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Wie die nieder­säch­si­sche Abschie­bungs­po­litik Familien zerstört

Grundrechte-Report 2013, Seite 96

Die Abschiebung von Flüchtlingen unter Inkaufnahme von Familientrennungen lässt sich in vielen Bundesländern in Einzelfällen dokumentieren und ist insofern keine niedersächsische Spezialität. Die Systematik und Rigorosität, mit der dies geschieht und behördlicherseits gerechtfertigt wird, lässt allerdings erhebliche Zweifel an der verfassungs- und menschenrechtlichen Grundorientierung der politisch Verantwortlichen in Niedersachsen aufkommen.
In den vergangenen Jahren haben vor allem die Schicksale der Familien Nguyen aus Hoya sowie Siala/Salame aus Hildesheim überregional Schlagzeilen gemacht. Dank des beharrlichen Einsatzes eines von Flüchtlingsrat und Kirche getragenen Unterstützerkreises gelang es in beiden Fällen, eine Rückkehr der abgeschobenen Familienmitglieder zu erreichen, wobei die psychischen Folgeschäden noch lange nicht geheilt sind. Die beiden Fälle sind jedoch beileibe nicht die einzigen Beispiele für eine rigorose niedersächsische Abschiebungspolitik, unter der insbesondere die Kinder leiden. Nachfolgend dokumentieren wir zwei weniger bekannte Beispiele:

Familie Naso: überfall­ar­tige Abschiebung

Giesen in Niedersachsen, 1. Februar 2011: Im Morgengrauen wird das Haus der Familie Naso/Hasso von einer Polizeistaffel mit 17 Beamten und Hunden umstellt. Die Abschiebung nach mehr als zehnjährigem Aufenthalt in Deutschland erfolgt überfallartig und ohne Ankündigung. Der damals 15-jährige Anuar und seine Eltern werden aus dem Schlaf gerissen und festgenommen, nur die 18-jährige Tochter Schanas darf bleiben. Während der Abschiebung erleidet die Mutter Bashe Hasso, die den ganzen Tag über nichts zu essen und trinken bekommt, aufgrund ihrer Diabetes einen Schwächeanfall und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Anstatt die Abschiebung daraufhin abzubrechen, werden Anuar und sein Vater ohne die Ehefrau und Mutter nach Syrien abgeschoben. Bashe Hasso bleibt mit ihrer Tochter Schanas in Deutschland zurück. Ihr wird später wegen bestehender Gefahr der Folter und menschenrechtswidriger Behandlung in Syrien ein Aufenthaltsrecht zugesprochen.

Anuar und sein Vater Bedir Naso werden wochenlang inhaftiert und misshandelt. Aus syrischer Haft entlassen begeben sie sich erneut auf die Flucht. Nach einer Odyssee durch verschiedene Länder werden sie in Bulgarien festgenommen und auch dort monatelang eingesperrt. Bis heute weigern sich die deutschen Behörden, Vater und Sohn Naso die Rückkehr zu ihrer Familie in Deutschland zu erlauben.

Familie Coban: Familien wird ausein­an­der­ge­rissen

Bad Bentheim, 4. April 2006: In den frühen Morgenstunden wird der Vater der Familie Coban nach 16-jährigem Aufenthalt in Deutschland mit seinen beiden volljährigen Kindern, seiner Mutter und dem behinderten Bruder von Vollzugsbeamten aus der Wohnung geholt und in die Türkei abgeschoben. In Bad Bentheim zurück bleibt die Mutter mit den übrigen sieben Kindern im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren.

In den folgenden sechs Jahren bemühen sich Mutter und Kinder aktiv und intensiv um eine gesellschaftliche Anerkennung: Die älteste in Deutschland lebende Tochter Cemile schließt die Schule und anschließend eine Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin erfolgreich ab. Im Oktober 2008 erhält sie ein Bleiberecht auf Grundlage eines Beschlusses der Härtefallkommission. Die Mutter arbeitet als Reinigungskraft in der Grund- und Hauptschule in Bad Bentheim. Als Alleinerziehende kann sie zunächst nur in Teilzeit arbeiten, hat aber eine Vollzeitstelle in Aussicht. Die jüngeren Geschwister sind in der Schulgemeinschaft voll integriert und engagieren sich auch ehrenamtlich in verschiedenen Schulprojekten. Aufgrund guter Integrationsprognosen erhalten die über 15-jährigen Kinder Sewim, Karmo und die volljährige Tochter Yasemin Coban vom Landkreis Grafschaft Bentheim im Jahr 2011 befristete Aufenthaltserlaubnisse. Gemeinsam ist die Familie inzwischen in der Lage, den Lebensunterhalt der Familie aus eigener Erwerbstätigkeit vollständig zu bestreiten.

Mutter und Kinder werden wohl in Deutschland bleiben können. Die Rückkehr des Vaters sowie der 2006 abgeschobenen Geschwister wird von den Behörden aber bis heute nicht gestattet. Erlaubt wird ihm nicht einmal, seine Frau und seine Kinder zu besuchen.

„Abschiebungen, bei denen Familien getrennt werden, darf es nach unserer Überzeugung nicht geben“, ist Präses Nordholt vom Synodalverband Grafschaft Bentheim der reformierten Kirche überzeugt. „Wir müssen darauf achten, dass bei der Durchsetzung des Aufenthaltsrechts die Maßstäbe nicht verloren gehen. Nicht alles, was die Rechtsordnung zulässt, ist auch richtig. Ich vermisse das humanitäre Augenmaß.“

Kindeswohl, Famili­en­schutz und Völkerrecht

Nicht nur das Grundgesetz (Artikel 6), sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 8 EMRK) sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 12 und 16) räumen dem Familienschutz einen hohen Rang ein. Artikel 8 EMRK schützt auch das Familienleben zwischen volljährigen Kindern, Enkeln, Großeltern und Verwandten der Seitenlinie sowie nichtehelichen und gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften. Die Kinderrechtskonvention sowie das Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichten die Behörden auf eine Orientierung am Wohl des Kindes – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit.

Diese grundrechtlichen Garantien müssen bei Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden über die Abschiebung von Familien zum Tragen kommen. Wenn sich einzelne Dienststellen dennoch immer wieder ermutigt fühlen, Abschiebungen auch unter Inkaufnahme einer gewaltsamen Trennung von Familienmitgliedern durchzuführen, so liegt das daran, dass weder gesetzliche noch administrative Vorschriften im Ausländergesetz eine Familientrennung von Staats wegen verbieten. Der Schutz der Familie, für den sich insbesondere konservative Politik immer wieder stark macht, gilt nicht viel, wenn es um Flüchtlinge geht.

Rechtspolitisch besteht dringender Handlungsbedarf. An hehren Bekenntnissen aller Parteien zu Ehe und Familie fehlt es nicht. Auch Menschen mit einem prekären Aufenthalt müssen das Recht haben, dass ihre familiären Bindungen angemessen berücksichtigt werden.

Das staatliche Verwaltungshandeln ist streng an Recht und Gesetz gebunden, sieht gleichzeitig aber oft auch Ermessensspielräume vor, damit der konkrete Einzelfall angemessen beurteilt werden kann. Insofern lässt das Recht der Verwaltung in der Umsetzung von Recht und Gesetz vielfache Möglichkeiten, verantwortungsbewusst und verhältnismäßig unter Beachtung von Menschenrechten zu handeln. Diese Spielräume werden zu wenig genutzt: Das politisch gesetzte Ziel, möglichst viele Flüchtlinge möglichst schnell abzuschieben, wird von manchen Ausländerbehörden eilfertig und rücksichtslos umgesetzt, wobei das Schicksal der Menschen, ihre Leidens- und Fluchtgeschichte, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen und oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden.

Die angemessene Berücksichtigung der Interessen von Flüchtlingen und der voraussichtlichen Folgen behördlicher Entscheidungen – insbesondere auch für Kinder – im Verwaltungshandeln ist eine wichtige Bedingung, ohne die Verwaltungshandeln ebenso wenig menschengerecht und rechtsstaatlich ablaufen kann wie ohne die andere Seite, streng legales Handeln. Es ist an der Zeit, die Grauzonen institutioneller Feindseligkeit gegen Flüchtlinge und Minderheiten durch Behörden und Verantwortliche aufzubrechen: Ihr heuchlerisches Mitgefühl und „Bedauern im Einzelfall“, wenn sie sich mit achselzuckender Gleichgültigkeit und Ignoranz, mit Verweis auf „Recht und Gesetz“, auf Vorgaben von Politik oder Justiz oder auf die Zuständigkeit anderer schnell aus der Verantwortung und rechtsstaatlicher, verfassungs- und völkerrechtskonformer Entscheidung stehlen.

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