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Der Europarat über die Rechte der Kranken und Sterbenden

vorgängevorgänge 3612/1978Seite 108-110

aus: vorgänge Nr. 36 (Heft 6/1978), S. 108-110

(vg) Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat am 29. Januar 1976 in ihrer 27. ordentlichen Sitzungsperiode (24. Sitzung) zwei Dokumente über die Rechte der Kranken und Sterbenden angenommen, die in der deutschen Öffentlichkeit weithin unbekannt geblieben sind: die Recommendation 779 (1976) und die Resolution 613 (1976) an the righis of thesick and dying bzw. relative aux droits des malades et des mourants“. Eine offiziöse deutsche Übersetzung dieser wichtigen Beschlüsse des Europäischen Parlaments die für die Regierungen ja nur Empfehlungscharakter haben ist uns ebenso wenig bekannt wie etwa eine Aktivität der Bundesregierung, die Empfehlungen in die Tat umzusetzen. Wir geben die Texte hier in eigener Übersetzung wieder*.

* Was einige Schwierigkeiten machte, weil einerseits der Sprachstil solcher quasi obrigkeitlichen Empfehlungen dazu führt, dass alles in nur einem unendlich verschachtelten Bandwurmsatz untergebracht wird, weil es anderseits Differenzen zwischen den in den beiden offiziellen Europa-Sprachen Englisch und Französisch bekannt gemachten Texten gibt. Das führt an mancher Stelle zu Auslegungsschwierigkeiten oder -spielräumen; um nur ein Beispiel (von manchen möglichen) zu erwähnen: in Punkt 1 der „Resolution” heißt es an der Stelle, wo über die Anwendung der modernsten Techniken zur Lebensverlängerung die Rede ist, im Englischen „a zealous application…” (also etwa: „eine übereifrige Anwendung“), im Französischen „le recours systématique” (also etwa: „die systematische Beanspruchung“), was doch wohl einen Unterschied macht. (Die schon 1976 in: Milton D. Heifetz, Das Recht zu sterben. Umschau-Verlag Frankfurt, versuchte Übersetzung der Texte ist übrigens nicht eine der tatsächlich verabschiedeten Empfehlung und Resolution, sondern der Entwürfe zu diesen. Die am 29. Januar 1976 angenommenen Texte weichen von diesen Entwürfen ab und sind erheblich umfangreicher.)

GH

Empfehlung 779 (1976) über die Rechte der Kranken und Sterbenden

  1. In Erwägung, dass der rasche und anhaltende Fortschritt der medizinischen Wissenschaft im Hinblick auf die grundlegenden Menschenrechte und die Integrität kranker Menschen Probleme aufwirft und sogar bestimmte Bedrohungen mit sich bringen kann;
  2. In Feststellung der Tendenz, dass eine verbesserte medizinische Technologie zu einer anwachsend technischen und manchmal weniger menschlichen Behandlung von Patienten führt;
  3. In der Beobachtung, dass es kranken Personen schwer fallen kann, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, insbesondere wenn sie sich in großen Krankenhäusern der Behandlung unterziehen müssen;
  4. In Erwägung, dass in jüngster Zeit allgemein anerkannt wird, dass Ärzte im Hinblick auf die Behandlung, der sich jemand zu unterziehen hat, in erster Linie den Willen der betroffenen kranken Person respektieren sollten;
  5. In der Auffassung, dass das Recht auf persönliche Würde und Integrität, auf Information und angemessene Pflege klar definiert und jeder Person gewährt werden sollte;
  6. In der Überzeugung, dass es die Pflicht des Ärztestandes ist, der Menschheit zu dienen, die Gesundheit zu schützen, Krankheiten und Verletzungen zu behandeln
    und Leiden zu lindern, mit Achtung vor dem menschlichen Leben und der menschlichen Person; und in der Überzeugung, dass die Verlängerung des Lebens nicht an sich das ausschließliche Ziel ärztlicher Praxis bilden sollte, diese (vielmehr) gleichermaßen um die Linderung von Leiden bemüht sein muss;
  7. In Erwägung, dass der Arzt sich jederzeit bemühen muss, Leiden zu erleichtern und dass er, selbst in Fällen, die ihm als hoffnungslos erscheinen, kein Recht hat, absichtlich den natürlichen Verlauf des Todes zu beschleunigen;
  8. In besonderer Hervorhebung des Umstands, dass die Verlängerung des Lebens durch künstliche Mittel in erheblichem Ausmaß von Faktoren wie etwa der Verfügbarkeit leistungsfähiger Geräte abhängt und dass Ärzte, die in Krankenhäusern arbeiten, in denen die technische Ausrüstung eine besonders lange Verlängerung des Lebens gestattet, sich vielfach in eine schwierige Lage versetzt finden, was die Fortsetzung der Behandlung insbesondere in solchen Fällen betrifft, in denen sämtliche zerebralen Funktionen einer Person unwiderruflich ausgesetzt haben;
  9. Im Beharren darauf, dass Ärzte in Übereinstimmung mit dem Stand der Wissenschaft und bewährter medizinischer Erfahrung handeln sollen und dass kein Arzt oder sonstiger Angehöriger des Medizinerstandes gezwungen werden darf, in Beziehung auf das Recht der Kranken, nicht übermäßig leiden zu müssen, gegen das Gebot seines eigenen Gewissens zu handeln;
  10. Empfiehlt die Parlamentarische Versammlung dem Ministerausschuss, die Regierungen der Mitgliedsstaaten aufzufordern:
  • I. a) insbesondere im Hinblick auf die Ausbildung medizinischen Personals und die Organisation der medizinischen Dienstleistungseinrichtungen alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass alle kranken Personen, ob sie sich nun im Krankenhaus oder in ihrem eigenen Heim befinden, die wirksamste Linderung ihres Leidens erhalten, die der gegenwärtige Stand des medizinischen Wissens ermöglicht;
  • b) auf Ärzte einzuwirken, dass die Kranken, wenn sie dies fordern, ein Recht auf vollständige Unterrichtung über ihre Krankheit und die vorgeschlagene Behandlung haben, sowie Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass bei Aufnahme ins Krankenhaus über den Dienstbetrieb, die Verfahren und die medizinische Ausrüstung der Institution besondere Informationen gegeben werden;
  • c) sicherzustellen, dass alle Personen Gelegenheit erhalten, sich psychisch darauf vorzubereiten, dem Faktum des Todes entgegenzusehen, sowie den notwendigen Beistand zu diesem Ende zu gewährleisten sowohl durch das behandelnde Personal Ärzte, Schwestern und Pfleger, das eine Grundschulung durchlaufen sollte, die es ihm ermöglicht, diese Probleme mit Personen zu erörtern, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, als auch durch Psychiater, Geistliche oder an den Krankenhäusern beschäftigte spezialisierte Sozialarbeiter;
  • II. nationale Untersuchungsausschüsse, bestehend aus Vertretern aller Ebenen des Medizinerberufs, Juristen, Moraltheologen, Psychologen und Soziologen, einzuberufen, um die ethischen Regeln für die Behandlung von Personen, die sich dem Lebensende nähern, aufzustellen und um die medizinischen Leitprinzipien für die Anwendung außerordentlicher Maßnahmen, das Leben zu verlängern, festzulegen, wobei sie unter anderem erwägen sollen, in welche Situation Angehörige des ärztlichen Berufs etwa zivil- oder strafrechtliche Sanktionen geraten können, wenn sie von wirkungsvollen künstlichen Maßnahmen zur Verlängerung des Todesprozesses Abstand genommen haben im Fall terminal Kranker, deren Leben durch die gegenwärtige Medizin nicht gerettet werden kann, oder wenn sie positive Maßnahmen ergriffen haben, deren primäre Absicht es war, das Leiden solcher Patienten zu mindern, die jedoch eine Nebenwirkung auf den Prozess des Sterbens haben könnten, sowie die Frage schriftlicher Erklärungen zu prüfen, die von rechtsfähigen Personen abgegeben werden und die Ärzte ermächtigen, von lebensverlängernden Maßnahmen abzusehen, besonders im Fall unwiderruflichen Stillstands der Hirnfunktionen;
  • III. nationale Kommissionen einzurichten (falls nicht schon vergleichbare Einrichtungen bestehen), die Beschwerden gegen medizinisches Personal über Fehler oder Nachlässigkeiten bei der Ausübung seines Berufs prüfen und zwar unter Vorbehalt der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte;
  • IV. den Europarat über ihre Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen zu informieren mit dem Ziel, die Kriterien bezüglich der Rechte der Kranken und Sterbenden sowie der gesetzlichen und technischen Mittel zur Gewährleistung ihrer Anwendung zu harmonisieren.

Resolution 613 (1976) über die Rechte der Kranken und Sterbenden

  1. In der Meinung aus Gründen, die in der Empfehlung 779 (1976) über die Rechte der Kranken umrissen und im Bericht ihres Ausschusses für Sozial- und Gesundheitsfragen (Dokument 3699) dargelegt sind , dass den wahren Interessen der Kranken durch eine übertriebene Anwendung der modernsten Techniken zur Lebensverlängerung nicht immer am besten gedient ist;
  2. In der Überzeugung, dass das, was sterbende Patienten am meisten wünschen, ein Tod in Frieden und Würde ist, wenn möglich unter Zuspruch und Beistand ihrer Familie und ihrer Freunde;
  3. In Besorgnis, dass durch die Ungewissheit über die geeignetsten Merkmale für die Bestimmung des Todes unnötige Qualen verursacht werden können;
  4. Im Beharren darauf, dass bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts keine anderen Interessen berücksichtigt werden können als die der sterbenden Person;
  5. Fordert die Parlamentarische Versammlung die verantwortlichen Körperschaften des Ärztestandes in den Mitgliedstaaten auf, streng die Kriterien zu prüfen, nach denen gegenwärtig Entscheidungen über die Einleitung von Wiederbelebungsverfahren und die Aufnahme von Patienten in eine langfristige Pflege, die künstliche Mittel der Lebenserhaltung erfordert, getroffen werden;
  6. Fordert die Parlamentarische Versammlung das Europäische Büro bei der Weltgesundheitsorganisation auf, die Kriterien, die in den verschiedenen europäischen Ländern für die Bestimmung des Todes bestehen, im Licht der gegenwärtigen medizinischen Kenntnisse und Techniken zu prüfen und Vorschläge für ihre Harmonisierung zu machen, die gewissermaßen allgemeingültig nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in der normalen ärztlichen Praxis angewendet werden können.
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