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Nicht nur im (natio­nal­so­zi­a­lis­ti­schen) „Untergrund“ - Zwei bis drei rechte Gewalttaten täglich

Grundrechte-Report 2013, Seite 60

Seit der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im November 2011 und der nachfolgenden Auseinandersetzung mit dem eklatanten Staatsversagen im NSU-Komplex, konzentriert sich die Berichterstattung über rechte Gewalt fast ausschließlich auf den organisierten Rechtsterrorismus. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit bleibt die Tatsache, dass sich nichts geändert hat an dem „unerträglichen Zustand, dass wir täglich zwei bis drei rechte Gewalttaten in Deutschland haben“, so der Präsident des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke im Sommer 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Im Gegenteil: Die Militanz der Neonazibewegung, aber auch nicht in neonazistischen Strukturen eingebundener rassistischer Schlägerinnen und Schläger ist ungebrochen. Zentraler jedoch wirkt sich aus, dass Opfer rechter und rassistischer Gewalt noch immer mit der fatalen Mischung aus Ignoranz, Inkompetenz, Verharmlosung und Vertuschung bei Strafverfolgern und Justiz konfrontiert sind, die das Staatsversagen im NSU-Komplex im Zusammenspiel mit institutionellem Rassismus erst ermöglicht haben. Allen Sonntagsreden zum Trotz hat sich an diesem Zustand seit dem 4. November 2011 wenig geändert.

Ein Ausschnitt dieser Realität spiegelt sich in den Chroniken der spezialisierten, unabhängigen Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt wider, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin flächendeckend arbeiten können. Deutlich wird hier auch immer wieder eine mangelnde Bereitschaft, die normalen Instrumente der Strafverfolgung auch bei rassistischen und rechten Gewalttätern adäquat anzuwenden.

„Das habt ihr nun davon, ihr Ausländer“

„Wie kann jemand von hinten mit einem Schlagstock voller Wucht auf einen Menschen einschlagen“, fragt eine Zeugin eines rassistisch motivierten Angriffs auf vier palästinensische Familienmitglieder und deren palästinensische Freunde – darunter drei Kinder im Alter von zwei, sieben und zwölf Jahren – am 29. April 2012 in Lutherstadt-Eisleben (Sachsen-Anhalt). Ein Fall, in dem sogar sehr detaillierte Zeugenaussagen darüber vorliegen, wie mindestens drei u. a. mit einem Teleskopschlagstock und einem Schlagring bewaffnete Neonazis während des Eislebener Frühlingsfestes die migrantischen Familien völlig unvermittelt angegriffen. Mit dem Satz „Das habt ihr nun davon, Ausländer“ schlägt einer der Männer einen 32-jährigen Palästinenser mit einem Schlagring von hinten zu Boden. Der Mann „blutete aus jeder Pore, aus der Nase, aus dem Mund,“ so eine Zeugin. Weitere Rechte kommen hinzu und schlagen immer wieder gezielt auf den Kopf des am Boden Liegenden ein. Bei ihren Versuchen, dem 32-Jährigen zu helfen, werden auch sein Schwiegervater, dessen Freund und seine Ehefrau sowie seine Schwiegermutter angegriffen und verletzt. Letztere wird mehrfach so massiv mit ihrem Kopf auf den Fußboden geschlagen, dass sie das Bewusstsein verliert. Als ein Zeuge ihr helfen will, wird auch er geschlagen und verletzt. Auch die 22-jährige Verlobte wird von einem der Angreifer zu Boden getreten und dann weiter geschlagen und getreten. Ihr 32-jähriger Partner muss wegen seiner schweren Kopfverletzungen per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden, dort liegt er mehrere Tage im Koma.

An der Tatmotivation gab es sowohl für die unmittelbar betroffenen Familien als auch ZeugInnen angesichts rassistischer Parolen und einschlägiger politischer Statements auf T-Shirts und Jacken der Angreifer keine Zweifel: „Combat 18 – Time to talk is over, time for action is now“ lautete das Motto des T-Shirts, das einer der mutmaßlichen Täter offensiv zur Schau stellte. Combat 18 ist eine Ansammlung bewaffneter Zellen des in Deutschland seit dem Jahr 2000 verbotenen Neonazinetzwerks „Blood&Honour“; das Motto „Die Zeit zum Reden ist vorbei, jetzt ist es Zeit zu handeln“ verweist unter anderem auf den tödlichen Bombenanschlag auf einen Treffpunkt von Schwulen in London im Jahr 1999, mit dem Combat 18 schlagartig in der internationalen Neonaziszene zum Vorbild wurde.

Da es dem Schwiegervater gelungen war, den Hauptangreifer einzuholen und bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten, schien in Eisleben eine effektive Strafverfolgung zumindest möglich – auch wenn die Beamten vor Ort beispielsweise eine Augenzeugin einfach wegschicken wollten, ohne ihre Daten aufzunehmen. Tatsächlich nahmen Polizeibeamte einen18-jährigen polizeibekannten Neonazi mit Verdacht auf versuchten Totschlag fest. Doch trotz des Bewährungsversagens eines seiner mutmaßlichen Mittäter, der wegen eines einschlägigen Körperverletzungsdelikts unter Bewährung stand, detaillierter Zeugenaussagen zum Vorsatz der Angriffshandlungen und zur Bewaffnung der Täter, ordnete die Staatsanwaltschaft Halle die Freilassung des 18-Jährigen und seiner Mittäter an und führte die Ermittlungen fortan nur noch wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung. Auch ansonsten unterließen die Ankläger eigentlich selbstverständliche Ermittlungsschritte, so versäumten sie es, die Verletzungen der Betroffenen unmittelbar nach der Tat durch Gerichtsmediziner feststellen zu lassen. „Mein Mandant hat sein Leben vermutlich nur einem glücklichen Zufall zu verdanken,“ sagt der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der den verletzten Palästinenser vertritt. „Dennoch hat die Staatsanwaltschaft zu keinem Zeitpunkt Ermittlungen wegen eines versuchten Tötungsdelikts geführt.“

Verschlepptes Verfahren – verspieltes Vertrauen

Neun Monate lang versuchten Scharmer und die Rechtsanwälte der anderen Betroffenen vergeblich, die Staatsanwaltschaft Halle zu einer der Tat angemessenen Strafverfolgung zu bewegen. Eine Anklage war bis Mitte Dezember 2012 nicht in Sicht – obwohl das Jugendstrafrecht zumindest für den 18-jährigen Tatverdächtigen eine zeitnahe Strafverfolgung aus „erzieherischen Gründen“ nahe legt. Erst nachdem eine Reporterin der Süddeutschen Zeitung mit Recherchen in dem Fall begann und mehrfach beim Pressesprecher der Staatsanwaltschaft anfragte, kam es am 27. Dezember 2012 zur Erhebung einer Anklage – wegen gefährlicher Körperverletzung beim Amtsgericht Eisleben. Damit wird von vornherein auch der Strafrahmen festgelegt: nämlich maximal vier Jahre Haft. Die mutmaßlichen Täter hingegen fühlten sich durch die mangelnde Strafverfolgung offenbar derart ermutigt, dass sie Zeugen bedrohten. Die zum Teil erheblich traumatisierten Betroffenen haben mittlerweile aus Angst vor weiteren Angriffen Sachsen-Anhalt verlassen.

Wie groß der Vertrauensverlust unter Angehörigen von gesellschaftlichen Minderheiten in die Institutionen der Strafverfolgung seit dem Bekanntwerden des NSU-Komplexes tatsächlich ist, kann mangels einschlägiger Studien nur vermutet werden. Schon im Jahr 2009 hatte die Grundrechteagentur der Europäischen Union in einer ersten europaweiten Studie zu rassistischer Gewalt und Diskriminierung festgestellt, dass sich lediglich ein Fünftel der Betroffenen an die Polizei wandte. Jährlich blieben tausende Fälle rassistischer Gewalt, Bedrohung und Diskriminierung unsichtbar, lautet die Schlussfolgerung der EU-Grundrechteagentur. Mangelnde Strafverfolgung, Täter-Opfer-Schuldumkehr und das Leugnen möglicher rechter und rassistischer Tatmotive tragen jedenfalls erheblich dazu bei, Betroffene rassistischer und rechter Gewalt zu entmutigen. Von den (potenziellen) Tätern hingegen wird dieser Zustand als Freibrief für weitere rassistische Gewalt verstanden.

Literatur

Ramelsberger, Annette, „Akte Eisleben“, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2013

EU-MIDIS: European Union minorities and discrimination survey, abrufbar unter: http://fra.europa.eu/en/project/2011/eu-midis-european-union-minorities-and-discrimination-survey

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