Aus der Rede von Leo Derrik (HU- Bundesgeschäftsführender 1968-1973)
Mitteilungen Nr. 176 S. 102
[…] Ich will an eine Aktion erinnern, die erstens wie kaum eine andere Resonanz in der gesellschaftlichen Diskussion gefunden hat, und deren Grundproblem zweitens (wenn auch in einem anderen thematischen Zusammenhang) hochaktuell ist. Ich meine das Eintreten der HUMANISTISCHEN UNION für die Reform des Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches.
Auch wenn das Ergebnis dieser Reform nach jahrelangen Auseinandersetzungen nicht unseren Idealvorstellungen entspricht, so halte ich doch die Bemühungen der HU in dieser Frage für sehr erfolgreich. Das zeigt sich nicht nur bei einem Vergleich der heutigen Rechtslage mit der damaligen Anfang der siebziger Jahre. Damals war der Schwangerschaftsabbruch nur auf Grund einer medizinischen Indikation straffrei. Und das auch nicht auf Grund des Gesetzestextes, sondern als Folge eines Reichgerichtsurteils in der Weimarer Republik. Es zeigt sich aber auch an dem veränderten gesellschaftlichen Bewusstsein in dieser Frage. […] Es bleibt zu hoffen, dass die Lehren aus den jahrelangen Auseinandersetzungen um die Reform des Abtreibungsrechts bei der Diskussion um die Änderung des Embryonenschutzgesetzes zu einer Versachlichung beitragen. Einige Äußerungen aus kirchlichen Kreisen lassen allerdings Schlimmes befürchten. Ich halte das geltende Embryonenschutzgesetz für verfassungswidrig. Es begründet seine Verbote erneut auf der Grundlage einer bloßen Glaubensannahme, verletzt damit die Pflicht des demokratischen Staates zur weltanschaulichen Neutralität und steht im Widerspruch zum Grundrecht der Glaubensfreiheit (Artikel 4 GG) und zum Grundrecht auf Freiheit der Forschung (Artikel 5 GG). Wer den letztlich religiös begründeten Glauben nicht teilt, ein winziger Zellklumpen sei ethisch gesehen eine personale menschliche Existenz, wird per Gesetz gezwungen sich nach diesem Glauben zu richten. Zum Beispiel die Frau, die nach einer künstlichen Befruchtung sich per Präimplantations- Diagnostik davor schützen will ein behindertes Kind zur Welt zu bringen oder der Zellforscher, der ein wirkungsvolles Medikament gegen die Alzheimer-Krankheit entwickeln will.
Im Übrigen hat sich in den letzten dreißig Jahren nicht nur das politische Diskussionsklima verändert, sondern auch die jeweils betroffenen Interessen unterscheiden sich grundlegend. Die Betroffenen bei der Reform des Abtreibungsrechts waren vor allem die Frauen mit einer zunächst recht schwachen Lobby. Die neuere Frauenbewegung entstand ja maßgeblich im Rahmen der Aktion 218 und im Bundestag waren 1969 von 518 Abgeordneten nur 36 weiblich. Bei der Embryonenforschung sind aber wissenschaftliche und wirtschaftliche Interessen betroffen und die haben einen erheblich größeren politischen Einfluss als damals die Frauen. Das wird es den rechten Ideologen schwer machen, birgt aber auch die Gefahr, dass wirtschaftliche Aspekte bei der Lösung dieser diffizilen Problematik zu große Berücksichtigung finden. Die HUMANISTISCHE UNION wird in der anstehenden Diskussion gemäß Ihren Grundsätzen kritisch nach beiden Seiten beobachten und entsprechend Stellung nehmen müssen. […]