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Der Daten­schutz-GAU

Republikanische Vesper zur Vorratsdatenspeicherung

Die vorsorgliche Speicherung der Verkehrsdaten elektronischer Kommunikation für sechs Monate integriert sich nahtlos in die Gesamtschau der „Sicherheits“-Maßnahmen der letzten Jahre, mit denen sich der Staat zu schützen trachtet. Nun aber wird jede Bürgerin und jeder Bürger unter Generalverdacht gestellt. Der Konformitätsdruck nimmt zu, sich sozial und politisch erwünscht zu verhalten – denn abweichendes Verhalten wird nun dokumentiert und kann leicht zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt werden. Ist es in Zukunft gefährlich, an einem Ort eine SMS zu erhalten, an dem auch ein arabisch aussehender Mitbürger ein Mobiltelefon in der Hand hat? Gerät man in die Anti-Terror-Datei, wenn man sich auf eine Mailing-Liste zu den G8-Demonstrationen einträgt? Sollte man sich lieber einen Anwalt oder Arzt nehmen, bei dem garantiert nur unbescholtene Mitbürger Klienten sind?

Um über die bekannten grundlegenden Fakten hinaus die juristischen und technischen Gegenargumente zu bündeln, waren bei der monatlichen Diskussionsrunde, der rege besuchten „Republikanischen Vesper“ am 31. Mai in Berlin, unterschiedliche Pole des kritischen Spektrums vertreten: neben der HU selbst und dem AK Vorratsdatenspeicherung der Chaos Computer Club und ein Vertreter des Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit.

Die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung ist kurios: Bis zum Regierungswechsel hatte sich der deutsche Bundestag mehrfach gegen eine Speicherung dieser personenbezogenen Daten ausgesprochen. Über eine EU-Richtlinie wird sie aber Anfang 2008 dennoch umgesetzt. Da vor dem deutschen Regierungswechsel auf europäischer Ebene keine Einstimmigkeit erzielbar war, wurde trotz der Behandlung von Straftatbeständen eine Rechtsgrundlage genutzt, die eigentlich für die Harmonisierung des Binnenmarktes gedacht war.

Dieses Vorgehen wird derzeit von Irland mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten, die deutsche Regierung verweigerte sich jedoch einer solchen Klage. Sollte die Richtlinie fallen, müsste die Bundesregierung Farbe bekennen, ob sie auch im Alleingang die Vorratsdatenspeicherung durchsetzen will. Auch ein Erfolg der beim deutschen Bundesverfassungsgericht angekündigten Verfahren wäre wahrscheinlicher, da so nur die Konformität mit dem Grundgesetz geprüft werden müsste. Diese ist mehr als zweifelhaft, da u.a. nicht nur die Inhalte, sondern auch die Umstände der Telekommunikation vom Fernmeldegeheimnis geschützt sind.

Sollte die Umsetzung erfolgen, ist die erste Stufe die Sammlung der Daten. Sie ist praktisch, objektivierbar, durch den Einsatz von Informationstechnologie schnell und billig. Unter dem Aspekt der Datenvermeidung ist sie freilich nicht verhältnismäßig zur ursprünglichen Intention: der Terrorabwehr in der zweite Stufe durch tatsächliche Verwendung der Daten. Die Effektivität dürfte nämlich gering sein – sich vollkommen unauffällig verhaltenden Terroristen ist mit Verbindungsdaten nicht beizukommen. Dafür wird jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverhältnismäßig eingeschränkt: Mit einem Mausklick lassen sich Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile sowie Soziogramme der Kontakte und deren Intensität erstellen. Da alle Telekommunikationsprovider zu Ermittlern werden, ist zudem eine Nutzung der Daten für Marketingzwecke kaum zu verhindern.

Erschwerend ist, dass sich viele Abgeordnete aufgrund technischer Ignoranz „beratungsresistent“ zeigen oder wider besseren Wissens aufgrund des Fraktionszwanges mit den Befürwortern der Speicherung stimmen. Die geplante Umsetzung in Deutschland ist hierbei – anders als vom Bundesjustizministerium dargestellt – keineswegs die minimale Variante. So wurde u.a. die Zweckbestimmung der Aufklärung von „schwereren“ zu „allen Straftaten, die mittels Telekommunikation“ begangenen werden. Dies reicht bis zur Verfolgung von einfachen Copyright-Verstößen – die Musikindustrie wartet schon lange darauf.

Tucholsky wusste: „Der eigene Hund macht keinen Lärm – er bellt nur“. Ebenso sehen es anscheinend einige politische Akteure: Der Staat könne definitionsgemäß nicht demokratiefeindlich handeln. Ohne die Notwendigkeit zur Aufklärung von Straftaten zu bestreiten: Das Vertrauen in die Integrität der Ermittler als einzige Sicherung gegen Missbrauch ist unzureichend. Denn Mechanismen gegen menschliches oder technisches Versagen bei der Speicherung und Verarbeitung der zweideutigen Datenflut sind im Entwurf nicht vorgesehen. Diese grassierende Technologiegläubigkeit erinnert an Terry Gilliam’s Film „Brazil“, in dem aufgrund eines Buchstabendrehers ein Unschuldiger zum Opfer der Staatsmacht wird. Eine Teilnehmerin der Vesper fragte provokativ: „Was ist, wenn ich mich verwähle und Osama Bin Laden an der Strippe habe?“. Eine Differenzierung nicht möglich, da die Inhalte nicht ausgewertet werden – aber das kann ja noch kommen, zum Schutz Unschuldiger, versteht sich.

Axel Lüssow
ist Mitglied Landesvorstandesder HU Berlin-Brandenburg

Die Beiträge der Republikanischen Vesper stehen in Auszügen als Audiomitschnitte auf der Webseite der Humanistischen Union bereit: https://www.humanistische-union.de/veranstaltungen/berichte/.

Auf der Webseite der Humanistischen Union ist eine umfangreiche Dokumentation zur Vorratsdatenspeicherung verfügbar:
https://www.humanistische-union.de/vorratsdaten/

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