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Wahlkampf­auf­takt mit populis­ti­schem Ablen­kungs­ma­növer

Mitteilungen09/2001Seite 70- 71

Mitteilungen Nr. 175 S. 70- 71

Pressemitteilung der HUMANISTISCHEN UNION
vom 12. Juli 2001, HU warnt vor einer Politik mit
Kriminalitätsängsten
„Einfache Rezepte und Stammtisch-Parolen dürfen nicht
zur Leitlinie bundesdeutscher Politik werden“, fordert die
HUMANISTISCHE UNION (HU). Deutschlands älteste Bürgerrechtsorganisation
ist entsetzt über den Inhalt eines Interviews des
Bundeskanzlers mit der Bild-Zeitung. Gerhard Schröders
Forderung, man müsse Sexualstraftäter, die sich an Kindern
vergangen haben, „wegschließen – und zwar für immer“,
findet Zustimmung in breiten Bevölkerungskreisen, und sie
hat den ungenierten Ruf nach der Todesstrafe geradezu herausgefordert.
Hierauf zielt nach Ansicht der HU das Interesse
des Kanzlers und nicht auf kriminalpolitische Vernunft.
Statt sich besonnen eines Problems anzunehmen, das für die
davon Betroffenen entsetzliches Leid verursacht, schürt der
mächtigste Mann im Staate Emotionen und Hass auf eine unverantwortliche
Weise. Darüber hinaus weckt der Kanzler mit
seinen Vorschlägen Erwartungen in der Öffentlichkeit, von
denen er wissen muss, dass sie sich nicht einlösen lassen.
„Abschrecken durch Strafe“ – dieses Schwert des Strafrechts
ist stumpf, wie man seit langem weiß: die renommierte New
York Times hat dies erst kürzlich wieder allen Befürwortern
der Todesstrafe ins Stammbuch geschrieben. Das die Freiheitsstrafe
mit Sicherheit übervolle Gefängnisse erzeugt und
kaum Rückwirkungen auf die Kriminalität hat, auch das lässt
sich nirgends besser als in den USA studieren. Im Übrigen,
auch ohne lebenslange Freiheitsstrafen sind die vollendeten
Sexualmorde innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte von
43 auf 10 zurückgegangen, die an Kindern von 11 auf 2,
nachzulesen in einer Veröffentlichung des Bundesjustizministeriums
aus dem Jahre 2000.
Für ebenso unverantwortlich hält die HU die Feststellung
des Kanzlers über die fehlende Therapiefähigkeit von
Sexualstraftätern. Es fehlen vielmehr allerorten hinreichende
Therapiemöglichkeiten in deutschen Gefängnissen, was
auch der Bundeskanzler wissen sollte. Die HU weist als
völlig unakzeptabel die verunglimpfende und völlig haltlose
pauschale Herabsetzung der forensischen Psychiater als
„Gutachterkartell“ durch den Bundeskanzler zurück. So werden
Therapiechancen vertan, nicht ermöglicht.
Von einem schlicht antidemokratischen Geist ist schließlich
die vorbeugende Justizschelte diktiert, zu der sich der Bundeskanzler
in seinem Interview in der Bild-Zeitung hinreißen
lässt.Keinem Bürger lässt man zu Recht einen Eingriff
in ein laufendes Verfahren durchgehen – dem Bundeskanzler
soll es gestattet sein, dies schon mal provisorisch und im Vorwege
zu tun? Und das in einem Land, das erst spät und oft
genug halbherzig die institutionellen Tugenden der Rechtsstaatlichkeit
für sich übernommen hat!
Die HU ruft zur Zivilcourage gegen diesen respektlosen
Umgang des höchsten Repräsentanten der staatlichen
Exekutive mit der Unabhängigkeit der Gerichte auf. Sein
Verhalten nährt den Argwohn der HU, dass es Schröder mit
seinem Interview, nicht ohne Zufall gerade in der Bild-
Zeitung, nicht um Kriminalpolitik, sondern um Wählerstimmen
geht. Es ist zynisch und zerstörerisch für die
Kultur und Institutionen der Politik, erlittenes oder zugefügtes
Leid in den Dienst des politischen Machterhalts
oder -erwerbs zu stellen. Ginge es dem Kanzler wirklich
um den Schutz und das Wohl der Kinder in diesem Lande,
gäbe es nach Ansicht der HU hinreichend andere Felder
der politischen Betätigung und Bewährung als das des
Strafrechts. Die HU teilt mit den meisten Experten die
Wahlkampfauftakt mit populistischem Ablenkungsmanöver
Fortsetzung auf Seite 71
Überzeugung, dass die Instrumente des Strafrechts keine
gesellschaftlichen Probleme lösen können.
Mit Sorge beobachtet die HU seit dem Erscheinen des Bild-
Interviews des Kanzlers die Zunahme persönlicher Anfeindungen,
denen Bürgerrechtler ausgesetzt sind, die für den
freiheitlichen Rechtsstaat, die Unschuldsvermutung bis zum
Beweis einer Straftat und für einen humanen Strafvollzug
eintreten. Die HU mahnt Medien, Politiker und Bürgerschaft
zur Besonnenheit.
„Auch wir sind entsetzt über die Grausamkeit, mit der
ahnungs- und wehrlose Kinder zum Opfer brutaler Mordtaten
wurden“, erklärte HU-Pressesprecher Franz-Josef
Hanke:„Um Kindern ein solches Schicksal zu ersparen, ist es
nötig, mit kühlem Kopf nach den Ursachen von Gewalt
gegen Kinder zu suchen. Darin manifestiert sich Solidarität
und Mitgefühl mit den Opfern nachhaltiger als in kriminalpolitischen
Forderungen, deren Kurzatmigkeit und Wirkungslosigkeit
letztlich niemand verborgen bleibt. Ihre
eigentliche Zielrichtung ist Wählerfang, der die verbreitete
Politikverdrossenheit weiter stärkt. Das Thema Kindsmissbrauch
eignet sich aber wegen der Opfer nicht für den
Wahlkampf.Wahltaktische Diskussionen darüber zerstören
zudem das Vertrauen in den Rechtsstaat.

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