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Kinder in Not und ohne Zukunft - Unbeglei­tete minder­jäh­rige Flüchtlinge in Deutschland

Grundrechte-Report 2013, Seite 151

Im Morgengrauen fielen zwei Kinder mit einer Plastiktüte in der Hand auf der Autobahnraststätte auf. Die Polizei wurde verständigt. Haile, 12 und Miriam, 13 Jahre alt, sind zwei äthiopische Flüchtlingskinder, zwei von 2.126, die 2011 nach Deutschland kamen. Sie hatten Glück, weil sie nicht „im Zusammenhang mit einem Grenzübertritt“ aufgegriffen wurden – sonst hätte ihnen die Rückschiebung gedroht, wenn ein europäischer Transitstaat festgestellt worden wäre. So wurden sie in ein Kinderheim gebracht, erhielten in der Folge einen Vormund und kamen ins Asylverfahren. Am Anfang waren die Kinder völlig verstört, die Anhörung musste abgebrochen werden. Später kam heraus, dass ihr Vater einer oppositionellen Gruppe angehört hatte und deshalb ins Gefängnis gekommen war. Dort sei er wohl gestorben. Näheres wussten die Kinder nicht. Später seien Sicherheitskräfte zur Mutter gekommen und hätten diese bedrängt. Eines Tages hätte sie dann gesagt, sie müssten jetzt tapfer sein, weil sie weg müssten. Die Mutter komme dann nach. Ein Mann habe sie per Flugzeug nach Europa gebracht, wo sie schließlich am Rastplatz ausgesetzt wurden.

Schutz für unbeglei­tete minder­jäh­rige Flücht­linge?

Natürlich glaubte man die Geschichte nicht: Die Kinder hätten doch mehr über die oppositionellen Aktivitäten des Vaters wissen müssen, über seinen Tod und überhaupt seien die Kinder doch des besseren Lebens willen weggeschickt worden, so explizit die Richterin im Verwaltungsstreitverfahren. Dieses Argument hört man auch, wenn die Kinder aus Afghanistan kommen oder aus einem Bürgerkriegsland aus Afrika. Vorurteilen kann man nur schwer begegnen und erst recht dann nicht, wenn sie als richterliche Überzeugung tituliert sind und es keine Beweise gibt, sie zu widerlegen. Gleichviel erhielten Kinder bis vor kurzem in Deutschland wenigstens den sogenannten „subsidiären Schutz“, wenn im Herkunftsstaat Krieg oder bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen oder sonstige Gefahren für Leib und Leben bestehen, denen allein stehende Kinder nicht standhalten könnten. Deutschland gewährte Abschiebungsschutz in analoger Anwendung des § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG. Dafür, dass eine Analogie nötig ist, ist das restriktive deutsche Gesetz verantwortlich. An sich nämlich verspricht § 60 Absatz 7 Satz 1AufenthG jedem Ausländer, dem im Falle einer Rückkehr eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit droht, Schutz. Wenn jedoch die Gefahr der Bevölkerung insgesamt oder einer Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, droht, soll dieser Schutz nach dem Willen des Gesetzgebers nicht greifen; vielmehr soll dann eine Anordnung nach § 60a Absatz 1 Satz 1 AufenthG durch die oberste Landesbehörde ergehen. Solche Regelungen gibt es aktuell nicht, weshalb der Einzelne schutzlos gestellt wäre. Dem begegnet die Rechtsprechung bei so genannten „extremen Gefahrenlagen“ durch eine analoge Anwendung der Schutznorm. Bei unbegleitenden minderjährigen Kindern, die in unsichere Herkunftsstaaten zurückgeschickt werden sollten, wurde dies bislang durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Gerichte bejaht. Sie erhielten Schutz.

Europäische Schutz­re­ge­lung in Gegenteil verkehrt

Der europäische Gesetzgeber hat in der sog. Rückführungs-Richtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008) unbegleitete Minderjährige als „schutzbedürftige Personen“ definiert und in Artikel 10 eine Sonderregelung für ihre „Rückkehr und Abschiebung“ festgeschrieben. Nach Artikel 10 Absatz 3 der Richtlinie müssen sich die Abschiebebehörden vor der Abschiebung eines unbegleiteten Minderjährigen vergewissern, dass dieser einem Mitglied ihrer Familie, einem Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden.
Das 2. Richtlinien-Umsetzungsgesetz hat diese Bestimmung weitgehend wortgleich in § 58 Absatz 1a AufenthG umgesetzt.
So erfreulich dies auf den ersten Blick erscheint, so unerfreulich ist die Reaktion des BAMF, denn die der Norm zugrunde liegenden Schutzabsichten wendet es ins Gegenteil. Das BAMF argumentiert, wegen dieser Bestimmung seien unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgrund ihrer Minderjährigkeit nicht mehr schutzbedürftig, denn sie dürften ja erst dann abgeschoben werden, wenn die Eltern oder sonst sorgeberechtigte Personen oder eine geeignete Jugendhilfeeinrichtung gefunden seien. Wenn und solange dies nicht der Fall ist, blieben sie in Deutschland. Ein Schutzanspruch analog § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG wird abgelehnt; gewähren Gerichte einen solchen Schutz, geht das BAMF ins Rechtsmittel. Eine höchstrichterliche Entscheidung steht noch aus.

Diese Auslegung ist inakzeptabel und führt im Ergebnis zu einer Verletzung der Rechte der Kinder und Jugendlichen aus Artikel 2 Absatz 1 GG und der UN-Kinderrechtskonvention. Denn sie bedenkt nicht die Folgen der neuen Praxis. Das Wohlergehen eines Menschen wird nicht allein durch materielle Bedingungen bestimmt. Insbesondere das Kindeswohl verlangt die Schaffung eines Umfeldes, das der psychischen und seelischen Situation  eines Kindes gerecht wird. Elternlose Kinder brauchen einen Schutzraum und besondere Betreuung und Fürsorge. Erst recht gilt dies für Flüchtlingskinder, die ihre Eltern oft unter dramatischen Umständen verloren haben und auf der Flucht regelmäßig schwierigsten Umständen – eingesperrt in Containern, zusammengepfercht auf Schlauchbooten und bedroht durch Übergriffe Erwachsener – ausgesetzt waren. Nicht wenige von ihnen sind deshalb traumatisiert. Die Schaffung eines stabilen Umfeldes und einer einigermaßen verlässlichen Zukunftsplanung hat daher bei Flüchtlingskindern erste Priorität. Dies sind die Grundbedingungen zur Überwindung der erlittenen Verluste und vorhandener Traumata, zur Festigung und Entwicklung der Persönlichkeit, zur Schaffung von Lernbereitschaft in Schule und Beruf und auch zur Integration.

Bundesamt lehnt ab

Die bisherige Anerkennungspraxis des BAMF lieferte hierfür eine Grundlage: Die Kinder und Jugendlichen wussten sich zunächst in Sicherheit, erhielten Aufenthaltserlaubnisse und konnten sich auf ihre Zukunft konzentrieren. Die neue Praxis verkehrt dies ins Gegenteil. Mit der Ablehnung des Schutzanspruches durch das BAMF ergeht eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung. Die Kinder erhalten, schriftlich, „beschlossen und verkündet“ und förmlich zugestellt, einen Bescheid, dass sie nach Ablauf der 30-tägigen Ausreisefrist abgeschoben werden. An dieser Wahrheit und Verbindlichkeit ändert auch der gesetzliche Aufschub des § 58 Absatz 1a AufenthG nichts. Er gewährt keine Sicherheit und nicht einmal eine Hoffnung, weil es jederzeit möglich erscheint, dass eine geeignete Aufnahmeeinrichtung gefunden wird. Hinzukommt, dass der Schutz ohnedies mit Erreichen des 18. Lebensjahres hinfällig wird. Jede Zukunftsperspektive ist ausgeschlossen, Hoffnungslosigkeit bestimmt die Gegenwart.

Aber auch die materiellen Bedingungen werden negativ beeinflusst: Rechtsfolge der Bundesamtsentscheidung ist die Verpflichtung zur Ausreise. Diese Pflicht kann lediglich vorerst nicht durchgesetzt werden. Deshalb erhalten die Kinder eine Bescheinigung „über die Aussetzung der Abschiebung“ (§ 60a Absatz 4 AufenthG), die unter der auflösenden Bedingung der Voraussetzungen des § 58 Absatz 1a AufenthG steht. Diese auf ein Bundesland begrenzte „Duldung“ wird, je nach Land, für einen oder für drei Monate höchstens aber für sechs Monate erteilt. Eventuell wird sie danach erneuert. Welcher Arbeitgeber stellt bei einer solchen Perspektive einen Auszubildenden ein, wer beschäftigt ihn mit einer höherwertigen Tätigkeit? Die Jugendlichen werden so ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Die vom BAMF aufgezeigte Möglichkeit eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 AufenthG zu erteilen, ist hingegen bloße Theorie. Zum einem braucht es hierfür gutwillige Ausländerbehörden, die das Ermessen zugunsten der Jugendlichen gebrauchen – die gibt es, aber sie sind die Ausnahme. Zum anderen verbietet das Gesetz die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wenn der Ausländer „verschuldet“ an der Ausreise gehindert ist. Bezweifelt man die Angaben des Kindes oder Jugendlichen, scheitert die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

UN-Kin­der­rechte missachtet

Die UN-Kinderrechtskonvention schreibt in Artikel 3 vor, dass das Kindeswohl bei allen Maßnahmen vorrangig zu beachten ist. Sie gewährt dem Kind nicht nur die ohnedies selbstverständlichen Rechte auf Leben, Freiheit oder Gesundheit, sondern gibt ihm das Recht, „Kind zu sein“ und seine Persönlichkeit zu entwickeln. Dieses Recht kann nicht unter dem Druck einer permanenten Ausreiseverpflichtung in Anspruch genommen und gelebt werden. Die geänderte Praxis des BAMF verletzt das Kindeswohl und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 GG). Beide gebieten es, einem Kind und Jugendlichen für den Zeitraum, in dem es sich im Geltungsbereich des Bundesgebietes aufhält, Lebensbedingungen zu schaffen, die den Genuss der Kinderrechte und damit die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen. Ein sicherer Aufenthaltsstatus ist hierfür die unverzichtbare Grundlage. Kinder brauchen eine Zukunft.

Unter dem Druck heftiger Proteste ist das BAMF einstweilen zur alten Praxis zurückgekehrt, bis das Bundesverwaltungsgericht in einem anhängigen Verfahren die Rechtsfrage geklärt hat. Es bleibt zu hoffen, dass der bürokratische Formalismus, der allein die Entscheidung des BAMF trägt, auf der Strecke bleibt und nicht das Kindeswohl.

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