, hält das Gericht für nicht nachvollziehbar.

Gegen die Dolmetscherin wird ein Verfahren wegen Körperverletzung, Beleidigung und versuchter Strafvereitelung eingeleitet. Im Rahmen der mehrtägigen Hauptverhandlung sagen vier Polizeibeamte übereinstimmend aus, die ältere Dame sei aus unerklärlichen Gründen aus eigenem Antrieb schwungvoll mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen. Die Gerichtsmedizinerin stellt dann allerdings fest, dass die gut dokumentierten Verletzungen nicht mit den Erklärungen der Polizeibeamten in Einklang zu bringen sind. Erst dann wendet sich das Blatt und das Verfahren gegen die Dolmetscherin wird eingestellt – diesmal auf Kosten der Staatskasse. Die Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt bleiben eingestellt, allerdings müssen sie nun mit einer Anklage wegen Falschaussage rechnen. Die Dolmetscherin ist immer noch traumatisiert.

Dies sind nur einige herausragende Beispiele. Hinzu kommen Vorwürfe wegen massiver Gewaltanwendung von Polizeibeamten bei Demonstrationen, bei Polizeikontrollen und Fußballspielen.

Die Dunkel­ziffer ist hoch

Daneben ist eine große Dunkelziffer zu vermuten: Drogenabhängige, alkoholisierte Menschen, AusländerInnen mit Sprachschwierigkeiten, sie alle werden sich in der Regel nicht bei der Polizei, von der sie misshandelt wurden, über die Polizei beschweren, in dem naiven Glauben, dass sie dort Gerechtigkeit erfahren. Auch die berechtigte Angst vor Gegenanzeigen der Polizei lässt viele Betroffene auf eine Anzeige verzichten. Denn regelmäßig folgt eine Anzeige wegen Körperverletzung, Widerstand, Beleidigung auf eine Anzeige gegen Polizeibeamte und  – nachdem dann das Verfahren gegen die Beamten eingestellt wird – wegen falscher Verdächtigung. Sichtbar wird also nur die Spitze eines Eisbergs.

Polizeiübergriffe in Bayern haben eine lange Tradition: Von den Schwabinger Krawallen 1962 über den Münchner Kessel 1992 bis zu den Einsätzen bei der jährlich stattfindenden  sog. „Sicherheitskonferenz“ sind sie an der Tagesordnung. Kommentiert wurden Gewaltexzesse der Polizei 1992 vom damaligen Ministerpräsidenten Max Streibl so:

„Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern anlegen und er muss stören, dass wir dann auch manchmal etwas härter hinlangen oder durchgreifen, das ist auch Bayerische Art“.

Die „Bayerische Art“ als Rechtfertigung für gewalttätige Polizeiübergriffe ist allerdings inzwischen immer weniger vermittelbar. Vor allem die massive Häufung der Vorfälle im letzten Jahr und die immer kritischer berichtende Presse zwingen zu einer anderen Betrachtungsweise – von Lösungsansätzen ist man allerdings noch weit entfernt.

Zunächst wird Polizeibeamten, die die Gewalttaten bestreiten, regelmäßig geglaubt, denn Aussagen von Polizeibeamten, egal ob als Zeugen oder Beschuldigte,  genießen bei Staatsanwaltschaft und Gericht besondere Glaubwürdigkeit.

Bereits bei der Erstellung der polizeilichen Einsatzberichte gibt es Absprachen zwischen den beteiligten Beamten. Korpsgeist und Gruppenzwang, falsch verstandene Solidarität und Angst vor Mobbing führen zu einer „Mauer des Schweigens“.

Ermittelt wird dann auch von Polizeibeamten gegen Polizeibeamte, gegen Kollegen, mit denen man ansonsten zusammen arbeitet, die man womöglich schon seit Jahren kennt. Auch die Staatsanwaltschaft, die über eine Anklageerhebung entscheidet, steht zur Polizei in einem besonderen Näheverhältnis. Und wenn es wirklich einmal eng wird für die Polizeibeamten, sind sie im Zweifel nicht erkennbar, denn Namens- oder Nummernschilder brauchen sie in Bayern nicht zu tragen. Die Polizei wünscht sich eine Unantastbarkeit im rechtsfreien Raum und wird politisch durch die in Bayern herrschende CSU blind unterstützt.

Tobias Singelnstein, Professor an der Freien Universität Berlin, hat eine Vielzahl von Verfahren ausgewertet: 2008 wurden bundesweit 2314 Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet, bei 94 Beamten wurde ein Strafverfahren durchgeführt, lediglich in 32 Fällen führte dies zu einer Verurteilung. Auch in den Folgejahren haben sich die Zahlen nur geringfügig verändert.

Wenn der Innenminister seiner Polizei einen guten Dienst erweisen wollte, dann würde er für eine lückenlose und intensive Aufklärung, so dass sich jeder Beamte für sein Handeln verantworten muss, dass er nicht mit der Solidarität, dem Stillschweigen und der Deckung durch die Kollegen und Vorgesetzten rechnen darf. Doch die Umsetzung der politischen Ideologie in der „Ordnungszelle Bayern“, deren essentielle Grundlage eine unfehlbare und unangreifbare Polizei ist, verhindert nachhaltig eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Missständen.

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