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Die antili­be­rale Tenden­z­wende in der Straf­rechts­pflege

Aus: vorgänge Nr. 36 (Heft 6/1978), S. 12-18

(vg) Der Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union wurde 1978, zehn Jahre nach dem Tode Fritz Bauers, des unbeirrbaren Generalanwalts „im Kampf um des Menschen Rechte”, an den Bonner Strafrechtslehrer Gerald Grünwald vergeben. Vor ihm haben Helga Einsele, Gustav W. Heinemann, Birgitta Wolf, Emmy Diemer-Nicolaus, Heinrich Hannover, Helmut Ostermeyer, Werner Hill und Heinz-Dietrich Stark den Preis erhalten.

Gerald Grünwald fügt sich in diese Reihe würdig ein, da er als Rechtsreformer nicht nur in Zeiten, als Reformen gefragt waren, unbeirrt seine Ansichten vertrat, sondern auch, und zwar noch entschiedener in den letzten Jahren, in denen den Anwälten der Menschlichkeit im Strafrecht, Strafprozeßrecht und Strafvollzugsrecht kaum jemand mehr Gehör schenken mochte, weil die Masse der Bürger und leider auch eine Mehrheit der beauftragten Politiker meint, man könne Straftaten und Rechtsbrüchen nur mit schärferen Rechts- und Freiheitseinschränkungen beikommen.

Gerald Grünwald wurde der Fritz-Bauer-Preis am 27. September 1978 in Bonn überreicht. Die Begründung für die Preisverleihung an ihn, wurde von der Vorsitzenden der Humanistischen Union, Dr. Charlotte Maack, vorgetragen. Die Laudatio auf den Preisträger hielt die Bundestagsabgeordnete und Hamburger FDP- Vorsitzende Helga Schuchardt.

Gerald Grünwald antwortete auf die Preisverleihung mit der nachfolgenden Rede.

Daß mir dieser Preis zuerkannt worden ist, der sehr ehrenvoll und mit dem Namen eines zu verehrenden Mannes verbunden ist, ist für mich Grund zur Freude und zur Dankbarkeit – für die Anerkennung meiner Arbeit und für die Ermutigung. Für alle, die in der Strafrechtspolitik mit den gleichen Zielen engagiert sind wie ich – und insofern beziehe ich die Preisverleihung nicht allein auf mich – ist die Bestätigung wertvoll, daß die Humanistische Union auf unserer Seite steht.

Der Fritz-Bauer-Preis wird verliehen für das Eintreten für die Humanisierung und Liberalisierung des Strafrechts. Damit ist das Thema vorgegeben, über das heute zu sprechen ist: Ich möchte einige Überlegungen zur Entwicklung des Strafrechts und Strafverfahrensrechts in den letzten zehn Jahren vortragen. Dabei soll es nicht um eine Bestandsaufnahme gehen; vielmehr will ich Zusammenhänge zwischen den Veränderungen des Strafrechts und Strafverfahrensrechts und politischen Tendenzen aufzeigen und auf Faktoren hinweisen, die dazu beigetragen haben, daß wir, die wir für eine liberale Strafrechtspflege eintreten, heute in der Defensive sind.

I

Eine Bestandsaufnahme will ich deshalb nicht vornehmen, weil ich dann viel schon Bekanntes wiederholen müßte. Den fortdauernden Abbau rechtsstaatlicher Sicherungen im Strafverfahren – der zusammen mit den Berufsverboten und der sich ausweitenden Überwachung der Bürger zu den bedrückendsten Erscheinungen in unserem Staat gehört – erwähne ich, ohne seine einzelnen Schritte darzustellen. Aus dem materiellen Strafrecht will ich allerdings zwei Bereiche ansprechen, weil sie – so glaube ich – nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die sie verdienen.

Das eine ist die tiefgreifende Reform des Systems der Strafen und Maßregeln, die sich in diesem Jahrzehnt vollzogen hat. Es ist gut, sich die Fortschritte vor Augen zu führen, die hier erreicht wurden – man erliegt dann nicht so leicht der Gefahr zu resignieren und nicht der Versuchung, es sich mit der Resignation leicht zu machen.

Erreicht wurde vor allem: die Abschaffung der Zuchthausstrafe, die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen zugunsten der Geldstrafen und der Strafaussetzung, die Beseitigung des Arbeitshauses und Einschränkung der Sicherungsverwahrung.

In welchem Maße die kurzfristigen Freiheitsstrafen eingeschränkt worden sind, läßt sich an den Zahlen der Statistik ablesen. Vergleicht man die Zahl der Verurteilungen im Jahre 1976 mit denen von 1966, so ergibt sich: Seinerzeit, 1966, wurden zu vollziehbaren Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten verurteilt 117 000 Täter; zehn Jahre danach waren es knapp 20 000. Noch anschaulicher wird die Veränderung wohl, wenn man die Gesamtzahl aller zu vollziehbaren Freiheitsstrafen unterschiedlicher Dauer Verurteilten ansieht. 1966 waren das 134000— 1976 hingegen 36 000.

Man muß diese Zahlen in Menschenschicksale übersetzen, und dann bedeuten sie: 100 000 Menschen blieb das Leid und die Demütigung der Einsperrung erspart. Erspart blieb Hunderten die Sinn- und Trostlosigkeit des Arbeitshauses und die Hoffnungslosigkeit der Sicherungsverwahrung — 1966 waren noch 400 in das inzwischen abgeschaffte Arbeitshaus geschickt worden; die Verurteilungen zu Sicherungsverwahrung sanken in den zehn Jahren von 240 auf 60 – das sind freilich immer noch 60 zuviel.

Die Strafrechtsreform ist Stückwerk geblieben. Derjenige, der zu Freiheitsstrafe verurteilt wird, kommt nachwievor in einen Strafvollzug, dem zwar die Resozialisierung als Ziel vorgegeben ist, dessen Bedingungen aber diesem Ziel entgegenstehen.

Das Strafvollzugsgesetz hat die wesentlichen inhaltlichen Reformen nicht gebracht. Zwar verheißt das Gesetz vieles, wichtige Elemente eines Resozialisierungsvollzugs sind in Paragraphen gegossen — aber für die Paragraphen, auf die es ankommt, ist dann in den Schlußvorschriften bestimmt, daß sie vorerst nicht inkrafttreten. Auch die Einrichtung Sozialtherapeutischer Anstalten, die dem sozial Geschädigten Hilfe bieten könnten, ist ein gesetzgeberisches Versprechen geblieben, dessen Einlösung immer weiter hinausgeschoben wird — jetzt bis 1985. Es besteht darum kein Grund, daß wir uns mit dem Zustand unseres Strafrechts zufriedengeben — aber immerhin: Wir haben ein Strafrecht, das weniger inhuman ist als das der Vergangenheit.

Der zweite Bereich, den ich anspreche, ist aus einem ganz anderen Grunde hervorzuheben – deshalb nämlich, weil sich in ihm eine besorgniserregende Entwicklung abzeichnet. Ich meine die zunehmende Einengung der Meinungsfreiheit mithilfe des Strafrechts.

Es ist eine Banalität, daß zu einer freiheitlichen Demokratie die Freiheit der Kritik an Akten der Staatsgewalt und der Kritik an den politischen Verhältnissen im Staat gehört, daß solche Kritik für die Demokratie lebenswichtig ist. In letzter Zeit aber sind mehrere Gerichtsentscheidungen ergangen, die eben diese Kritik für strafbar erklären, wenn sie „maßlos” ist — das heißt, wenn die- jeweiligen Richter sie als maßlos bewerten – oder wenn sie von jemandem vorgetragen wird, dessen Gesinnung die Richter als „dem Staat feindselig” beurteilen.

Es sind Entscheidungen zu § 90a StGB, dem Tatbestand der Verunglimpfung des Staates. Die wichtigste ist der Beschluß des Kammergerichts Berlin, in dem die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen 14 der Professoren angeordnet wurde, die die Dokumentation zum „Buback-Nachruf” veröffentlicht haben. Das Argumentationsmuster dieses Beschlusses hat inzwischen bei anderen Gerichten Schule gemacht. Strafbar sollen die Professoren nicht wegen des Abdrucks des „Nachrufs” sein – diesen haben sie nur dokumentiert, ohne sich mit ihm zu identifizieren — sondern wegen des von ihnen verfaßten Vorspanns. Darin ist die Rede von einem „Nachruf, den zu veröffentlichen unter Strafe gestellt ist” – nach Ansicht des Kammergerichts eine Beschimpfung der Bundesrepublik, weil „unter Strafe gestellt” besage, daß der Nachruf eigentlich nicht strafbar sei, und damit der Vorwurf der Willkür erhoben werde. Die zweite Beschimpfung sieht das Kammergericht darin, daß über unsere Gesellschaft ausgesagt wird, daß sich „faschistoide Tendenzen ungehindert breit machen können”.

Das, was man diesen Sätzen allenfalls entnehmen kann, ist Kritik an Handlungen einzelner Strafverfolgungsbehörden und Kritik am Untätigbleiben gegenüber Tendenzen, die als faschistoid bezeichnet werden. Im Beschluß des Kammergerichts wird dies zum Angriff auf den Staat Bundesrepublik.

In einer weiteren Entscheidung wird die Assoziationskette — Kritik am Verhalten von Staatsorganen gleich Angriff auf den Staat — noch um ein Glied erweitert, nämlich: gleich Angriff auf die Verfassungsordnung. So geschehen im Beschluß des Verwaltungsgerichts Hannover in der Disziplinarsache gegen Professor Brückner. Dort heißt es, einer Verletzung der Verfassungstreuepflicht mache sich nicht nur schuldig, wer die „freiheitlich-demokratische Grundordnung offen (angreift)”, sondern auch der, der „im Gewande der Kritik am Gesetzgeber, an Gerichten, Polizei- und Strafverfolgungsbehörden unter Außerachtlassung jeder Bemühung um Augenmaß die verfassungsmäßigen Organe der Bundesrepublik ständig durch pauschal erhohene Vorwürfe verächtlich macht“. Nun soll freilich nicht jeder mit Sanktionen belegt werden, der das Verhalten von Staatsorganen kritisiert — derjenige, der das „maßvoll” tut, ist hiergegen gefeit, es sei denn, er hat eine „dem Staat feindselige Gesinnung”. Aber die Sache wird nicht besser dadurch, daß das Recht zur Meinungsäußerung davon abhängig gemacht wird, ob man zu den staatsfeindlich oder staatsfreundlich Gesonnenen gerechnet wird. (Symptomatisch ist ein Urteil eines Amtsgerichts zu § 90a, in dessen Begründung sich an erster Stelle die Einstufung der Angeklagten findet – „alle drei Angeklagten stehen der in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Ordnung ablehnend gegenüber” — und erst danach die Schilderung ihrer Handlungen.)

Man würde diese Entscheidungen unterschätzen, wenn man sie als Randerscheinungen abtun würde. Sie stehen in einem Zusammenhang mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung der Bewerber für den öffentlichen Dienst: Auch dort sind Verfassung, Staat und Staatsorgane als Respektobjekte nebeneinandergestellt; und im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ist auch schon das Muster vorgezeichnet, nach dem eine Kritik als erlaubt oder als pflichtwidrig beurteilt werden kann, je nachdem, wie die Gesinnung des sie Äußernden eingeschätzt wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, der Beamte müsse die Verf assungsordnung, auch soweit sie veränderbar ist, bejahen, sich zu ihr bekennen, und weiter: „Der Beamte, der dies tut, kann von diesem Boden aus auch Kritik äußern und Bestrebungen nach Änderung der bestehenden Verhältnisse unterstützen.”

Das, was das Bundesverfassungsgericht für den Beamten ausgesprochen hat, wird nun von den Strafgerichten — etwas verdünnt — auf alle Bürger ausgeweitet. Man muß sich klar machen, welche Definitionsmacht damit den jeweils zuständigen Staatsorganen zugesprochen wird: Wenn jemand an den Zuständen im Staat einiges für gut hält, anderes für beseitigenswert, so kann man das so beurteilen, daß er dem Staat positiv gegenüber-stehe und „von diesem Boden aus” bestehende Verhältnisse verändern will, genausogut aber auch so, daß ihm die positive Einstellung zur „Verfassungsordnung, auch soweit sie veränderbar ist” fehle.

Aber selbst wenn es Kriterien gäbe, nach denen das Urteil so oder so auszufallen hätte — schlimm ist es schon, daß Staatsorgane überhaupt die Befugnis beanspruchen, über die Staatsgesinnung der Bürger zu urteilen und ihnen je nach dem Ergebnis der Prüfung das Recht zu Kritik zu gewähren oder zu versagen.

II.

Diese Urteile entsprechen nicht einem freiheitlichen, sondern einem obrigkeitsstaatlichen Staatsverständnis. Damit komme ich zu dem, was ich über den Zusammenhang der Entwicklungen im Recht mit denen der Politik vorzutragen habe.

Anzeichen dafür, daß sich das Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Staat verändert, sind vorallem im Strafverfahrensrecht unübersehbar. Die Gesetzesänderungen der letzten Jahre haben die Vorkehrungen für den Schutz des Beschuldigten verringert, die Machtbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden erweitert. Nun wird allerdings argumentiert, darin liege garkeine Veränderung der Wertung, man begegne nur neuartigen und größeren Gefahren, und es gehe garnicht um den Staat, sondern um die Abwendung von Bedrohungen der Bürger; man dürfe eben nicht nur an den Beschuldigten denken, sondern auch an die Opfer, die durch ein effektiveres Strafverfahrensrecht vielleicht gerettet werden.

Ich meine, daß dies zur Erklärung der sogenannten Antiterrorgesetze nicht ausreicht. Nicht nur deshalb, weil zu bezweifeln ist, ob durch die Verschärfung der Strafprozeßordnung tatsächlich irgendeine Gewalttat verhindert wird — hierüber mag man streiten —, sondern vorallem aus folgendem Grunde: Faßt man ausschließlich die Gefahren für Leib, Leben und Freiheit ins Auge, so muß man feststellen, daß die terroristischen Gewalttaten nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtzahl der Gewalttaten ausmachen. Das, was sie aus der großen Zahl gleich schwerer Taten heraushebt und den Gesetzgeber zu immer neuen Maßnahmen veranlaßt, ist offenbar dies: daß die Täter durch diese Taten zugleich den Staat angreifen und seine Autorität in Frage stellen.

Zudem sind einige der neuen Gesetze und Gesetzesvorschläge so zugeschnitten, daß sich aus ihnen ablesen läßt, daß sie nicht so sehr die Interessen möglicher Opfer schützen wie vielmehr die Staatsordnung. Das deutlichste Beispiel ist das von der Bundesregierung entworfene Kronzeugenprivileg, das allerdings nicht Gesetz geworden ist. Die Regelung stellte zwar dem Terroristen Straffreiheit oder Strafmilderung in Aussicht, der den Strafverfolgungsbehörden bei der Ergreifung oder Überführung anderer Mitglieder der Vereinigung behilflich ist — nicht hingegen dem, der geplante Verbrechen der Vereinigung verhindert, auch wenn er damit Menschenleben rettet.

Eine weitere Veränderung im Verhältnis von Staat und Bürger: Immer häufiger nehmen Staatsorgane das Recht für sich in Anspruch, die gesetzlichen Grenzen zu überschreiten, die den Eingriffen der Staatsgewalt in Rechte des Bürgers gezogen sind, unter Berufung auf den Notstandsparagraphen des Strafgesetzbuches oder auf einen übergesetzlichen Notstand. Damals im Fall Traube wurde die Einmaligkeit der Situation beschworen, der Entschluß des Innenministers erschien in der Bundestagsdebatte in einem Licht, das ihm geradezu die Dimension antiker Tragödien verlieh — bis dann ein „Lauschangriff” nach dem anderen an den Tag gebracht wurde.

In der Argumentation mit dem Notstand gab es noch Steigerungen; einmal das Belauschen von Verteidigergesprächen in Stammheim, wo es nicht um einen Konfliktfall ging, von dem man behaupten konnte, der Gesetzgeber habe ihn nicht bedacht, sondern um eine eindeutige Auflehnung gegen die gesetzgeberische Entscheidung. Eine zweite Steigerung gab es bei der Kontaktsperre. Nachdem ohne gesetzliche Grundlage auch die Unterbindung des Verteidigerverkehrs angeordnet worden war, gab es einzelne Gerichtsentscheidungen, die solche Anordnungen aufhoben. Die Reaktion der Exekutive war die Anweisung, diese richterlichen Entscheidungen nicht zu befolgen.

Inzwischen wird die Argumentation mit dem Notstand als Rechtfertigung für staatliche Eingriffe zur Routine — und damit wird eigentlich immer offensichtlicher, daß sie nicht stimmen kann. Gleichzeitig wird das Aufsehen, das solche Meldungen auslösen — wie die, daß Polizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutz Daten von Sozialversicherungsträgern aus „übergesetzlicher Rechtsgüterabwägung” abrufen — immer geringer. Das mag sich zu einem Teil daraus erklären, daß Gegenstand des öffentlichen Interesses eben nur Neuigkeiten sind. Daß Staatsorgane sich um vermeintlich höherer Ziele willen über Gesetze hinwegsetzen, war im Fall Traube noch eine Neuigkeit, heute ist es das nicht mehr.

Das nachlassende Interesse ist aber wohl nicht nur eine Abnutzungserscheinung. Die Beschränkung der Staatsgewalt durch strikte Bindung an die Gesetze und damit die Sicherung der Freiheitssphäre des Bürgers wird in unserer Gesellschaft offenbar nicht mehr von allen als vorrangig anerkannt, in seiner Bedeutung wohl auch vielfach nicht voll erfaßt. Man begegnet immer wieder Argumenten wie denen, daß eine staatliche Maßnahme, wenn sie ein vernünftiges Ziel verfolge, immer auch rechtlich zu legitimieren sein müsse, daß sie nicht an „formal-juristischen” Hindernissen scheitern dürfe, daß man nicht so sehr um den Schutz des Einzelnen besorgt sein solle, sondern den Staatsorganen freiere Hand lassen solle, da sie doch vertrauenswürdig seien.

Solche Argumente werden von unterschiedlichen staats- und gesellschaftspolitischen Positionen aus vertreten. Zumeist liegt ihnen eine konservativ-autoritäre Staatsauffassung zugrunde, nach der der Staat als über der Gesellschaft stehend begriffen wird, beauftragt mit der Wahrung einer vorgegebenen Ordnung und damit legitimiert, vom Einzelnen zu fordern, daß er sich dieser Ordnung einfüge. Solche Auffassungen werden heute nur selten unverbrämt vorgetragen — bisweilen trifft man aber auch auf unmißverständliche Formulierungen.

Ein Zitat aus einer akademischen Rede, gehalten von einem Juristen in diesem Jahr: Er übte Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der 50er und 60er Jahre, weil es „die Freiheitsrechte als ,Abwehrmittel gegen den Staat‘ charakterisierte, anstatt aus ihnen höchste Verpflichtungen gegenüber dem Staat zu entnehmen”. Der Autor meint dabei offenbar, daß der von ihm erstrebte Wandel vom Bundesverfassungsgericht inzwischen vollzogen sei, denn nur auf dessen frühere Rechtsprechung bezieht er seine Kritik, daß das Gericht die Freiheitsrechte als Freiheitsrechte verstanden habe.

Dies ist eines der Hindernisse, auf die das Bemühen um ein liberales Strafrecht und Strafverfahrensrecht stößt: daß in unserer Gesellschaft staatsautoritäre Einstellungen verbreitet sind — und zwar auch bei Menschen, die den Staat Bundesrepublik bejahen und mittragen und die darum diesen Staat, der als ein freiheitlicher verfaßt ist, ihrer Einstellung gemäß zu gestalten suchen.

Die Forderung, den Trägern der Staatsgewalt freiere Hand zu geben, und die Geringschätzung „formal-juristischer” Bindungen wird aber auch von Vertretern einer ganz anderen Richtung geäußert. Diese Richtung versteht sich selbst als progressiv, und sie ist es auch in dem Sinne, daß sie soziale Reformen und den Abbau gesellschaftlicher Machtpositionen anstrebt. Ihr Kennzeichen ist die Annahme, daß Sozialstaat und liberaler Rechtsstaat Gegensätze seien und daß der liberale Rechtsstaat überholt sei.

Die Anhänger dieser Richtung unterliegen mehreren Irrtümern. Der eine hängt mit der Vielschichtigkeit des Begriffs „liberal” zusammen. Man kann mit ihm assoziieren: die unbegrenzte Freiheit wirtschaftlicher Entfaltung, die Freiheit also auch zur Erringung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht über andere — historisch war das ein Aspekt dieses Begriffs, und mancher, der sich als Liberaler versteht, meint auch diese Freiheit. Aber es wäre verfehlt, mit der Überwindung eines so verstandenen Liberalismus auch das ad acta zu legen, was den liberalen Rechtsstaat ausmacht — eben die Sicherung der Sphäre des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt durch deren Bindung an das Recht. Auch in einem sozialen oder sozialistischen Staat besteht keine Identität der Interessen des Einzelnen mit denen der Gesellschaft und des Staates, die Beschränkung der Staatsgewalt ist darum auch in ihm unentbehrlich.

Ein weiterer Irrtum jener Richtung läßt sich am besten verdeutlichen an einer Äußerung, die man von ihren Anhängern in der sozialliberalen Koalition nicht selten hört: Da wir, die wir für die Interessen der Bürger, ihre Freiheit und für soziale Gerechtigkeit eintreten, die Staatsgewalt in den Händen haben, braucht man sich um den Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt nicht mehr so viele Sorgen zu machen. Diejenigen, die das sagen, geben sich einer Selbsttäuschung hin, wenn sie glauben, daß sie den gesamten Staatsapparat einschließlich Bürokratie und Justiz lenkten und daß unsere Rechtsordnung so beschaffen sei, wie es ihren Intentionen entspricht.

Konkret zum Strafrecht: Es wird argumentiert, daß bei einem Strafrecht, dessen Ziel Resozialisierung ist, die Formstrenge des Strafverfahrens vermindert werden könne und das Verfahren vielmehr auf Kooperation zwischen allen Beteiligten ausgerichtet werden solle — denn wenn die Strafe nicht der Übelszufügung diene, sondern der Wiedereingliederung des Täters, so sei der Interessenwiderstreit zwischen strafender Staatsgewalt und Beschuldigtem entschärft. Das klingt gut — doch wird damit das Strafrecht, wie es sein sollte, mit dem verwechselt, wie es ist, denn in der Realität ist die Strafe nachwievor ein Übel für den Bestraften.

III.

Die Schwierigkeiten und Rückschläge beim Eintreten für ein liberales Strafrecht liegen aber nicht nur in den in unserer Gesellschaft vorhandenen Einstellungen begründet. Es gibt daneben auch vordergründige Ursachen.

Einer der Gründe für die breite Zustimmung zu den sogenannten Antiterrorgesetzen ist einfach ein Mangel an Information. Um die Gesetzesänderungen zu bewerten, muß man ihren wesentlichen Inhalt kennen und auch wissen, welche tatsächlichen Geschehnisse ihnen zugrundeliegen. Von beiden erhält selbst der politisch Interessierte in der Regel ein verzerrtes Bild.

Ein paar Beispiele für Fehlinformationen über den Inhalt der Regelungen: Bei der Einführung des Verteidigerausschlusses 1975 wurde das Gesetz zumeist so dargestellt, daß Verteidiger, die mit ihren Mandanten konspirieren, auszuschließen seien — und das klingt nur vernünftig. Das Problematische, nämlich daß der Verteidiger auf Verdacht hin ausgeschlossen wird, wurde nur wenigen bewußt. In diesem Jahr ist die Ausschlußvorschrift verschärft worden, indem die Verdachtsschwelle herabgesetzt wurde — und selbst diese Änderung wurde noch mit der die Zusammenhänge verschleiernden Parole propagiert: der Komplize des Angeklagten gehöre nicht auf die Verteidigerbank.

Über das Antiterrorgesetz von 1976 stand in der Presse, künftig sei jedermann verpflichtet, Pläne von Terrorakten anzuzeigen, außerdem werde die Verhaftung von Terroristen erleichtert. Wer das las, mußte sich wundern, daß so etwas nicht schon früher eingeführt worden war. Kaum jemandem wurde klar, daß die Pflicht zur Anzeige geplanter Gewalttaten schon längst vorher bestand und daß das Neue die Verpflichtung ist, Anzeige zu erstatten, wenn man erfährt, daß jemand vorhat, in einer Versammlung seine Symphatie für die RAF zu bekunden, oder daß ein Anwalt beabsichtigt, einen Hungerstreik zu unterstützen. Ebenso wurde kaum jemandem klar, daß die Verschärfung des Haftrechts für den des Terrorismus Verdächtigen keine Bedeutung hat, wohl aber für einen Parolenschmierer oder einen Verteidiger, der in den Verdacht gerät, die Grenzen zulässiger Verteidigung zu überschreiten.

Auch für die Fehlinformation über die tatsächlichen Vorgänge führe ich zwei Beispiele an: Über die in Stammheim ausgeschlossenen Anwälte wurde behauptet — und mit dieser Behauptung wurde damals die Ausschlußregelung gerechtfertigt —, daß sie als Mittelsmänner zwischen den Inhaftierten und den Terroristen im Untergrund gearbeitet hätten. In der öffentlichen Meinung entstand das Bild vom Verteidiger, der sein Verkehrsrecht zur Mitwirkung an der Planung und Vorbereitung von Gewalttaten mißbraucht. Daß dies eine Legende war, steht inzwischen jedenfalls bei diesen gemeinten Anwälten fest. Sie sind angeklagt — einer ist in erster Instanz verurteilt — ausschließlich wegen der Aufrechterhaltung von Kontakten der Häftlinge untereinander und wegen ihrer Öffentlichkeitsarbeit.

Das zweite Beispiel ist die Information über die Haftbedingungen und die Hungerstreiks der Häftlinge des Stammheimer Verfahrens. Ich vermute, daß noch heute die meisten Menschen in der Bundesrepublik glauben, daß diese Häftlinge unter geradezu unbegreiflich angenehmen Bedingungen lebten und daß ihre Hungerstreiks darum auch keinen anderen Zweck haben konnten als Agitation und Verfahrenssabotage. Diese Vorstellung hat Pate gestanden bei der Einführung des Abwesenheitsverfahrens gegen Verhandlungsunfähige, und sie hat auch beim Verteidigerausschluß eine Rolle gespielt, denn die Unterstützung der Hungerstreiks ist ja einer der Vorwürfe gegen die Verteidiger. Daß es ganz anders war, daß die Häftlinge lange Zeit einer sozialen Isolation unterworfen waren, daß sie durch die Bedingungen der Haft an ihrer psychischen Gesundheit geschädigt wurden, daß sie durch ihre Hungerstreiks Erleichterungen der Haftbedingungen nicht nur erstrebten, sondern auch erreichten — alles das kann man heute in amtlichen Dokumenten nachlesen, nämlich im Beschluß des Bundesgerichtshofs, in dem die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten gebilligt wurde, und in der Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission über die Beschwerden von Baader, Ensslin und Raspe. (Die Beschwerden wurden zurückgewiesen, und das ging durch die Presse. Aber man sollte auch die Sachdarstellung und die Begründung lesen. Daß den Beschwerden nicht stattgegeben wurde, ist damit begründet, daß „von den Beschwerdeführern nicht gesagt werden (könne), daß sie absichtlich einer Gesamtheit von körperlichen oder seelischen Leiden mit dem Ziel unterworfen gewesen sind, sie zu bestrafen, ihre Persönlichkeit zu zerstören oder Widerstandskraft zu brechen“.)

Wenn man solche Tatsachen in einer öffentlichen Diskussion vorträgt, so erlebt man es, daß viele Zuhörer betroffen sind — aber man zieht auch Unwillen und Empörung auf sich. Und hier liegt eine weitere Schwierigkeit beim Eintreten für ein liberales Strafrecht und Strafverfahrensrecht. Wer die Tatsachenbehauptungen, mit denen die neuen Gesetze begründet werden, korrigiert und wer die Gesetze selbst angreift, setzt sich dem Vorwurf

aus, er spreche für die Terroristen und ihre Helfershelfer und gegen die Staatsorgane, er stehe also in dem Kampf zwischen dem Staat und seinen Feinden auf der falschen Seite. So unsinnig ein solcher Vorwurf auch ist, so ist doch die Angst vor ihm geeignet, manchen, der es besser weiß, zum Schweigen zu bringen.

Ein etwas anderer Vorwurf spielt in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien und auch innerhalb der Parteien eine Rolle: die Beschuldigung, die Gefahren des Terrorismus nicht ernst genug zu nehmen, nicht entschieden genug gegen ihn vorzugehen und damit Gewalttaten Vorschub zu leisten. Nicht wenige Abgeordnete haben sich durch die Befürchtung, sich selbst und ihre Partei dieser Beschuldigung auszusetzen, dazu bestimmen lassen, Gesetzen zuzustimmen, die sie selbst für verfehlt halten. Ich habe in Diskussionen und Gesprächen mit Parlamentariern meine Meinung vertreten, daß die Gesetze für die Bekämpfung des Terrorismus wertlos und daß sie schädlich sind — und dann häufig erfahren, daß ich offene Türen eingerannt hatte. Die Gesprächspartner stimmten zu und hatten nur eine Erwiderung: In dem Klima, das inzwischen geschaffen worden ist, können wir unseren Wählern eine schlichte Ablehnung neuer Gesetze nicht verständlich machen, wir können sie nur abmildern, um etwas zu tun und möglichst wenig Schaden damit anzurichten.

Diese Taktik hat bewirkt, daß eine freiheitlich-rechtsstaatliche Position nach der anderen aufgegeben worden ist. Denn wer der Forderung nach Verschärfung der Gesetze nachkommt — und sei es auch nur zur Hälfte — muß ja so argumentieren, als hielte er Verschärfungen für ein geeignetes und vertretbares Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus. Damit legt er selbst die Argumente aus der Hand, mit denen er der nächsten Forderung, doch noch einen Schritt weiterzugehen, begegnen könnte. Darüberhinaus begibt er sich der Möglichkeit, die ideologische Position des Gegners offenzulegen und offen anzugreifen.

Wir haben die absurde Situation, daß Leute Forderungen erheben wie die, die Todesstrafe einzuführen, Häftlinge als Geiseln zu erschießen und Beschuldigten, die des Terrorismus verdächtigt werden, den Beistand eines Wahlverteidigers zu versagen — ohne daß sie befürchten müssen, sich damit aus der „Gemeinsamkeit aller Demokraten” auszuschließen, während jemand, der gegen die Überwachung von Bürgern und gegen Rechtsverletzungen durch Staatsorgane protestiert, bei der Wahl seiner Worte vorsichtig sein muß, damit er nicht als Verfassungsfeind eingestuft wird — als Gegner der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung. Wer etwas verändern will, muß zunächst Klarheit gewinnen über die gegenwärtige Situation und die in ihr wirkenden Faktoren. Ich hoffe, etwas dazu beigetragen zu haben.

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