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Die SPD-Ent­schlie­ßung zum Notstands­recht

vorgängevorgänge 6/196506/1970Seite 262-264
von vg

Aus: vorgänge Heft 6/ 1965, S. 262-264

(vg) Den Monat Mai über hat es so ausgesehen, als solle die Notstandsgesetzgebung nun doch noch in einem Parforceritt in den letzten Parlamentswochen, die dem Bundestag in dieser Wahlperiode noch bleiben, durchgebracht werden. Die Verhandlungen über die noch strittigen Punkte zwischen den Parteien wurden unter Ausschluß der öffentlichen Diskussion in interfraktionellen Gesprächen geführt. Was an dem zuletzt der Öffentlichkeit zugänglich gewordenen veränderten Regierungsentwurf immer noch problematisch und gefährlich für die freiheitliche Demokratie war, hat Jürgen Seifert in seinem Kommentar in vg 5/65, S. 194 ff, dargestellt. Die Besorgnis der Öffentlichkeit wurde vor allem laut in dem Brief von 250 Professoren an den DGB-Bundesvorstand, dann auch in Erklärungen der Gewerkschaften, daß sie weiterhin zu ihren früheren Erklärungen insachen Notstandsgesetzgebung stehe und daß, sollten die Gesetze jetzt eilfertig verabschiedet werden, mit Proteststreiks zu rechnen sei. Nachdem dann mehreremal aus den interfraktionellen Verhandlungen verlautete, man stehe kurz vor einer Einigung, haben sich die Führungsgremien der SPD, die allerdings betont Wert darauf legten, daß sie nicht von „außerparlamentarischen” Kräften in ihrer Entscheidung beeinflußt worden seien, am 29. Mai entschlossen, in dieser Legislaturperiode nicht mehr an einer Verabschiedung der Notstandsverfassung mitzuwirken. Wegen der benötigten Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsänderung ist damit die Verabschiedung vorerst verhindert und eines der wesentlichen Anliegen der Professoren, daß sie nicht übereilt erfolgen darf, erfüllt. Die Entschließung der SPD-Führungsgremien geben wir hier mit geringfügigen Kürzungen wieder, weil sie sowohl über die erzielten Kompromisse wie über die noch bestehenden Gegensätze orientiert. (Die mehrfach erwähnte Entschließung des Kölner SPD-Parteitags von 1962 wurde in vg 9/63, S. 296 wiedergegeben.)

„Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands haben am 29. Mai 1965 in Saarbrücken einstimmig nachstehende Entschließung zum Notstandsrecht verabschiedet: . . .

2. Die Führungskörperschaften der SPD stellen fest, daß es eine gemeinsame Aufgabe aller verantwortlichen Kräfte ist, im Falle von Not und Gefahr alles für ihre Überwindung zu tun, den Menschen zu helfen und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen alle Gefahren zu schützen. Zur Zeit sind den drei ehemaligen Besatzungsmächten im Deutschlandvertrag unbeschränkte Notstandsvollmachten vorbehalten. Diese in den Händen der Alliierten liegenden Befugnisse sind jederzeit ohne parlamentarische Mitwirkung auf deutsche Behörden übertragbar; ihre Ausübung unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle. Es ist notwendig, diese Befugnisse durch deutsches Verfassungsrecht abzulösen und zum Erlöschen zu bringen. Eine solche Ablösung liegt auch und gerade im Interesse der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen, die nach jetzigem Recht nicht vor einer Anwendung oder gar vor dem Mißbrauch dieser Befugnisse gegen ihre Interessen geschützt sind.

3. Um die bisherigen Versäumnisse der Bundesregierung auf dem Gebiete des Schutzes der Zivilbevölkerung nicht weiterhin andauern zu lassen, werden die SPD und ihre Bundestagsfraktion aus ihrer Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bereit sein, auch ohne Ergänzung des Grundgesetzes das Selbstschutzgesetz, das Schutzbaugesetz und das Gesetz über das Zivilschutzkorps zu verabschieden. Sie gehen dabei von den in den Ausschüssen einmütig erarbeiteten Vorlagen aus.

4. Zur Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte ist außer der Regelung einer Notstandsverfassung auch eine rechtsstaatliche Regelung der Post- und Fernmeldeüberwachung erforderlich. Obwohl ihr die Problematik hinreichend bekannt ist, hat es die Bundesregierung bis zum letzten Tage der bisherigen interfraktionellen Behandlungen verabsäumt, eine vollständige Vorlage im Parlament ordnungsgemäß einzubringen. Eine Verabschiedung der Grundgesetzergänzung zur Regelung des Problems der Notstandsverfassung ohne Regelung der Post- und Fernmeldeüberwachung würde nur eine teilweise Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte ermöglichen. Die alliierte Telefon- und Postkontrolle würde auch weiterhin bestehen. Sinn und Zweck einer verantwortungsvollen Notstandsgesetzgebung ist aber nach übereinstimmender Auffassung aller Fraktionen die uneingeschränkte Ablösung aller alliierten Vorbehaltsrechte. Die SPD hat immer darauf bestanden, daß eine Gesamtablösung gesichert sein muß. Damit ist Punkt 7 der Kölner Entschließung vom Mai 1962 nicht erfüllt.

5. Die Sicherung der Pressefreiheit im Sinne des Punktes 3 der Kölner Entschließung ist leider immer noch nicht in dem notwendigen Umfang gewährleistet. Es ist zwar gelungen, die Vorschläge der Bundesregierung über eine Pressezensur zu Fall zu bringen und eine Einschränkung der Pressefreiheit auf die Wiedergabe militärischer Nachrichten im Verteidigungsfall oder bei äußerer Gefahr zu beschränken. Die seit zwei Jahren ständig vertretene Forderung der SPD, die Rechtstellung der Presse auch für diesen Fall durch eine klare gesetzliche Regelung zu fixieren, ist jedoch nicht erfüllt. Die Bundesregierung hatte bis zum letzten Tag der bisherigen interfraktionellen Verhandlung einen von ihr beratenen und beschlossenen Entwurf nicht vorgelegt. Nur die Verabschiedung eines ordnungsgemäß beratenen Gesetzes kann einem Mißbrauch vorbeugen. Die im Kabinett beschlossene Vorlage entspricht den sozialdemokratischen Vorstellungen nicht. Der Vorschlag der Verhandlungskommission der SPD-Bundestagsfraktion, unter diesen Umständen jede Einschränkung des Artikels 5 des Grundgesetzes aus der Verfassungsergänzung herauszunehmen, wurde von den anderen Fraktionen nicht akzeptiert, obwohl damit der Weg für eine spätere Lösung dieses Problems eröffnet gewesen wäre.

6. Einigkeit zwischen den Fraktionen bestand darüber, daß im Falle des äußeren Notstandes Dienstleistungen für die Sicherung der Verteidigung auch außerhalb der Bundeswehr erforderlich sind; dabei müssen aber die Rechte der Arbeitnehmer gesichert werden. Über die rechtliche Sicherung dieses Anspruches konnte keine Einigung erzielt werden. Punkt 4 der Kölner Entschließung ist damit nicht erfüllt.

7. Die Funktionsfähigkeit der Länder und der Landesregierungen darf nicht dadurch beschränkt werden, daß die Bundesregierung im Notstand andere Personen beauftragen kann, in ihrem Namen Weisungsbefugnisse gegenüber den Ländern auszuüben. Punkt 5 der Kölner Entschließung ist damit nicht erfüllt.

8. Seit zwei Jahren haben die Vertreter der SPD in den Beratungsgremien des Bundestages immer wieder darauf hingewiesen, daß die Lösung dieser Probleme Voraussetzung für eine Verabschiedung der Gesetzgebung für den Fall von Not und Gefahr sein muß. Schon 1960 hatte die SPD-Fraktion interfraktionelle Gespräche vorgeschlagen. Fünf Jahre hat man sich dieser Anregung versagt. Durch die erst Anfang Mai zustande gekommenen interfraktionellen Verhandlungen lassen sich die seit Jahren anstehenden Versäumnisse in den wenigen verbleibenden Beratungswochen des gegenwärtigen Bundestags nicht mehr aufholen. Die Zeit reicht für eine sachgerechte Lösung der obengenannten Probleme nicht mehr aus. Die Erklärung guter Absichten ist kein Ersatz für klare Gesetzestexte.

9.Verfassungsrecht darf nicht aus dem Ärmel geschüttelt werden. Seine Bedeutung und seine Würde gebieten ordnungsgemäße, nicht überhastete Beratung im Parlament und in seinen Ausschüssen sowie die Teilnahme unseres politisch mündigen Volkes an dieser verfassungspolitisch wichtigen Diskussion unter Vorlage der wirklich zu beschließenden Texte und nicht der längst überholten Vorlagen. Gesetzgebung muß offen sein, Verfassungsgesetzgebung erst recht. Dunkelkammer und Hast können kein Vertrauen schaffen. Aber gerade dieses Vertrauen in unsere freiheitliche Rechtsordnung ist die unentbehrliche Grundlage dafür, daß unser Volk sie mit allen seinen Kräften auch und gerade in Zeiten der Not zu schützen gewillt ist…

11. Parteivorstand, Regierungsmannschaft und Parteirat der SPD begrüßen, daß es der Verhandlungsdelegation der Bundestagsfraktion auf einigen wichtigen Gebieten gelungen ist, die anderen Fraktionen des Bundestags von der Richtigkeit der von der Sozialdemokratischen Partei seit Jahren erarbeiteten Vorstellungen zu überzeugen. Dies gilt vor allem für folgende Punkte: a) Die Gewaltenteilung bleibt unangetastet. Die volle politische Verantwortung des Parlamentes in jeder möglichen Gefahrenlage wird nicht gemindert. Äußerstenfalls wird die Verantwortung durch das Notparlament, das für Bundesrat und Bundestag handelt, wahrgenommen. b) Die Wahrung der vollen Handlungsfähigkeit des Parlamentes macht nach nunmehriger Überzeugung auch den Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP das von der Bundesregierung geforderte Notverordnungsrecht überflüssig. c) Übereinstimmung konnte mit den anderen Fraktionen auch darüber erzielt werden, daß Entscheidungen der Bundesregierung zur Herstellung der Verteidigungsbereitschaft nur nach vorheriger Billigung zumindest durch das Notparlament möglich sind. d) Einigung konnte mit den anderen Fraktionen auch darüber erzielt werden, daß für den Fall der Not die Regierung sich nicht nur auf eine einfache parlamentarische Mehrheit stützen darf, sondern alle demokratischen Kräfte umfassen muß. Feststellungsentscheidungen können demnach nur so ergehen, daß Bundestag oder Notparlament mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden haben, mindestens aber die Mehrheit der gesetzlichen Zahl ihrer Mitglieder zustimmen muß. e) Einigung ist darüber erzielt worden, daß Bestand und Handlungsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichtes gewahrt bleiben. f) Einigkeit ist darüber erzielt worden, daß es der von der Bundesregierung ursprünglich vorgesehenen Sonderregelung für den Fall des inneren Notstandes nicht bedarf. Artikel 91 GG bleibt weiterhin die Grundlage für die Regelung dieses Problems mit seiner Erweiterung dahingehend, daß die Bundeswehr zur Ergänzung der Polizeikräfte herangezogen werden kann. g) Einigkeit besteht darüber, daß Arbeitskämpfe kein Fall des inneren Notstandes sind. h) Nach übereinstimmender Meinung bleibt es dabei, daß Frauen nicht zum Dienst im Verbande der Streitkräfte verpflichtet werden können. i) Übereinstimmung besteht darüber, daß die Bundesrepublik Deutschland fähig sein muß, im Rahmen des Bündnisses die ihr im Falle der Not obliegenden Aufgaben schnell und wirksam wahrzunehmen. — Die vom Rechtsausschuß des Bundestages verabschiedete Vorlage trägt leider dem Ergebnis der interfraktionellen Besprechungen nicht in allen Punkten Rechnung…“

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