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Umfassende Unter­su­chung des Hamburger Polizei­ein­satzes gefordert

Mitteilungen23308/2017Seite 9-12

Offener Brief der HU an die Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft, in: Mitteilungen Nr. 233 (3/2017), S. 9-12

(Red.) Am 7./8. Juli fand in Hamburg das Treffen der G20-Regierungschefs statt. Der Gipfel wurde von zahlreichen, zum Teil gewalttätigen Protesten begleitet. Die Hamburger Innenverwaltung hatte im Vorfeld ein weiträumiges Versammlungsverbot erlassen und unternahm große Anstrengungen, um einen störungsfreien Ablauf des Gipfeltreffens zu gewährleisten und die Einhaltung der Demonstrationsverbotszone durchzusetzen; randalierende Gewalttäter in Altona und im Schanzenviertel ließ sie dagegen stundenlang gewähren, als diese Autos anzündeten und Barrikaden in Brand setzten.

Um die Strategie und das Vorgehen der Hamburger Polizei gab es daher im Nachgang zahlreiche Diskussionen. Der HU-Bundesvorstand forderte deshalb in einem Offenen Brief an die Hamburger Abgeordneten eine umfassende Untersuchung und Aufklärung der Polizeieinsätze rund um den G20-Gipfel.

Sehr geehrter Damen und Herren Abgeordnete,

die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union fordert die Hamburger Bürgerschaft dazu auf, eine unabhängige Aufklärung bei der Aufarbeitung der Ereignisse rund um den G20-Gipfel zu gewährleisten.

Seit dem G20-Gipfel in Hamburg vor nunmehr 3 Wochen stehen zahlreiche ungeklärte Ereignisse und Vorwürfe im Raum, die nun auch mehrere Wochen nach dem Gipfel keine nähere Aufklärung gefunden haben. Darunter befinden sich sowohl massive Vorwürfe rechtswidrigen und möglicherweise auch strafrechtlich relevanten Handelns staatlicher Stellen als auch strafrechtliche Vorwürfe gegenüber zahlreichen Privatpersonen (Letzteres vor allem außerhalb von Versammlungen auf der Hamburger Schanze). Als Bürger- und Menschenrechtsorganisation sind wir nicht dazu berufen, Gründe und Ursachen der Gewalt an unterschiedlichen Stellen in Hamburg zu erörtern bzw. deren Strafbarkeit zu untersuchen. Wir sind aber dem Schutz der Grundrechte der Bürger/innen und Menschen in Deutschland verpflichtet und setzen uns seit nunmehr über 50 Jahren für diese Rechte ein, insbesondere auch für die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit und die Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns.

Vor diesem Hintergrund müssen wir feststellen, dass die zahlreichen Augenzeugenberichte von Demonstrationsbeobachter/innen, Journalist/innen, Anwält/innen und Privatpersonen die Professionalität polizeilichen und staatlichen Handelns während des G20-Gipfels auch mehrere Wochen nach dem Gipfel noch massiv in Frage stellen. Glaubhaften Aussagen zufolge gab es während des G20-Gipfels vielerorts nicht nur ein demonstrationsfeindliches Klima seitens der Polizeibehörde, sondern auch zahlreiche Fälle grundloser und unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Zudem wird berichtet, dass in großem Umfang gegen verfassungsrechtlich garantierte Rechte festgenommener Personen verstoßen und Presseleute an ihrer Arbeit gehindert wurden. Auch der Humanistischen Union drängt sich angesichts der vielen Augenzeugenberichte und der im Netz einsehbaren Videos der Eindruck auf, dass während des G20-Gipfels in großem Maße gegen rechtsstaatliche und grundrechtliche Standards verstoßen worden ist.

Die in einem Rechtsstaat erforderliche unabhängige Aufklärung der im Raum stehenden Vorwürfe staatlichen Fehlverhaltens und Versagens sehen wir angesichts der bisherigen Verlautbarungen und Absichtserklärungen seitens der Hamburger Regierungsfraktionen nicht als gewährleistet an. Weder hat es bisher ein öffentliches Bedauern bezüglich der klar rechtswidrigen Räumung des gerichtlich zugelassenen Protestcamps in Entenwerder gegeben, noch wurde hinreichend glaubhaft gemacht, dass man an einer unabhängigen Aufklärung interessiert ist. Dieser Eindruck wird insbesondere durch die Verlautbarung des Bürgermeisters genährt, dass es beim G20-Gipfel keine rechtswidrige Polizeigewalt gegeben habe, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits allgemein bekannt war, dass gegen zahlreiche Polizist/innen wegen Körperverletzung im Amt ermittelt wird. Auch die beabsichtigte Einsetzung eines parlamentarischen Sonderausschusses scheint uns kein geeignetes Mittel zur unabhängigen Aufklärung der genannten Vorgänge zu sein. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Frage, warum die Aufarbeitung nicht mithilfe eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses angestrebt wird, der durch seine Ausgestaltung zur Aufklärung von Sachverhalten wie den hiesigen gesetzlich gerade vorgesehen ist. Allein ein Untersuchungsausschuss ist durch seine Ermittlungsbefugnisse – wie das Recht, Akten einzusehen und Zeug/innen verbindlich zu laden – geeignet, die Ereignisse ernsthaft aufzuklären.

Die Humanistische Union empfiehlt der Hamburger Bürgerschaft im Sinne einer umfassenden und glaubwürdigen Aufklärung die Einsetzung eines solchen Untersuchungsausschusses! Dieser sollte hinsichtlich der im Raum stehenden Fragen der Einhaltung rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Standards folgende Fragen untersuchen:

1. Die Gipfeltreffen der großen Industrienationen werden erfahrungsgemäß von zahlreichen und auch großen Demonstrationen begleitet. Wurde vor der Entscheidung, den G20-Gipfel in Hamburg stattfinden zu lassen, die Hamburger Versammlungsbehörde an der Entscheidung beteiligt und um eine Einschätzung ersucht, ob während eines in Hamburg stattfindenden G20-Gipfels neben der Sicherheit der Bürger/innen und Gäste in Hamburg auch die Versammlungsfreiheit hinreichend gewährleistet werden kann?

2. Im Brokdorf-Beschluss von 1985 stellte das BVerfG fest, dass die staatlichen Behörden gehalten sind, „nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben.“ Wurde die bundesverfassungsgerichtlich aufgestellte Verpflichtung der Versammlungsbehörde, versammlungsfreundlich und deeskalierend zu agieren, während des G20-Gipfels vollumfänglich eingehalten? Welche Anweisungen gab es hierzu seitens der Einsatzleitung?

3. Im Kammerbeschluss vom 6. Juni 2007 zu einem Versammlungsverbot beim G-8-Gipfel in Heiligendamm führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt das Interesse des Veranstalters, auf einen Beachtungserfolg nach seinen Vorstellungen zu zielen, gerade auch durch eine möglichst große Nähe zu dem symbolhaltigen Ort“. Dies gelte auch dann, wenn dem „Empfindlichkeiten ausländischer Politiker“ entgegenstehen könnten (1 BvR 1423/07, Rn. 23 u. 28, NJW 2007, 2169). Welche Maßnahmen hat die Innenbehörde ergriffen, um bei der Beschränkung der Versammlungsfreiheit dem Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter über die Wahl des Versammlungsortes Rechnung zu tragen und die Versammlungen an den von den Veranstaltern ausgewählten Standorten stattfinden zu lassen?

4. Art. 8 I GG schützt die Versammlungsfreiheit friedlicher Versammlungen und friedlicher Versammlungsteilnehmer/innen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Versammlungen als Ganze unfriedlich, „wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden“ (BVerfGE 104, 92,106). Einzelne Versammlungsteilnehmer sind unfriedlich, wenn sie „Gewalt gegen Personen oder Sachen begehen“ (BverfGE 69, 315 (359)). Im Übrigen hat das BVerfG im erwähnten Brokdorf-Beschluss die Verpflichtung statuiert, unfriedliches Verhalten Einzelner nicht zum Wegfall des Grundrechtsschutzes für friedliche Versammlungsteilnehmer führen zu lassen. Warum war die Polizei bei der sogenannten „Welcome to Hell“-Demonstration am 6. Juli 2017 der Ansicht, die Versammlung könne erst fortgesetzt werden, wenn alle vermummten Teilnehmer/innen entfernt würden? Warum ist die Polizei nicht der seit Jahren in Berlin erfolgreich geübten Praxis gefolgt, die Demonstration trotz Vermummung eines Teils der Versammlungsteilnehmer/innen weiterlaufen zu lassen? Welche Maßnahmen wurden beim Vorgehen gegen die vermummten Versammlungsteilnehmer/innen ergriffen, um die Versammlungsfreiheit der nicht vermummten Mehrheit der Versammlungsteilnehmer/innen zu schützen und zu gewährleisten, dass diese die Versammlung fortsetzen können? Welche internen Anweisungen gab es diesbezüglich?

5. Laut dem Staatenbericht des Menschenrechtskommissars des Europarates über Deutschland von 2017 sind die deutschen Strukturen zur unabhängigen Aufklärung mutmaßlich ausgeübter rechtswidriger Polizeigewalt defizitär. Wie wird im Rahmen der Ermittlungen der wegen zwischen dem 5. und 9. Juli 2017 mutmaßlich begangenen Körperverletzungen im Amt die Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit der Ermittlungen gewährleistet? Wie viele Anzeigen gegen Polizeibeamt/innen wegen Körperverletzung im Amt wurden erstattet? Wie viele der Anzeigen haben letztendlich zu einer Anklage, wie viele zu einer Verurteilung geführt? Gab es angesichts einer fehlenden individuellen Polizeikennzeichnung in Hamburg und vielen anderen Bundesländern während der Ermittlungsverfahren Schwierigkeiten bei der Ermittlung der mutmaßlichen Täter/innen?

6. Neben individueller Nachlässig- oder gar Mutwilligkeit ist Ursache von rechtswidrigem Handeln bis hin zur rechtswidrigen Gewaltausübung auch häufig eine Überforderung und Überlastung der jeweiligen Polizeibeamt/innen. Medienberichten zufolge waren viele Polizist/innen bis zur Erschöpfungsgrenze und darüber hinaus eingesetzt. Nach Verlautbarungen des Bürgermeisters sollen Polizeibeamt/innen bis zu 50 Stunden im Einsatz gewesen sein. Mit wie vielen Einsatzstunden pro Polizist/in hat die Innenbehörde im Vorfeld des Gipfels geplant? Ab wann war der Innenbehörde bekannt, dass die personalen Ressourcen nicht ausreichen?

7. Die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG reicht von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung von Nachrichten und Meinungen. Während des G20-Gipfels ist zahlreichen akkreditierten Journalisten nachträglich die Akkreditierung entzogen worden. Zudem wurden an Polizist/innen Papierlisten ausgeteilt, auf denen die Namen der Betroffen offen einsehbar verzeichnet waren. Welche Gründe haben zu dem nachträglichen Entzug der Akkreditierungen geführt? Haben bei den Entscheidungen Erkenntnisse und Einschätzungen ausländischer Behörden eine Rolle gespielt? Wer hat das Verteilen der Papierlisten veranlasst, und war die Polizeiführung hiervon in Kenntnis gesetzt?

8. In der Gefangenensammelstelle tätig gewesene Anwält/innen berichteten, dass Gefangenen grundlegende Menschenrechte verwehrt wurden. So habe es keine angemessene medizinische Behandlung gegeben, und es sei Gefangenen Nahrung verweigert worden. Auch seien richterliche Vorführungen deutlich zu spät erfolgt und damit massiv gegen Art. 104 Abs. 2 GG verstoßen worden. Außerdem sei das Recht auf rechtsanwaltlichen Beistand nicht hinreichend gewährt worden, und die Festgenommen hätten sich nach dem Anwaltsgespräch nackt ausziehen und eine Durchsuchung erdulden müssen. Zum Teil habe es sogar körperliche Angriffe auf in der Gefangenensammelstelle tätige Anwält/innen durch Polizist/innen gegeben. Wie hoch war die Belegung der Gefangenensammelstelle während des G20-Gipfels? Wie viele Richter/innen waren während des G20-Gipfels im richterlichen Bereitschaftsdienst eingesetzt? Sind die dargestellten Vorwürfe korrekt? Falls ja, welche Ursachen haben zu der massiven Missachtung der grundlegenden Menschenrechte gefangener Personen geführt?

9. Wurde beim Einsatz von Pfefferspray verhältnismäßig vorgegangen, und wurden angesichts der Streubreite dieser Maßnahme auch die Rechte von Nichtstörern hinreichend gewährleistet?

10. Wurden durch die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei falsche Informationen verbreitet – und wenn ja, warum? Wie lässt sich das in Zukunft verhindern?

11. Gab es falsche Prioritäten im Sicherheitskonzept der Polizei? Welche weiteren Anweisungen gab es diesbezüglich neben dem Rahmenbefehl bei der Aufbaueinheit Michel vom 9. Juni 2017?

Wir fordern Sie auf, sich in diesem Sinn für eine Aufarbeitung der Geschehnisse durch einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen
Werner Koep-Kerstin

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