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Die Hilfs­be­dürf­tig­keit der Helfer

vorgängevorgänge 3612/1978Seite 122-123

Rezension Wolfgang Schmidbauer – Die hilflosen Helfer.

aus: vorgänge Nr. 36 (Heft 6/1978), S. 122-123

Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Rowohlt Verlag Reinbek 1977. 19,80 DM.

Es handelt sich um ein gut lesbares, auch für den Laien verständliches Buch über die Psychopathologie des Helfens. Schmidbauer bezeichnet Fehlformen des Helfenwollens als „Helfersyndrom“, das er verdienstvoll ohne Diskriminierung darstellt. Für die von ihm beschriebene Gruppe von Menschen gewinnt das Helfen Zwangscharakter, sie können nur Hilfe geben und geben sich, als ob sie keine Hilfe brauchten. Nicht alles ist wissenschaftlich stichhaltig, es werden jedoch signifikante Tendenzen deutlich.
Schmidbauers Helfersyndrom wird im wesentlichen mitverursacht durch eine einseitig traditionalistische Ausbildung, die Komplexe provoziert, wenn einer sich den Anforderungen unermüdlicher altruistischer Aufopferung nicht gewachsen zeigt. Der Autor fordert, neben der Fachausbildung Selbsterfahrungsgruppen zu bilden, die der Konfliktaufhellung und Motivationsklärung dienen. Es wird eine Demokratisierung in den behördlichen und freigemeinnützigen Institutionen gefordert. Das Helfersyndrom äußert sich auch in der starren Bürokratie, im konservativen Festhalten an einem eingeschlagenen Weg, der verhindert, als notwendig erkannte Veränderungen durchzusetzen. Wegen der Fortschrittsfeindlichkeit und Unfähigkeit, Kritik zu akzeptieren, mache der Abwehrcharakter solchen Helfens aus Wohltat Plage, aus Vernunft Unsinn. Er nennt das Ergebnis bei den Hilfeempfangenden „seelische Hospitation“, ein psychischer Schaden, der sich bei Menschen einstellt, die längere Zeit in Helferinstitutionen „verwahrt“ werden.
Es wird eine Helfer-Schützling-Hierarchie aufgebaut, um den abhängigen Partner möglichst lange darin festzuhalten. Das bestimmende Motiv ist nicht „das Beste des Schützlings“, sondern Befriedigung von Ehrgeiz und Machtausübung. Einerseits erhöht der erfolgreiche Abschluß der Behandlung das Selbstwertgefühl des Helfers, andererseits wird durch die Heilung das Ende der Abhängigkeit und der Verpflichtung zur Dankbarkeit herbeigeführt.
Der Eingriff in das Rollenspiel beim „rooming in“ zur Vermeidung des Trennungsschocks gefährdet z.B. die alleinige Zuwendung und Dankbarkeit der Kleinkinder im Krankenhaus; unbewußt werden organisatorische und hygienische Schwierigkeiten vorgeschoben.
Die angeführten Beispiele finden vielfältig Bestätigung in gleichlautenden Erfahrungen bei Schwestern, Sozialarbeitern, Lehrern, Pfarrern, Ärzten, Psychologen und anderen Helfergruppen, die ihre Schützlinge in Abhängigkeit halten, um die Rolle des all-mächtigen und all-wissenden Heilenden und Helfenden nicht zu gefährden.
Der Helfer versucht oft zur Vertuschung oder Bagatellisierung eigener seelischer Probleme und Nöte den Eindruck von Autorität und Stärke zu erwecken; er begrüßt dagegen das Eingeständnis von Labilität und emotionalen Schwankungen bei anderen, die er als hilfsbedürftige Schutzbefohlene annimmt.
Schmidbauer weist dagegen nach, daß die Gruppe der hilfsbedürftigen Helfer durchaus nicht gering ist. Bei Ärzten z.B. wurden im Vergleich mit anderen sozialen Gruppen eindeutig mehr Alkohol- und Drogenabhängige, häufigere Einweisung in psychiatrische Krankenhäuser sowie mehr Selbstmorde nachgewiesen.
Der Autor, selbst Psychotherapeut, setzt bei solchen Angehörigen helfender Berufe, auf die das Helfersyndrom zutrifft, charakteristische Persönlichkeitsmerkmale voraus; sie wollen eigene Lebenskonflikte durch erstarrende Sozialhilferiten bewältigen. Solche Persönlichkeitsmerkmale sind:

  1. Frühkindliches Erleiden oft unbewußter Ablehnung, das nur durch Über-Ich-Empfindungen kompensiert werden kann.
  2. Übermäßige narzißtische Bedürfnisse, verbunden mit Empfindlichkeit gegen jegliche Kritik.
  3. Vermeidung von Beziehungen zu Nicht-Hilfsbedürftigen, d.h. keine gleichwertige Partnerschaft.
  4. Vermeidung aggressiver Verhaltensweisen gegenüber Nicht-Hilfsbedürftigen.

Solche Charakteristika werden in verschiedener Intensität angetroffen. Wer Kritik fürchtet und stets Lob und Anerkennung sucht, hat auch Angst vor einer echten Zweierbeziehung, die ohne kritisches Austragen von Konflikten nicht wahrhaftig wäre. So findet sich nach Schmidbauer auch eine hohe Scheidungsquote unter den Mitgliedern helfender Berufe. Imübrigen werden natürlich Helfer-Situationen nicht nur bei Helfer-Berufen angetroffen.
Abschließend wäre vielleicht anzumerken, daß der Titel „Die hilflosen Helfer“ wohl bewußt provozierend gewählt wurde. Die Arbeit macht eigentlich mehr die Hilfsbedürftigkeit der Helfer deutlich. 
Der Referent möchte als Arzt, Sozialmediziner und Leiter der Freien Frauen- und Familienberatung der Humanistischen Union Wolfgang Schmidbauers Folgerungen aus seinen Analysen bekräftigen; er hat sich wiederholt darin wiedergefunden. Auch andere Helfer haben ihm ähnliches bestätigt. Das Buch ist für Helfer und Nicht-Helfer zur Verbesserung ihres Selbst-Verständnisses weiterzuempfehlen.

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