vorgänge Nr. 198: Weshalb erinnern?

vorgänge Nr. 198: Weshalb erinnern?

Weshalb erinnern?

vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 51. Jahrgang, Heft 2 (Juni 2012)

 

Weshalb erinnern? Diese Frage mutet zunächst seltsam an, in einem Staat, dem das negative Gedächtnis konstitutiver Bestandteil des Selbstverständnisses ist, der wegen der gelungenen Bewältigung der Vergangenheit zweier Diktaturen in anderen Ländern als „Modell Deutschland“ gepriesen wird. Doch hat sich das Erinnern mit der wachsenden zeitlichen Distanz gewandelt, Täter und überlebende Opfer wie auch Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Damit ändern sich auch die Bedingungen einer historischen Reflexion, die auf eine humane Gestaltung der Gesellschaft zielt. Wurde anfänglich, nach der Katastrophe des Dritten Reiches, die Forderung, aus der Geschichte zu lernen, noch als Anleitung zu einer gesellschaftsverändernden Praxis verstanden, so reduzierte sich diese Praxis im Laufe der Zeit auf „die Unternehmung, bei der“, wie Timothy Garton Ash einmal angemerkte, „die Deutschen wahrhaftig Weltmeister sind, die kulturelle Reproduktion der Terrorvarianten ihres Landes. Keine Nation ist brillanter, beharrlicher und erfinderischer im Erforschen, Kommunizieren und Repräsentieren ( … ) ihrer eigenen vergangenen Verbrechen.“ Diese Gründlichkeit, die der britische Historiker ironisierte, findet in der Intensität, mit der sich ab 1989 den Auswirkungen der kommunistischen Diktatur in der DDR gewidmet wurde, eine Fortsetzung. Damit läuft Erinnerung Gefahr, zu einer Pathosformel des per se Guten zu gerinnen, der eine routinierte und in der Regel staatlich geförderte Praxis der Geschichtsbearbeitung folgt – deren gesellschaftsprägende Kraft allerdings nur noch selten auf dem Prüfstand steht. Wir wollen mit dieser Ausgabe der vorgänge zu einer kritischen Prüfung des allzu Gewohnten anregen.

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