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Milli­o­nen­fach mitge­lauscht ... wer kontrol­liert die Lauscher?

Mitteilungen12/1999Seite 96-97

Mitteilung Nr. 168, S. 96-97

Auch 1998 haben die Telefonabhörmaßnahmen wieder zugenommen – bundesweit über ein Siebtel, in Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen jeweils sogar um mehr als ein Drittel. Gemeinsam mit dem bündnisgrünen Fraktionssprecher im nordrhein-westfälischen Landtag, Roland Appel (HU-Mitglied) veranstaltete der HU-Bundesvorsitzende Till Müller-Heidelberg Mitte November eine Pressekonferenz in Düsseldorf. Nachdrücklich forderte er dabei eine Ausdehnung der parlamentarischen Kontrolle über die der geheimen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Überwachungsmaßnahmen auf Bundes- und Landesebene:Sowohl die repressive akustische Wohnraumüberwachung (Großer Lauschangriff) wie auch die präventive akustische Wohnraumüberwachung (nach Länderpolizeirecht) und Telefonabhörmaßnahmen nach der Strafprozeßordnung sollen der parlamentarischen Kontrolle in Bund und Ländern unterworfen werden. Ca. 1,5 Mio. Personen werden in Deutschland abgehört, das sind nahezu 20 Millionen Telefongespräche! Der HU-Bundesvorsitzende führte weiter aus:1. Alle geheimen Überwachungsmaßnahmen sind für den Rechtsstaat und die Demokratie sowie die Bürgerrechte gefährlich, weil sie der Natur der Sache nach geheim sind und schwer kontrolliert werden können. Insbesondere die wirksamste Kontrolle durch die Betroffenen selbst, die ggfs. die Gerichte anrufen könnten, entfällt, weil die Betroffenen in der Regel von geheimen Überwachungsmaßnahmen nichts erfahren. Deshalb hat der Gesetzgeber sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene parlamentarische Kontrollgremien eingerichtet, die die geheimen Überwachungsmaßnahmen der Geheimdienste – einschl. Telefonabhörmaßnahmen – kontrollieren. 2. Im Frühjahr 1998 ist der Große Lauschangriff – also z.B. Wanzen in Wohnungen – vom Gesetzgeber durch Änderung des Artikel 13 Grundgesetz eingeführt worden für strafrechtliche Ermittlungsverfahren (repressive akustische Wohnraumüberwachung); gleichzeitig wurden Abhörmaßnahmen nach den Landespolizeigesetzen zur vorbeugenden Abwehr von Gefahren (präventive akustische Wohnraumüberwachung) im Grundgesetz eingeschränkt.Da dem Verfassungsgesetzgeber die damit einhergehenden großen rechtsstaatlichen und demokratischen Gefährdungen bewußt waren, hat er gleichzeitig eine parlamentarische Kontrolle vorgesehen. Denn der Große Lauschangriff bedroht nicht etwa den Verbrecher, so daß die Masse der Bevölkerung sagen könnte: Was geht das mich an! Einen Verbrecher belauscht man nicht, man verhaftet ihn. Der Große Lauschangriff jedoch bedroht den Verdächtigen – und das kann jeder werden; und obendrein nicht nur den Verdächtigen, sondern auch jede seiner möglichen Kontaktpersonen, und das heißt jeder Bewohner in Deutschland. Wegen dieser Gefahren hat der Verfassungsgesetzgeber in Art. 13 Abs. 6 Grundgesetz vorgesehen, daß die Bundesregierung den Bundestag jährlich sowohl über die repressiven wie über die präventiven Wohnraumüberwachungsmaßnahmen informieren muß und daß ein vom Bundestag gewähltes Gremium auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle ausübt. Nach Art. 13 Abs. 6 Satz 3 Grundgesetz „gewährleisten die Länder eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle“ in ihrem Bereich. Angesichts der verfassungsrechtlich festgeschriebenen umfassenden parlamentarischen Kontrolle auf Bundesebene ist es bei diesem Verfassungswortlaut unbegreiflich, wie einige Länder die Auffassung vertreten können, auf ihrer Ebene müßte sich die parlamentarische Kontrolle nur auf den präventiven Bereich und nicht auf den repressiven Bereich beziehen! Dies widerspricht dem klaren Verfassungswortlaut. 3. So gefährlich der Große Lauschangriff, der unter parlamentarische Kontrolle gestellt wurde, auch für Rechtsstaat und Demokratie ist – er betrifft doch zahlenmäßig nicht viele Fälle aus Gründen der Technik, der Kosten und der Kapazitäten. Die geheime Telefonüberwachung nach der Strafprozeßordnung jedoch hat sich in den letzten Jahren epidemisch verbreitet und sollte daher ebenfalls aus verfassungs- und rechtspolitischen Gründen unter parlamentarische Kontrolle gestellt werden.Im Jahre 1992 gab es nach Auskunft der Bundesregierung ca. 3.500 Telefonabhörgenehmigungen. 1996 explodierte diese Zahl auf knapp 6.500 Abhörgenehmigungen und im Jahre 1998 wurden knapp 10.000 Abhörgenehmigungen nach der Strafprozeßordnung erteilt, womit ca. 14.000 Telefonanschlüsse abgehört wurden (Antwort der Bundesregierung vom 31. August 1999 auf eine kleine Anfrage Drucksache 14/1522). Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat dies zu Recht kritisiert. Prof. Dr. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen hat aufgrund vergleichender Untersuchungen mit den wesentlich besser dokumentierten und überprüften Fallzahlen aus den USA festgestellt, daß bei den 1992 erteilten 3.500 Abhörgenehmigungen tatsächlich 500.000 Personen abgehört wurden mit knapp 6 Mio. Telefongesprächen. Im gleichen Jahr 1992, als es in Deutschland (mit 80 Mio. Einwohnern) 3.500 Abhörgenehmigungen gab, waren es in den USA mit dreimal so viel Einwohnern (240 Mio.) ca. 800 Abhörmaßnahmen, das Risiko eines deutschen Bürgers, abgehört zu werden, war also 13 mal so hoch wie für einen amerikanischen Bürger! (Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, Seite 7 ff.)Wenn sich von 1992 bis 1998 in Deutschland die Zahl der Telefonabhörgenehmigungen ca. verdreifacht hat, dann werden folglich heute etwa 1,5 Mio. Menschen im Jahr in Deutschland abgehört mit ca. 18 Mio. Telefongesprächen. Im Falle einer einzigen Telefonüberwachung des Bundeskriminalamts (Spiegel 18/1991 Seite 20) wurden 60.000 Telefonate abgehört. Und das Risiko auch des nicht verdächtigen Bürgers, abgehört zu werden, ist folglich mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland knapp 50 mal höher als in den USA! Da die betroffenen Bürgerinnen und Bürger davon aber nichts erfahren, sollte die Kontrolle der Parlamente auch auf die Telefonüberwachungsmaßnahmen der Strafprozeßordnung ausgedehnt werden. Till Müller-HeidelbergLeserbrief zu „Spiegel“ Nr. 34, Seite 18 „Wanze auf Reisen“

Sehr geehrte Herren,

im Spiegel vom 23. August 1999 berichten Sie unter „Wanze auf Reisen“ über die Telefonkontrolle in der DDR durch den Staatssicherheitsdienst. Und offensichtlich sollen wir erschreckt werden durch die Feststellung der Gauck-Behörde, daß seinerzeit die Stasi in der DDR 580.000 Telefongespräche belauscht haben. Welch ein Horror! Und wie gut geht es doch uns dagegen in unserem demokratischen Rechtsstaat.Jedoch: Bereits 1992 wurden in der Bundesrepublik allein nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung 3.500 Telefonabhörgenehmigungen erteilt. Nach der Studie des Direktors des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Prof. Dr. Christian Pfeiffer (Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, Seite 7 ff.) bedeutete diese Zahl von Telefonabhörgenehmigungen, daß damit 500.000 Personen abgehört worden sind mit knapp 6 Mio. „Kommunikationsvorgängen“. Da nach den in der letzten Woche vom Bundesdatenschutzbeauftragten veröffentlichten Zahlen die Telefonabhörgenehmigungen sich inzwischen verdreifacht haben auf ca. 10.000 (zuzüglich der nicht bekannten Zahl der Abhörfälle durch die drei bundesdeutschen Nachrichtendienste!), bedeutet dies, daß ca. 1,5 Mio. Einwohner von Deutschland bei Telefonaten abgehört werden und insgesamt ca. 18 Mio. Telefongespräche! Dies heißt nicht, die Telefonüberwachung durch den DDR-Staatssicherheitsdienst zu bagatellisieren, sondern es heißt, daß auch wir in unserem demokratischen Rechtsstaat endlich uns wehren müssen, gegen die massenhafte und zunehmende Bürgerüberwachung und daß wir dies nicht den wenigen Datenschützern und Bürgerrechtlern wie der ältesten deutschen Bürgerrechtsorganisation, der Humanistischen Union, überlassen dürfen. Bürgerinnen und Bürger: Wacht auf!

Dr. Till Müller-Heidelberg, Bundesvorsitzender der Humanistischen Union

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