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Gesetz und Recht im Wandel unserer Zeit

vorgängevorgänge 6/196506/1970Seite 251-255

Aus: vorgänge Heft 6/ 1965, S. 251-255

(vg) Wir veröffentlichen nachfolgend das Referat, das Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer beim Nürnberger Gespräch 1965 gehalten hat. Dieser Wissenschaftliche Kongreß der Stadt Nürnberg, der 1965 zum erstenmal stattfand und künftig jedes Jahr veranstaltet werden soll, stand unter dem Generalthema „Haltungen und Fehlhaltungen in Deutschland”. Die Nürnberger Gespräche sollen generell soziologische, politologische und anthropologische Fragen behandeln, deren Erörterung dazu beitragen kann, insbesondere die Begriffskomplexe Vorurteil, Leitbild und politische Bildung zu erhellen. Der diesjährige Kongreß behandelte in öffentlichen Veranstaltungen, Forumsgesprächen, Seminaren und Arbeitsgruppen unter anderen die Themen „Vaterland – wirkende Vergangenheit – erfüllbare Zukunft?”, „Was hat Auschwitz mit dem ‘deutschen Menschen’ zu tun? „Vorurteile Leitbilder – Politische Verantwortung, „Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle als Integrationsformen der Gesellschaft, „Urbilder und Tabus in ihrer Auswirkung auf die Gesellschaftsstruktur“. Zu den Veranstaltungen waren eine große Zahl bedeutender Wissenschaftler und Publizisten in Nürnberg versammelt. Das von Fritz Bauer abgehandelte Thema war Gegenstand eines wissenschaftlichen Seminars des Nürnberger Gesprächs 1965.

Im deutschen Völkerrecht wurde bis 1945 einhellig der sogenannten Kriegsräson der Vorrang vor dem auf Humanisierung bedachten Kriegsrecht gegeben; die nationale Staatsräson wurde überhaupt über das internationale Recht gestellt. Im heimischen Bereich gab es im Zug der Romantik und der Schellingschen Lehre von der bewußtlosen Entwicklung des absoluten Geistes auch die historische Rechtsschule unter Führung Savignys. Das Recht entsteht nach ihm aus dem innersten Wesen der Nation und ihrer Geschichte. Im Jahrhundert der deutschen Kodifikationen blieb Savigny jedoch ohne praktische Auswirkungen.

Im Hintergrund steht die Frage nach den juristischen Leitbildern. Es gibt aber noch andere Alternativen als Humanität oder Nation. Die meisten anderen Sprachen haben es zudem leichter als wir. Humanity und humanite bedeuten zunächst Menschheit, was eine klare Antithese zu Nation darstellt, darüberhinaus aber auch Menschlichkeit. In der Verjährungsdebatte hat es sich wieder gezeigt, daß wir in Deutschland nicht wissen, ob wir die Worte des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 „Crime against humanity” mit Verbrechen gegen die Menschheit oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit übersetzen sollen. In manchen Teilen der Welt hat man aus der Deutung „Verbrechen gegen die Menschheit” die Konsequenz der Unverjährbarkeit der Taten gezogen.

Um an das Problem der Leitlinien deutscher Gesetzgebung und Rechtsprechung heranzukommen, lautet die letzte Formulierung unserer Aufgabe „Gesetz und Recht im Wandel unserer Zeit”.

Die Worte Gesetz und Recht werden von dem Nichtjuristen als Pleonasmus, als synonym empfunden. Die durch ihren reichen Wortschatz berühmte oder berüchtigte englische Sprache kennt in Wahrheit auch nur ein Wort „law”, was damit zusammenhängt, daß das angelsächsische und ihm nahestehende Recht vorzugsweise auf Herkommen beruht, ungeschrieben ist und in den Richtersprüchen artikuliert wird, wogegen das geschriebene Gesetz oder die Rechtsverordnung in den Hintergrund treten. Am deutlichsten ergibt sich dies aus dem Fehlen einer geschriebenen Verfassung in England.

Von „Gesetz und Recht” spricht unser Grundgesetz in seinem Artikel 20. Dort heißt es: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.” Es ist kaum zweifelhaft, daß diese Fassung nicht allein um des sprachlichen Wohlklangs willen gewählt wurde, was sich z. B. schon daraus ergibt, daß Artikel 102 der Weimarer Verfassung lautete: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.” Im deutschen Richtergesetz vom 8. September 1961 ist freilich auf diese Fassung wieder zurückgegriffen worden. Paragraph 25 heißt: „Der Richter ist unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.” Da aber das Grundgesetz auch Gesetz ist, bleibt es bei der in Artikel 20 Grundgesetz festgesetzten Bindung an Gesetz und Recht.

Gesetz ist das Gebot oder Verbot, das durch die jeweilige Gesetzgebungsinstanz an die Bürger gerichtet ist. Recht ist aber eine platonische Idee; sie dürfte mit der ldee Gerechtigkeit identisch sein.

Daß hier ein Spannungsverhältnis möglich ist, bedarf keiner Begründung. Um dies deutlich zu machen, sei zitiert, was Paul Johann Anselm von Feuerbach im benachbarten Ansbach anläßlich seiner Einführung in das Amt des Präsidenten des Appellationsgerichtes im Jahre 1817 ausführte:

„Der Richter empfängt aus des Königs Hand sein Amt — aber ein Amt, das die Pflicht auf sich hat, keinem anderen Herrn zu dienen als der Gerechtigkeit. So sind also die Richter innerhalb der Grenzen ihres Richteramtes so wenig Diener der obersten Gewalt, daß sie dieser, wenn sie jene Grenzen überschreiten sollte, sogar den Gehorsam zu versagen nicht etwa nur berechtigt, sondern kraft ihres Eides verbunden sind. Der Ungehorsam ist dem Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst er allein gegeben ist. Der König, welcher heute einem Richter eine Ungerechtigkeit befiehlt, kann ihn morgen vor Gericht stellen, dafür daß er ihm Gehorsam erwiesen hat.”

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, Anselin von Feuerbach war in Deutschland ein weißer Rabe; er wird hier genannt, weil selten von richterlicher Seite so deutlich auf die Möglichkeit eines Gegensatzes von Recht und Gesetzesbefehl hingewiesen wurde. Das deutsche Verhältnis zu Gesetz und Recht hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, wenn auch die Entwicklung keineswegs so eindeutig vom Gesetzespositivismus zum sogenannten Naturrecht verläuft, wie häufig behauptet wird. Das Wort Naturrecht wird übrigens selten gebraucht; an seine Stelle treten Worte wie oberste Grundsätze des Rechts, überpositive Rechtsgrundsätze, allgemeine Leitideen, ungeschriebenes Gesetz, Gebote der Gerechtigkeit, materiale Gerechtigkeit, Sittengesetz — vom „Volksempfinden”, „allgemeinem Rechtsempfinden” und dergleichen ganz zu schweigen. Daß unsere Rechtstheorie und Praxis nie rein positivistisch sein konnte, ergibt sich aus den Generalklauseln wie „gute Sitten” und „Treu und Glauben”.

Laband, um mit der Reichsgründung zu beginnen, erklärte das juristische Tun für eine rein logische Denktätigkeit; diese Logik könne durch historische, politische oder philosophische Betrachtungen nicht ersetzt werden, sie dienten in Wahrheit nur dazu, einen Mangel an konstruktiver Denktätigkeit zu verhüllen. Anschütz folgte in seinem Kielwasser. Nach Anschütz – Thoma „darf” der Staat zwar nicht alles tun, was ihm beliebt, aber er „kann” es mit rechtsverbindlicher Wirkung für Verwaltung, Rechtsprechung und Bürger tun. Die Rechtsidee schiebt dem Gesetzgeber zwar die Rechtspflicht zur Gerechtigkeitstendenz in das Gewissen, hat jedoch nicht die Kraft, ihr widersprechendes positives Recht außer Kraft zu setzen. Radbruch konnte vor 1933 noch schreiben: „Der Jurist ist der Diener der Form, nicht der Sache: der Gerechtigkeit.” Der Richterverein beim Reichsgericht hat zwar in Verbindung mit der Inflationsgesetzgebung der Weimarer Republik darauf hingewiesen, daß der Gedanke von Treu und Glaube außerhalb der einzelnen Gesetze, außerhalb einer einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmung stehe und daß keine Rechtsordnung, die diesen Ehrennamen verdiene, ohne diesen Grundsatz bestehen könne. Darum dürfe der Gesetzgeber nicht ein Ergebnis, das Treu und Glauben gebieterisch fordern, durch sein Machtwort vereiteln; es werde erwogen, ob nicht der Eingriff des Gesetzgebers selbst als ein Verstoß gegen Treu und Glaube, als unsittlich seiner unsittlichen Folgen wegen rechtsunwirksam wäre (Jur. Wochenschrifl 1924, 90). Dies war der Richterverein. Dagegen hat das Reichsgericht selbst — z. B. RGZ 125, 279 — dem Richter die Machtbefugnis abgesprochen, „verfassungsmäßig zustandegekommene Gesetze darauf nachzuprüfen, ob sie mit Treu und Glauben oder mit den guten Sitten zu vereinbaren sind”.

Rechtspositivismus dieser Art garantiert Rechtssicherheit; Gesetz und Recht sind aber hier nichts anderes als gute oder böse, kluge oder schlechte Politik, ein Instrument der herrschenden Gewalt. Goethe hat in einem kurzen Dialog im Götz die Problematik klar angedeutet. Wenn Olearius das Corpus juris als ein Buch aller Bücher, eine Sammlung aller Gesetze nennt, meint der Abt: „Eine Sammlung aller Gesetze. Potz! Dann müssen wohl auch die Zehn Gebote drin sein.” Olearius antwortet: „Implicite wohl, nicht explicite.” Die Zehn Gebote mögen implicite im Corpus juris gestanden haben; ob sie aber in allen späteren Gesetzen auch implicite gewesen sind, das eben ist die Frage. Im Unrechtsstaat waren und sind sie gewiß nicht implicite enthalten gewesen.

Der Grundsatz „Treu und Glauben”, der nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts keineswegs nur das Schuldrecht beherrscht, sondern das ganze Privatrecht und das gesamte Gebiet des öffentlichen Rechts, und das Verbot der gegen die guten Sitten verstoßenden Rechtsgeschäfte und Handlungen war von jeher die Eingangsstelle für das, was man Naturrecht zu nennen pflegt. Es ist meines Erachtens bei der Fülle der in aller Regel auf den Einzelfall abgestellten Entscheidungen unmöglich, zu sagen, welche politischen und sozialen Vorstellungen die Richter gehabt haben. Als gute Sitten wurden die „Auffassungen aller anständigen Menschen” oder „das Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden” ausgegeben. Vor Schaffung der Demoskopie war es schwer, die Auffassungen der Menschen oder ihre Rechtsgefühle festzustellen. Das Reichsgericht hat sich auch nie — auch nicht annäherungsweise — darum bemüht. Es hat in aller Regel seine eigene Auffassung selbstherrlich als die aller anständigen, aller billig und gerecht Denkenden dekretiert, ohne rational eine Rechenschaft über seine Gründe abzulegen.

Am ehesten zeigt sich noch das Leitbild der deutschen Rechtsprechung bis 1933 im Wirtschaftsrecht, speziell im Recht der modernen Monopole und Obligopole. Man hat mit den Kartellen sympathisiert, weil sie im angeblichen Chaos der freien Marktwirtschaft Ordnung schaffen. Man hat — typischerweise — der Freiheit die kartellierte Ordnung vorgezogen, obwohl Wettbewerb gewiß den Verbrauchern nützt. Im Vernichtungskampf der Monopole gegen Außenseiter sah man ein Spiegelbild der Natur, die — wie später im Nazismus – sozialdarwinistisch interpretiert wird. Zitieren wir einen Mann wie Nippercley, dem auch in der Bundesrepublik eine sehr maßgebliche Rolle zu spielen bestimmt war. Auf dem Juristentag 1928 erklärte er zur Kartellfrage: „Die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze über Sittenwidrigkeit führen ohne unmännliche Sentimentalität praktisch zu einer weitgehenden Sicherung der Koalitionsfreiheit (gemeint ist Kartellierungsfreiheit), der Kampffreiheit und der Vertragsfreiheit, indem sie nur die gröbsten Auswüchse bekämpfen. Und das ist gut so. Die Privatrechtsordnung ist nicht dazu da, reine Ethik zu treiben und das Leben zu verweichlichen.” Worte wie „unmännliche Sentimentalitäten” und „Verweichlichung des Lebens” sind charakteristisch für die naturalistisch-nazistische Infizierung des deutschen Rechtes selbst in der Weimarzeit.

Ihr entsprach auch der bewußte oder unbewußte hegelianische Einschlag in Lehre und Praxis. Bei Binder „Staatsräson und Sittlichkeit” lesen wir, daß der Staat „als die geschichtliche und rechtliche Wirklichkeit eines Volkes ein sittliches Wesen” sei, alles, was er zur eigenen und zur Förderung der Nation unternehme, sei „sittlich gerechtfertigt”, sofern nur die Nation ihr Daseinsrecht vor dem „Richterstuhl der Geschichte und der Vernunft” darzutun vermöge. Er bekennt sich in seiner „Philosophie des Rechts” zu einer antiindividualistischen, „transpersonalen oder, wenn man will, universalistischen Metaphysik”, nach der das Recht „seiner ldee nach Zwang des einzelnen zur Gemeinschaft” ist, wobei allerdings der Zwang für sich allein nicht genüge, er vielmehr seine sittliche Rechtfertigung in dem Gedanken finden müsse, „daß ohne ihn Gemeinschaft und Kultur nicht möglich wäre”. Mit dergleichen Vorstellungen, seien sie rechtspositivistischer oder naturrechtlicher Art, wurde, wie heute kaum noch zweifelhaft sein kann, dem nazistischen „Naturrecht” der Weg geebnet. In seiner Schrift vom „Gesetzesstaat zum Rechtsstaat” erklärte Heinrich Lange 1934, der Weg vom Liberalismus zum Nationalsozialismus bedeute „den Weg vom Gesetz zum Recht”. „Reinerhaltung, Erhaltung, Förderung und Schutz des deutschen Volkes” ist Ziel und Zweck des Rechts, so Oberlandesgericht Jena. Die rassenbiologische Interpretation dieses Satzes braucht hier nicht expressis verbis genannt zu werden. Das Reichsgericht erklärte beispielsweise: „Die frühere Vorstellung vom Rechtsinhalt der Persönlichkeit machte keine grundsätzlichen Wertunterschiede nach der Gleichheit oder Verschiedenheit des Blutes; sie lehnte deshalb eine rechtliche Gliederung und Abstufung der Menschen nach Rassengesichtspunkten ab.” Anders der Nationalsozialismus. „Naturgegeben”, schrieb z. B. Dietze, „sind die Unterschiede zwischen den Völkern und jedes Recht, welches wahrhaft natürlich sein will, muß auf diesem Unterschied aufbauen: jedes Naturrecht muß arteigen, aber nicht allen eigen, d. h. allgemein sein wollen, es muß an den natürlichen Grenzen der Rassen und Völker aufhören”, usw. Als „Naturrecht” wurde der Kampf der Arten und „the survival of the fittest” eventuell mittels Gas verstanden.

Wichtiger als all das ist die Gegenwart und Zukunft. Nach dem Zusammenbruch des Unrechtsstaates importierten die Siegermächte ein humanistisches Naturrecht nach Deutschland. Es entsprach im wesentlichen den angelsächsischen Vorstellungen. Zu nennen ist vor allem das Kontrollratsgesetz Nr. 10. Hier wurden, um den entscheidenden Satz zu zitieren, Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen zu Verbrechen erklärt, ohne Rücksicht darauf, ob durch die Handlung das nationale Recht verletzt worden war oder nicht. Radbruch, der bis 1933 dem Gesetzespositivismus gefolgt war, weil ihm die Möglichkeit eines Unrechtsstaates nie in den Sinn gekommen ist, schrieb seinen berühmten Aufsatz über „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht”. Schon in seinen „5 Minuten Rechtsphilosophie” (1945) stand der entscheidende Satz: „Das muß sich dem Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: Es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß.”

Deutschland in West und Ost bekannte sich nunmehr zu übergesetzlichen Leitideen, der Osten zu der Leitidee eines dialektischen Materialismus, der Richtschnur für die Auslegung der Gesetze wurde, die Rechtsprechung der Bundesrepublik im wesentlichen zu einem Naturrecht katholischer Färbung, jedenfalls in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, während das Bundesverfassungsgericht wesentlich zurückhaltender war. Die Herkunft aus katholischen Quellen wurde in der Bundesrepublik freilich nicht ausdrücklich ausgesprochen; die Grundsätze des übergesetzlichen Rechtes wurden und werden in aller Regel nur postuliert, sozusagen als Bekenntnis abgelegt, ohne daß ihr Geltungsgrund dargelegt würde.

Beispielsweise sprach der Bundesgerichtshof von einer „angeborenen Gesundheit der Menschen nach Natur- und Schöpfungsordnung”, was offensichtlich im Widerspruch zu aller Naturwissenschaft steht. Er postulierte, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Es heißt weiter: „Indem das Sittengesetz dem Menschen die Einehe und die Familie als verbindliche Lebensform gesetzt und indem es diese Ordnung auch zur Grundlage des Lebens der Völker und Staaten gemacht hat, spricht es zugleich aus, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll.” Nichts von alledem ist jedoch in selbstverständlicher Eindeutigkeit gegeben. Ein anderes Mal heißt es, „daß jeder Selbstmordversuch — von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen — vom Sittengesetz streng mißbilligt ist, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen darf”. Auch das ist seit Jahrtausenden strittig. Pilatus fragte „Was ist Wahrheit?” Hinter seiner Frage erhebt sich eine noch viel gewaltigere Frage: Was ist Recht und Gerechtigkeit? Sie ist mit der Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gestellt. Gewiß kann die eine oder andere Wahrheit oder Gerechtigkeit bekenntnishaft geglaubt werden; die Frage ist, ob Recht und Gerechtigkeit wissenschaftlich in ihrem Grundbestand erweisbar sind. In der DDR gilt der historische Materialismus mit seinen rechtlichen Konsequenzen als Wissenschaft; die Menschenrechte werden im Grundgesetz der Bundesrepublik als oberste Werte deklariert; es wird in Theorie und Praxis davon ausgegangen, doziert und im Richterspruch gesagt, daß sie, gleichgültig ob sie im Grundgesetz stünden oder nicht, vorgegeben sind und vom Grundgesetzgeber vorgefunden wurden. Sie sind unzerbrechlich wie die Sterne selbst. Kann dies bewiesen werden? Radbruch hat es versucht, und sein Versuch ist, wie ich glaube, gelungen.

Ausgangspunkt bleibt die nicht zu bestreitende Subjektivität und Relativität der Wertentscheidungen eines jeden Menschen. Seit Max Weber wissen wir, daß jede menschliche Wertentscheidung nicht Erkenntnis, sondern Bekenntnis ist. Die wissenschaftliche Wertbetrachtung vermag nach Max Weber zwar zu lehren, was man kann und was man will, nicht aber, was man soll. Die Entscheidung des Einzelnen für den Vorrang der Freiheit vor der Ordnung oder der Ordnung vor der Freiheit, für Selbstbestimmung oder Autorität ist eine Funktion von Charakter und Umgebung des Einzelnen; sie mag subjektiv aufrichtig und wahr sein, ihre objektive Richtigkeit ist nicht nachprüfbar. Am deutlichsten ist dies bei allen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, wobei ganz dahingestellt bleiben kann, daß wir weder über alle Daten der Gegenwart noch über die der Zukunft verfügen und verfügen können. Gemeinwohl ist ein offener Begriff; sein Inhalt verändert sich bei kurz- und langfristiger Betrachtung. Welche wir wählen, ist eine freie Entscheidung. Eine Planwirtschaft, bei der das Problem besonders deutlich ist, kann auf kurze Frist ein hohes Maß von Verbrauchsgütern produzieren, sie kann auch einen gegenwärtigen Konsumverzicht fordern, Arbeitskraft und Rohstoffe in Maschinen investieren, um den Kindern und Enkeln ein höheres Maß von Konsum zu ermöglichen. Objektive Kriterien für die Richtigkeit der einen oder anderen Entscheidung gibt es nicht.

Die eigene Wertentscheidung des Menschen ist nicht beweisbar, die Wertentscheidung des Anderen, die inhaltlich abweicht, ist nicht widerlegbar. Diese Skepsis aus sokratischem Geist ist alles andere als negativ, sie meint in Wahrheit Toleranz als logische, politische und moralische Konsequenz.

Der Staat und sein Recht darf an dem wissenschaftlich belegten Faktum der Fülle individueller Wertentscheidungen und der wissenschaftlichen Tatsache ihrer Unbeweisbarkeit nicht vorübergehen; selbstverständlich, er kann es, dann geht aber Macht vor Wahrheit und damit auch vor Recht.

Da es wissenschaftliche Kriterien für die Wahrheit der Bekenntnisse religiöser, ethischer, politischer, kultureller und künstlerischer Art nicht gibt, lehrt Skepsis und Relativismus Gerechtigkeit gegen fremde Entscheidungen. Alle Bekenntnisse stehen in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis und unendlichen Wettstreit. Die Ring-Parabel von Lessings „Nathan der Weise” ist angesprochen.

Die Demokratie ist die ideale Staatsform, die den individuellen Wertentscheidungen Raum gibt. Jeder kann die Macht erhalten und kraft Majorität den Machtkampf beenden.

Die Wahrheit der Gesetze bleibt jedoch offen. Selbst die Mehrheit kann daher den Meinungsstreit nicht beenden; auch die Mehrheit, die das Wahrheitsmonopol nicht besitzt und besitzen kann, muß die Freiheit des Gewissens, des Denkens, der Wissenschaft und Kunst, der Presse achten; diese Freiheiten setzen eine unübersteigbare Schranke. Weil keine Wertentscheidung beweisbar ist, sind alle Wertentscheidungen gleichberechtigt. Sind die individuellen Vorstellungen von dem Wahren, Guten und Schönen gleichberechtigt, sind auch die Menschen gleichberechtigt und jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Jede Meinung wird geduldet; ausgenommen ist nur, was mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit auftritt. Toleranz ja, aber nicht Toleranz gegenüber Intoleranz. Der Einparteienstaat ist nicht legitim; ein Gesetz oder Befehl, die die Menschenrechte verletzten, ist Unrecht.

In seinem 1934 in Lyon gehaltenen, zuerst in „Archives de Philosophie de Droit” veröffentlichten Vortrag über „Relativismus in der Rechtsphilosophie” konnte Radbruch mit berechtigtem Stolz sagen: „Ein logisches Wunder hat sich vollzogen; das Nichts hat aus sich heraus das All geboren, wir sind ausgegangen von der Unmöglichkeit, das gerechte Recht zu erkennen, und wir enden damit, bedeutende Erkenntnisse über das gerechte Recht in Anspruch zu nehmen. Wir haben aus dem Relativismus selbst absolute Folgerungen abgeleitet, nämlich die überlieferten Forderungen des klassischen Naturrechts. Im Gegensatz zum methodischen Prinzip des Naturrechts ist es uns gelungen, die sachlichen Forderungen des Naturrechts zu begründen. Die Ideen von 1789 sind wieder aufgetaucht aus der Skepsis, in der sie zu ertrinken schienen.”

Hieraus sind die rechtlichen und gesetzlichen Konsequenzen eines pluralistischen Staates zu ziehen.

Mit „guten Sitten”, „Sittengesetz”, „Recht” und ähnlichen Begriffen unserer Grundgesetzgebung und unserer Gesetze ist nicht gemeint, was ex cathedra oder von irgendeinem Richterstuhl aus hierfür gehalten wird, auch nicht, was die Mehrheit des Volkes hierfür hält. Auch überlegt denkende Minderheiten der Bevölkerung sind zu beachten. Neben den Grundrechten ist — unter Berücksichtigung der vielfältigen Vorstellungen der Menschen hier und heute über das sittlich Zulässige — der sich deckende Kernbereich ihrer Auffassungen, das „All”gemeingut der Ethiken, damit zwangsläufig ein ethisches Minimum gemeint. Von hier aus ergeben sich Konsequenzen für unser gesamtes Recht, nicht zuletzt die umstrittenen Fragen unseres Strafrechts, Eherechts und dergleichen. Ich nenne die Abtreibung, die künstliche Insemination, unser Sexualstrafrecht, die freiwillige Sterilisierung, die Geburtenbeschränkung und Familienplanung überhaupt. Im Zweifel ist stets die Freiheit des Einzelnen und sein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit entscheidend.

Auf der Suche nach dem richtigen Recht postulieren wir nicht nur die Humanität, wir glauben sie auch mit der Logik der Vernunft, die nicht national, sondern allgemein menschlich ist, als Inhalt dieses Rechts beweisen zu können. Sie zu schützen und zu achten ist Aufgabe aller staatlichen und gesellschaftlichen Gewalt; der Jurist spricht auch von einer „Drittwirkung” der Menschenrechte, worunter er versteht, daß sie nicht nur das Verhältnis des Kollektivs zum Individuum bestimmen müssen, sondern auch die Beziehungen des privaten „Ich” zum privaten „Du”, das menschliche „Wir”, das uns aufgegeben ist.

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