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Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht

aus:vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 98-100

Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht

Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht
München 2013, 350 S., 22,99 €

Und schon wieder eine Biografie zu Fritz Bauer. Ronen Steinkes 2013 erschienenes Werk zum Leben und Wirken des hessischen Generalstaatsanwalts, der auch Mitbegründer der Humanistischen Union war, liest sich gut, wie man das von einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung erwarten kann. Fast jedes der 11 Kapitel beginnt mit einer im Reportageton gehaltenen Szene, die die Leser_innen mitten in Bauers bewegtes Leben versetzt. Die Lektüre zerfasert nicht durch einen detaillierten Fußnotenapparat, Belegstellen finden sich sortiert nach Seiten und Textstellen am Ende des Buches. Ebenso findet man dort eine „Auswahlbibliografie“, die etwa 20 Buchtitel umfasst, darunter themennahe Veröffentlichungen wie Irmtrud Wojaks Pionierarbeit zu Bauer (2003) und Claudia Fröhlichs Monographie zu Bauers Widerstandsbegriff (2006), aber auch Titel, die mit der Gedankenführung des Buches kaum etwas zu tun haben, zum Beispiel Tom Segevs Biographie von Simon Wiesenthal (2001) oder Amos Elons Geschichte der Juden in Deutschland von 1743 bis 1933 (2004).

Der Untertitel des Buches lautet „Auschwitz vor Gericht“ und man fragt sich, ob der Verlag darauf bestanden hat, dass auf dem Einband ausdrücklich auf die Strafsache gegen Mulka u.a., allgemein bekannt als Frankfurter Auschwitz-Prozess verwiesen werden musste, denn es geht um Bauers Lebensweg. nicht allein um diesen einen Prozess. Seinen stärksten Moment hat das Buch, wenn der promovierte Jurist Steinke seine chronologische Darstellung von Bauers Leben unterbricht und dessen Theorien über Strafvollzug in einen größeren rechtspolitischen Kontext stellt. Steinke spannt den Bogen von Kant und Hegels Sühnestrafrecht über Gustav Radbruchs frühe Erfolge beim Jugendstrafrecht in der Weimarer Republik zu Bauers Resozialisierungsenthusiasmus der sechziger Jahre, weiter zu Foucaults Resozialisierungsskepsis der Siebziger bis zur Debatte über die Sicherungsverwahrung der letzten Jahre, in der die Grenzen des Wegsperrens mit humanitärer Intention deutlich wurden. Da wird Bauer sehr modern, sehr gegenwärtig, seine Leidenschaft, die auch ein leidenschaftlicher Glaube an die Möglichkeiten von Justiz als Institution war, wird nachvollziehbar. Man fragt sich, welche dialektisch fundierte Antwort der philosophisch geschulte Praktiker für die Schwierigkeiten gefunden hätte, die ein Staat, der die Menschenwürde achten will und muss, mit mutmaßlich nicht resozialisierbaren Schwerstkriminellen hat.
Auch die Darstellung von Bauers lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Judentum als Basis seines Denkens einerseits und sein Kampf gegen antisemitische Fremdzuschreibungen andererseits ist überwiegend aufschlussreich. Der Enkel eines Synagogenvorstehers studierte im reaktionären Tübingen der zwanziger Jahre zwei Semester evangelische Theologie, auch deshalb, weil er sich nicht auf seine religiöse Herkunft reduzieren lassen wollte. Im Prozess gegen Ernst Otto Remer, mit dem es Bauer als Generalstaatsanwalt in Braunschweig 1952 gelang, eine bundesweite Debatte über den Widerstand gegen Hitler durch die Männer des 20. Juli in Gang bringen, benannte er zwei Theologen und einen Pfarrer der Bekennenden Kirche als Gutachter, die das Attentat auf Hitler als Tat legitimieren, die auf einer christlich-deutschen Rechtstradition beruhte (145). Steinkes Satz „Bauer stößt sich ausgerechnet von der einzigen Gruppe ab, die ihn je wirklich hat dazugehören lassen“ (250) suggeriert allerdings eine Homogenität aller Juden in Deutschland, die es weder vor 1933 noch nach 1945 gegeben hat. Zionisten, Deutschnationale, Liberale, Orthodoxe und Atheisten, Bürgerliche und Kommunisten, es gab und gibt so viele Arten und Weisen, sich auf das Judentum zu beziehen, wie es Juden gibt. Insofern ist diese „Gruppe“ immer lediglich imaginiert.

Vollkommen imaginiert wirken auch die Passagen über Bauers mögliche oder vermeintliche Homosexualität. Bauer unterhält Freundschaften zu mehreren jüngeren Männern. Aha. Der „weißhaarige Generalstaatsanwalt“ (226) und der „Nachbarsjunge“ Wolfgang Kaven treffen sich im Treppenhaus (222). Oho. „Was in Frankfurt bald zu hässlichen Gerüchten führt.“ (222). Auch „getuschelt“ wird. Tatsächlich? In ganz Frankfurt? Von Bonames bis Sachsenhausen soll Bauers Sozialleben subjektloses Stadtgespräch gewesen sein? Und keiner seiner zahlreichen Feinde soll versucht haben, diesen Verdacht gegen Bauer zu verwenden? Den Nestbeschmutzer loszuwerden? Das klingt alles sehr an schlohweißen Haaren herbeigezogen. Während Steinke negative Aussagen über Bauer ansonsten sehr detailliert belegen kann, bleibt er hier mit den Fundstellen im Kolportagehaften, im Gerücht hängen.

Überhaupt, die Fundstellen: Es ist legitim, sogar wünschenswert, auf einen kompletten wissenschaftlichen Handapparat zu verzichten, wenn man ein sperriges Thema wie die Biographie eines Generalstaatsanwalts einem breiteren Publikum nahebringen möchte. Nicht jeder will sich mit Fußnoten befassen, in denen sich kryptische Archivsignaturen oder Paragrafenketten finden. Aber es darf trotzdem fundiert sein. Die Auffassung, derzufolge alle an den Mordaktionen beteiligten NS-Funktionäre Gehilfen von Himmler, Hitler und Heydrich waren, war keine „gewagte juristische Konstruktion“ (210) des Landgerichts Frankfurt/Main in seinem Urteil im Auschwitz-Prozess, sondern die seit Mitte der fünfziger Jahre ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Marc von Miquels „Ahnden oder Amnestieren“ (2004) befasst sich ausführlich damit. Irritierend ist auch der Umgang mit Ilona Ziok, die Steinke als „Fritz Bauer verehrende Filmemacherin“ bezeichnet, die „Andeutungen in Richtung Mordkomplott“ zur Prämisse ihres Dokumentarfilms über Bauer gemacht habe (270). Ziok ist eine international renommierte Regisseurin, deren Film „Kurt Gerrons Karussell“ von Deutschland 1999 für den Dokumentarfilm-Oscar vorgeschlagen wurde. „Tod auf Raten“ über Fritz Bauer lief auf der Berlinale und wird regelmäßig bei Lehrveranstaltungen in der juristischen Ausbildung verwendet, unter anderem auch vom Verfasser dieser Rezension. Von einem Mordkomplott ist da nicht die Rede. Wenn man sieht, was für eine unglaubliche Zahl an Mutmaßungen, Untersuchungen und Publikationen die Causa Barschel hervorgebracht hat, ist es dagegen schon erstaunlich, dass der plötzliche Tod des wichtigsten Ermittlers in NS-Verfahren, der dauernden Morddrohungen ausgesetzt war, der zur Eigensicherung eine Schusswaffe bei sich hatte, und auf den 1966 ein Attentat verübt werden sollte, bis zum heutigen Tag als reine Routineangelegenheit abgehandelt wird.

RALF OBERNDÖRFER ist freiberuflicher Rechtshistoriker in Berlin

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