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Piraten­-Recht?

Grundrechte-Report 2013, Seite 178

Anlässlich der Auslieferung der zehn Somalier aus den Niederlanden nach Deutschland im Juni 2010 titelte die Pressestelle der Staatsanwaltschaft, es sei der erste „Piraten-Prozess“ in Hamburg seit 400 Jahren. Aber da war kein Hauch von Störtebeker, Drake oder von „Fluch der Karibik“, als die dürren Gestalten in Hamburg ankamen.
Im November 2010 begann der Prozess vor dem Landgericht Hamburg. Am 19. Oktober 2012 – nach 105 Verhandlungstagen – wurden wegen Angriffs auf den Seeverkehr und erpresserischen Menschenraubs die drei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren, die Erwachsenen zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und sieben Jahren verurteilt. Das sei – so die mündliche Urteilsbegründung – eine angemessene Strafe für ein Verbrechen auf hoher See gegen ein Schiff, das unter deutscher Flagge gefahren ist. Zweck des Verfahrens sei es nicht gewesen, die Probleme vor der Küste Somalias zu lösen.

Festnahme im Indischen Ozean

Bis zu ihrer Festnahme durch niederländische Militärs auf dem deutschen Containerfrachter MS Taipan der Hamburger Reederei Komrowski am 5. April 2010 im Indischen Ozean lebten die zehn als Piraten angeklagten Männer in Somalia. Besser gesagt: sie vegetierten, kämpften täglich mit ihren Familien um das Überleben. Den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Somalias von der europäischen Kolonialherrschaft am 1. Juli 2010 verbrachten sie in deutschen Gefängnissen.

Nicht nur unter den Folgen des Kolonialismus leidet Somalia bis heute, sondern auch unter neuen ausländischen Plagen: international organisierte Fischereiflotten haben die Gewässer mit verheerenden Folgen für die heimischen Fischer intensiv illegal befischt. Wegen des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung seit dem Sturz Siad Barres wurden die somalischen Hoheitsgewässer seit 1991 kaum noch überwacht. Seit dieser Zeit wurde nach Angaben der UNO durch international operierende Unternehmen massiv Giftmüll vor der Küste verklappt. Arbeitslosigkeit und Krankheiten sind die Folgen. Über 20 Jahre Bürgerkrieg haben aus der Hauptstadt Mogadischu, einst die „Perle Afrikas“ genannt, einen Trümmerhaufen gemacht, aus weiten Teilen des Landes ein Schlachthaus. Kriege zwischen Clans und religiöse Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung. Der Alltag ist in Teilen des Landes apokalyptisch, die organisatorischen Strukturen der Staatsgewalt sind zerfallen. Somalia ist völkerrechtlich ein „failed state“, ein gescheiterter Staat, der seinen Bürgern keinerlei Schutz oder staatliche Wohlfahrt bietet. In diesem Land leben die Ärmsten der Armen.

Der Prozess in Hamburg hatte mittelbar eines der wesentlichen Probleme dieser Welt zum Gegenstand: den unendlichen Reichtum und die unendliche Armut – die Rechtsetzung der Reichen und die Unterwerfung der Armen unter diese Gesetzmäßigkeit. Man muss sich schon fragen, ob es angemessen sein kann, diesen Sachverhalt in die „normalen“ bundesdeutschen juristischen Vorgaben zu pressen.

„Uner­reich­bare“ Zeugen

Zwei der Angeklagten hatten im Prozess vorgetragen, nicht freiwillig an dem Überfall teilgenommen zu haben, sondern wegen ihrer besonderen Fähigkeiten – Maschinist und Dolmetscher – unter einem Vorwand bzw. unter Anwendung von Waffengewalt auf den Indischen Ozean verbracht worden zu sein. Das Gericht hat die gesetzliche Pflicht, die Beweisaufnahme auf alle bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken. Es hat auch für möglich gehalten, dass es in Somalia Entführungen zur Piraterie gibt. Von der Verteidigung wurde über Wochen für die Durchsetzung des Verfassungs- und Menschenrechts auf „rechtliches Gehör“ durch Ladung und Vernehmung eines in Somalia lebenden namentlich benannten Augenzeugen gestritten. Er war telefonisch erreichbar und bereit, vor dem Gericht in Hamburg auszusagen. Aber er hatte keinen Pass, kein Geld, keine nach europäischen Vorstellungen „ladungsfähige Adresse“. Obwohl der Kontakt zu dem Entlastungszeugen hergestellt werden konnte, entschied das Gericht, der Zeuge sei „unerreichbar“ im Sinne der deutschen Strafprozessordnung: auf „intakte staatliche Behörden“ und „ein funktionsfähiges Postwesen“ könne nicht zurückgegriffen werden, eine eindeutige Identifizierung des Zeugen sei per Telefonkontakt nicht möglich. Unabsehbare Verzögerungen des Prozesses seien zu befürchten, wenn dem Antrag nachgegangen würde. Ein notwendiger Pass in absehbarer Zeit von der sogenannten Übergangsregierung sei nur unter Leistung von Schmiergeldern möglich, eine solche Zahlung durch Veranlassung des Gerichts sei undenkbar. Selbst wenn die erforderlichen Voraussetzungen für eine Ausreise des Zeugen aus Somalia geschaffen werden könnten, sei unwägbar, ob die obligatorischen Sicherheitsanfragen der Schengen-Staaten das Einreiseverfahren ermöglichten, weil die Rückreisebereitschaft des Zeugen geprüft werde. Die nachfolgenden Anträge der Verteidigung, das Gericht möge selbst nach Somalia reisen, wurden unter Hinweis auf die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, dort bestehe Lebensgefahr, abgelehnt. Für eine Videovernehmung fehle es an den technischen Voraussetzungen und zuverlässigen Partnern. Die Anträge, der Verteidigung die Reise nach Somalia zu genehmigen, wurden zurückgewiesen, weil eine Vernehmung eines Zeugen durch die Verteidigung nicht prozessordnungsgemäß sei. Daraufhin wurde die Behinderung der Verteidigung gerügt, was einen grundlegenden Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens bedeutet, verbunden mit der Forderung das Verfahren einzustellen. Das Gericht war nicht in der Lage, den wahren Sachverhalt zu ermitteln, da ihm die Möglichkeiten zur Aufklärung dessen fehlten. Das Landgericht Hamburg hat gleichwohl verurteilt.

Outlaws der deutschen Justiz?

Mit diesem Verfahren stellen sich Grundsatzfragen:

Haben Menschen, die man über Tausende von Kilometern nach Europa, nach Hamburg gebracht hat und deren Beweise für ihre Unschuld sich in dem zerfallenen Staat Somalia befinden, weniger Rechte? Haben sie weniger Rechte auf Verteidigung, weil diese unter den gegebenen Umständen nicht praktikabel sind? Ist der Seeräuber – oder den man dafür hält – eine Person, die aus der bürgerlichen Gesellschaft auszugrenzen ist und sich mit dem Recht zufrieden geben muss, das sich realisieren lässt? Darf auf einen Entlastungszeugen verzichtet werden, weil der Beweis der Unschuld keinen staatlich registrierten Namen, keine nach den deutschen Vorstellungen ausreichend konkretisierte „ladungsfähige Anschrift“, keinen Pass und kein Geld hat?

Von außen sah der „Piratenprozess“ fast so aus, wie jeder andere. Tatsächlich aber hat er bürgerlich-demokratisches Recht, Verfassungsrecht und Menschenrecht ausgehöhlt. Dies gar nicht, weil die Richter diese Absicht gehabt hätten. Nicht, weil sie sich nicht bemüht hätten, rechtsstaatlich zu verhandeln und zu urteilen, sondern weil sie vor der Tatsache kapituliert haben, dass der Anspruch, für Sachverhalte aus der ganzen Welt Recht zu sprechen, nicht einlösbar ist – und weil sie gleichwohl verurteilt haben.

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