Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 205: Reform der Sicherungsverwahrung

Die Siche­rungs­ver­wah­rung im Jugend­s­traf­recht

aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 43-50

(Red.) Die rechtspolitischen Vorläufer der Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende sind die sog. Jugendschutzlager, die von den Nationalsozialisten eingeführt wurden und sich nahtlos an das System der Konzentrationslager anschlossen. In ihnen wurden „schwererziehbare“ Jugendliche ohne gerichtliche Entscheidung, allein auf Beschluss der Polizei oder nationalsozialistischer Fürsorge- bzw. Jugendorganisationen festgehalten. Christian Laue zeichnet nach, welche Konjunkturen die Sicherungsverwahrung für Jugendliche in der Bundesrepublik erlebte.

I. Einleitung

Es besteht weitgehend Einigkeit, dass es immer eine kleine Gruppe von Straftäter_innen geben wird, die, ohne schuldunfähig zu sein, eine potenzielle Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Es muss, auch darüber besteht weitgehend Einigkeit, auch ein rechtliches Instrument geben, das die Gesellschaft vor diesen Personen schützt, wenn die von ihnen ausgehende Gefahr ein erträgliches Maß übersteigt. Dieses Instrument stellt die Sicherungsverwahrung dar, also die Einsperrung von besonders gefährlichen Straftäter_innen über den Zeitraum der schuldangemessenen und verbüßten Strafe hinaus. Funktional handelt es sich dabei um eine Art Notwehrrecht der Gesellschaft gegen einzelne ihrer Mitglieder.
In einem Rechtsstaat, der dem Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist, ist dieser von der verwirklichten Schuld der Person nicht mehr getragene totale Entzug der Freiheit auf den Personenkreis zu beschränken, von dem tatsächlich eine untragbare Gefahr ausgeht. Strittig ist, ob zu diesem Personenkreis auch Jugendliche oder Heranwachsende zu zählen sind. In der jüngeren Strafrechtsgeschichte wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet. In den letzten Jahren folgte auf eine Ausdehnung der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht ihre Einschränkung auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung unter restriktiven Voraussetzungen.

II. Histo­ri­scher Rückblick: Einführung der Siche­rungs­ver­wah­rung ins deutsche Strafrecht

Das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) aus dem Jahre 1871 kannte keine präventiven Maßregeln, sondern nur die schuldabhängige Strafe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Idee, „unverbesserliche“ Straftäter auf ungewisse Zeit wegzusperren, vor allem vom Reichsgerichtsrat Otto Mittelstaedt, vom Psychiater Emil Kraepelin und von den Strafrechtsreformern Franz v. Liszt und Carl Stooss befördert. Die darauf fußenden Entwürfe für ein deutsches Strafgesetzbuch von 1909 bis 1927 wurden nicht Gesetz.(1)
Die (auch nachträgliche) Sicherungsverwahrung für Erwachsene wurde erst durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 in das RStGB eingeführt. Eine entsprechende Regelung für jugendliche Straftäter_innen gab es nicht, doch waren die Grenzen zwischen dem RStGB und dem Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) in der Zeit des Nationalsozialismus noch relativ durchlässig. Ab 1939(2) konnte die Sicherungsverwahrung auch auf sog. jugendliche Schwerverbrecher_innen angewendet werden: Dies waren zunächst mindestens 16 Jahre alte Straftäter_innen, die aufgrund ihrer „geistigen und sittlichen Entwicklung“ einer über 18 Jahre alten Person gleichzustellen waren und die ein Verbrechen begangen hatten, das nach der „darin zum Ausdrucke gekommenen Gesinnung und zum Schutze des Volkes“ eine Bestrafung nach Erwachsenenstrafrecht „notwendig“ machte. Dies bedeutete für die so als – nach der damaligen Diktion – „frühreife Schwerverbrecher“ Abgestempelten die Möglichkeit der Todesstrafe, aber auch der Sicherungsverwahrung. Im RJGG von 1943 wurde der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf alle Altersstufen Jugendlicher ausgedehnt. Darüber hinaus konnte Erwachsenenstrafrecht angewendet werden bei jugendlichen Straftätern, die zwar noch nicht einem Erwachsenen gleichgestellt werden konnten, aber bei denen „die Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit und seiner Tat ergibt, daß er ein charakterlich abartiger Schwerverbrecher ist und der Schutz des Volkes diese Behandlung erfordert“ (§  20 Abs.  2 RJGG 1943). Diese Personen bezeichnete man als „abartige jugendliche Schwerverbrecher“.
Neben diesen Einfallstoren der erwachsenenstrafrechtlichen Sicherungsverwahrung in das Jugendstrafrecht enthielt das nationalsozialistische Jugendstrafrecht mit der sog. Jugendbewahrung ein eigenes Sicherungsinstrument, das als funktionales Äquivalent zur Sicherungsverwahrung angesehen werden kann: §  60 Abs.  1 RJGG 1943 lautete: „Erlangt der Vollstreckungsleiter während des Vollzugs einer unbestimmten Jugendgefängnisstrafe die Überzeugung, daß der Verurteilte die Einordnung in die Volksgemeinschaft nicht erwarten läßt, (…) so überweist es(3) ihn der Polizei zur Unterbringung in einem Jugendschutzlager.“ Nach Abs.  2 konnte der Jugendliche auch der Polizei überwiesen werden, wenn er „die Einordnung in die Volksgemeinschaft voraussichtlich nicht erwarten läßt“. In ihrem Kern erlaubt diese Vorschrift die Ausgliederung als im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie schwer erziehbar erachteter Jugendlicher aus der Justiz in das System der Konzentrationslager. Solche Lager bestanden seit 1940 bzw. 1942 für männliche Jugendliche in Moringen/Solling (bei Göttingen) und für weibliche Jugendliche in unmittelbarer Nähe des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück in Fürstenberg/Havel („Jugendschutzlager Uckermark“). Spätestens mit den Erlassen des Reichsinnenministers, des Reichsführers SS und des Reichsjugendführers vom April 1944(4) konnte die Unterbringung unabhängig von der Justiz durch Polizei, SS – häufig auf „Empfehlung“ nationalsozialistischer Fürsorge-Institutionen – oder auch nationalsozialistische Jugendorganisationen angeordnet werden. Die Organisation und Verwaltung der Lager unterstand dem Reichssicherheitshauptamt. Die Aufgabe dieser Unterbringung ist umschrieben im Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 25. April 1944(5): „Aufgabe der Jugendschutzlager der Sicherheitspolizei (…) ist, ihre Insassen nach kriminalbiologischen Gesichtspunkten zu sichten, die noch Gemeinschaftsfähigen so zu fördern, daß sie ihren Platz in der Volksgemeinschaft ausfüllen können und die Unerziehbaren bis zu ihrer endgültigen anderweitigen Unterbringung (in Heil- und Pflegeanstalten, Bewahrungsanstalten, Konzentrationslagern usw.) unter Ausnutzung ihrer Arbeitskraft zu verwalten. Erziehungsmittel sind straffe Lagerzucht, angespannte Arbeit, weltanschauliche Schulung, Sport, Unterricht, planmäßige Freizeitgestaltung.“ Eine rechtliche Kontrolle der Unterbringung fand praktisch nicht statt. Statt dessen manifestiert sich in den „Jugendschutzlagern“ die nationalsozialistische Tendenz, die Strafrechtspflege mit ihrem damals vorherrschenden Zweck eines Kampfinstruments zur „Säuberung des Volkskörpers“ immer mehr aus der Justiz in die Hände der Polizei zu verlagern.(6) Auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts erfüllten die polizeilichen „Jugendschutzlager“ den Zweck der justiziellen Sicherungsverwahrung: das (unbefristete) Wegsperren von Personen zur Sicherung der Allgemeinheit.

III. Die Entwicklung in der Bundes­re­pu­blik Deutschland

1. Die Phase bis zur Strafrechtsreform 1969/1975

Zwar hielt der Alliierte Kontrollrat das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung für typisches NS-Unrecht, doch führte massiver Protest der deutschen Strafrechtspraxis und -wissenschaft dazu, dass die §§  20a, 42e StGB nicht aufgehoben wurden.(7) Sie galten bis zum 1. Strafrechtsreformgesetz 1970 im Wesentlichen unverändert fort.
Die polizeilichen „Jugendschutzlager“ und mit ihnen die „Jugendbewahrung“ galten den Alliierten als typische NS-Einrichtungen und wurden alsbald aufgelöst. In Teilen der Literatur wurde daraufhin eine Sicherheitslücke beim Umgang mit „unerziehbaren“ Jugendlichen gesehen: „Man wird de lege ferenda prüfen müssen, ob man (für) diese ‚Unerziehbaren‘ (…) besondere Jugendbewahranstalten einrichtet, in die nur der Richter Einweisungen vornehmen darf.“(8) Es wurde also ein Bedürfnis nach einer Sicherungsverwahrung auch bei Jugendlichen gesehen. Nicht so jedoch vom Gesetzgeber.
Die Anwendungsmöglichkeit des Erwachsenenstrafrechts auf Jugendliche und damit auch der Sicherungsverwahrung wurde gestrichen. Darüber hinaus wurde bei der Neufassung des Jugendgerichtsgesetzes 1953 die Heranwachsendenregelung des §  105 JGG eingeführt: Von nun an war auf 18- bis 20-Jährige nicht mehr automatisch Erwachsenenrecht anzuwenden, sondern je nach Reifestand und Qualität der Tat die Möglichkeit einer jugendstrafrechtlichen Sanktionierung gegeben. Wurde Jugendstrafrecht angewendet, war Sicherungsverwahrung nicht möglich; wurde auf diese Altersgruppe Erwachsenenstrafrecht angewendet, konnte das Gericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung absehen (§  106 Abs.  2 JGG a.F.). Da die Praxis bald bei Heranwachsenden überwiegend Jugendstrafrecht anwendete – umso häufiger, je schwerer die vorgeworfene Straftat war –, war die Sicherungsverwahrung somit in der Altersgruppe der 18- bis 20-Jährigen deutlich eingeschränkt. In der Praxis kamen darüber hinaus kaum Anordnungen der Sicherungsverwahrung gegenüber Personen bis 25 Jahren vor.(9)
Im Gegensatz zur zurückhaltenden Praxis im Jugendstrafrecht wurde die Sicherungsverwahrung auf Erwachsene häufig angewendet. Im Jahre 1965 befanden sich 1.430 Personen in der Sicherungsverwahrung. In den 1960er Jahren regte sich Kritik, die Sicherungsverwahrung werde zu häufig und bei den falschen Personen angewendet: Ganz überwiegend waren gewaltlos agierende Vermögensdelinquent_innen betroffen, der Prozentsatz der Gewalttäter_innen war einstellig. Man besann sich auf die rechtsstaatliche Problematik der Sicherungsverwahrung, die als schuldübersteigende Freiheitsentziehung besonderer Rechtfertigung bedarf und in der Praxis daher konsequent auf Fälle beschränkt werden sollte, in denen schwere Gewaltstraftaten drohten und die Behandlungsmaßnahmen des normalen Strafvollzugs versagten. Dies führte in den Strafrechtsreformgesetzen der Jahre 1969/1975 zu einer Verschärfung der Anordnungsvoraussetzungen bei der Sicherungsverwahrung. Geplant war, dass sie nach §  66 Abs.  1 StGB nur dann angeordnet werden darf, wenn die Anlasstat nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen worden ist.(10) Diese Einschränkung wurde nie geltendes Recht, in §  106 Abs.  2 JGG wurde die Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden aber ausgeschlossen. Somit war nach der Strafrechtsreform Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen und Heranwachsenden unmöglich.
Der Ausschluss der Sicherungsverwahrung bei bis 20-Jährigen und die Zurückhaltung der Praxis bei den sog. Jungerwachsenen, also Personen bis 25 Jahren, haben ihren Grund in der Notwendigkeit eines „Hanges“ zu Straftaten, der eine wesentliche Anordnungsvoraussetzung für die Sicherungsverwahrung darstellt. Unter einem Hang versteht man einen „eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt.“(11)Die Feststellung eines solchen eingeschliffenen Zustands bedarf aber einer gewissen Lebensspanne, die als Prognosebasis dient. Bei einem Jugendlichen kann man zwar Phasen feststellen, in denen dieser vermehrt Straftaten begeht, aber es lässt sich nicht beurteilen, ob es sich dabei um einen fest verwurzelten Persönlichkeitszug handelt oder ob dieser Jugendliche nicht nach einiger Zeit von selbst davon ablässt, da eine neue Lebensphase eintritt. Dies lässt sich erst beurteilen, wenn die betreffende Person einige Jahre im strafmündigen Alter verlebt hat. Erst ab frühestens der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts dürfte überhaupt festzustellen sein, ob die Straftaten tatsächlich auf einem „eingeschliffenen inneren Zustand“ beruhen. Dies umso mehr, als kriminologische Erkenntnisse belegen, dass es nicht wenige Jugendliche und Heranwachsende gibt, die in jungen Jahren sehr viele Straftaten begehen, später aber diese kriminelle Betätigung erheblich einschränken. Eine vorschnelle Erfassung und Abstempelung als „Hangtäter“ dürfte die Rückkehr in die Legalität erheblich erschweren.

2. Ausdehnung der Sicherungsverwahrung auf Jugendliche und Heranwachsende

In der Praxis führten die verschärften Anordnungsvoraussetzungen zu einem deutlichen Rückgang der Sicherungsverwahrten. 1996 war mit 176 Untergebrachten der Tiefststand erreicht. Von manchen Autor_innen wurde angesichts der seltenen Anordnungen die kriminalpolitische Notwendigkeit dieser Maßregel in Zweifel gezogen;(12) auch der Gesetzgeber betonte den ultima ratio-Charakter der Sicherungsverwahrung.
Dies änderte sich im Laufe der 1990er Jahre. Obwohl Sexualstraftaten und (Sexual-) Morde an Kindern nicht zugenommen hatten, waren es spektakuläre Einzelfälle wie die Ermordung zweier 7- und 10-jähriger Mädchen durch rückfällige Sexualtäter sowie der Fall Dutroux in Belgien, die für ein Umdenken in weiten Teilen der Gesellschaft sorgten.(13) Eine oftmals unsachliche und aufbauschende Medienberichterstattung verstärkte den Eindruck, (vor allem sexuell motivierte) Gewalttaten hätten stark zugenommen und bedrohten die Gesellschaft existenziell. Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ wurden 1998 die Anordnungsmöglichkeiten der Sicherungsverwahrung deutlich ausgeweitet. Die bis dahin geltende Höchstdauer von 10 Jahren bei der erstmaligen Unterbringung wurde gestrichen.
Im Jahre 2002 wurde die vorbehaltene Sicherungsverwahrung eingeführt,(14) die 2004 auf Heranwachsende, auf die Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, ausgeweitet wurde.(15) Bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung kann das verurteilende Tatgericht noch nicht sicher beurteilen, ob der/die Täter_in aufgrund eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. Vor Ende der Strafvollstreckung muss das Gericht unter Inanspruchnahme Sachverständiger und unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus dem Strafvollzug beurteilen, ob die Gefährlichkeit nunmehr sicher besteht. In diesem Falle muss die Sicherungsverwahrung angeordnet werden.
Bereits ab 2001 hatten Bayern und Sachsen-Anhalt Gesetze erlassen, die es erlaubten, gefährliche Straftäter_innen nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen, während derer sie resozialisierende Behandlungen beharrlich verweigerten und daher weiterhin gefährlich erschienen, in Justizvollzugsanstalten unterzubringen.(16) Das BVerfG hob diese Gesetze wegen Verstoßes gegen die Bundeszuständigkeit für das Strafrecht aus Art.  74 Abs.  1 Nr.  1 GG auf, äußerte aber keine grundlegenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit solcher Regelungen durch den Bundesgesetzgeber.(17) Dieser führte im Jahre 2004(18) mit dem neuen §  66b StGB die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung – auch für Heranwachsende, auf die allgemeines Strafrecht angewendet wird (§  106 Abs.  5, 6 JGG) – ein. Schließlich wurde 2008 die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch nach Verbüßung von Jugendstrafe ermöglicht(19) Es hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass auch von bisher nur nach Jugendstrafrecht Verurteilten eine so erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen könnte, dass mit dem letzten und insgesamt als bedenklich angesehenen Mittel des Strafrechts reagiert werden müsse. Im Regierungsentwurf zum Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht wurde wie folgt argumentiert: „Beispiele der jüngeren Vergangenheit haben gezeigt, dass auch junge Straftäter trotz Verbüßung einer mehrjährigen Jugendstrafe wegen schwerer Verbrechen weiterhin in hohem Maße für andere Menschen gefährlich sein können. Soweit die Betroffenen als schuldfähig gelten und keine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt, bietet das bisherige Recht keine ausreichende rechtliche Grundlage dafür, ihnen zum Schutz der Allgemeinheit weiterhin die Freiheit zu entziehen. (…) Bei Jugendlichen und Heranwachsenden werden derart gravierende Straftaten, die ihnen gegenüber die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen können, und die gleichzeitige Möglichkeit einer ausreichend sicheren entsprechenden Gefährlichkeitsprognose zwar noch stärker als bei Erwachsenen nur in äußersten Ausnahmefällen vorliegen. Gleichwohl erfordert der Schutz potenzieller Opfer, dass für solche Extremfälle eine angemessene Rechtsgrundlage dafür zur Verfügung steht, entsprechend gefährliche Personen in staatlichem Gewahrsam zu belassen.“(20)
Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht hatte nach §  7 Abs.  2 JGG a.F. folgende Voraussetzungen: (1.) Es musste eine Jugendstrafe von mindestens 7 Jahren wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen eines Raubes mit Todesfolge verhängt worden sein. Durch diese Tat musste (2.) das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden sein und (3.) mussten vor Ende des Vollzugs der Jugendstrafe Tatsachen erkennbar geworden sein, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Schließlich musste (4.) eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat(en) sowie der Entwicklung während des Strafvollzugs ergeben, dass der Verurteilte mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Taten der oben beschriebenen Art begehen werde.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung durfte nach der restriktiven Rechtsprechung des BGH zur erwachsenenstrafrechtlichen Regelung des §  66b StGB nur in solchen Fällen angeordnet werden, in denen neue Tatsachen während des Strafvollzugs erkennbar wurden: Tatsachen, die schon vor der Verurteilung bekannt waren oder bekannt sein konnten, reichten für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht aus. Demgegenüber ermöglichte die Regelung des §  7 Abs.  2 JGG a.F. eine erleichterte Anordnung, denn danach waren keine neuen Tatsachen notwendig, sondern es reichten auch solche aus, die bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung erkennbar waren.(21) Dies hat damit zu tun, dass im Erwachsenenstrafrecht in Fällen, in denen die Gefährlichkeit des Täters/der Täter_in bereits im Verurteilungszeitpunkt erkennbar war, eine primäre oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte, was bei einer Verurteilung nach Jugendstrafrecht nicht möglich war. Trotz dieser erleichterten Anwendungsmöglichkeiten kam es nur in einem einzigen Fall tatsächlich zu einer Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht.(22)

3. Die Einschränkung der Sicherungsverwahrung

Die restriktivere Gegenbewegung wurde eingeläutet durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17.  Dezember 2009,(23) die sich zwar ausdrücklich nur mit dem rückwirkenden Wegfall der Zehnjahresfrist bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung beschäftigte, aber deutlich machte, dass auch die damalige Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen Art.  5 und 7 EMRK verstieß.(24) Mit dem als Reaktion auf diese Entscheidung neu gefassten §  66b StGB wurden die Möglichkeiten der nachträglichen Sicherungsverwahrung deutlich eingeschränkt,(25) mit dem am 1.  Juni 2013 in Kraft getretenen Gesetz zur Umsetzung des Abstandsgebots(26) wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung schließlich auch im Jugendstrafrecht weitgehend abgeschafft.(27)
Für Jugendliche und Heranwachsende kommt nunmehr nur noch die vorbehaltene Sicherungsverwahrung in Betracht. Bei Jugendlichen ist gemäß §  7 Abs.  2 JGG eine Verurteilung zu Jugendstrafe von mindestens 7 Jahren wegen eines Sexual- oder Gewaltverbrechens notwendig, durch das das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt wurde, wenn eine Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Tat(en) ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein solches schweres Sexual- oder Gewaltverbrechen begehen wird. Bei Heranwachsenden gelten die gleichen Voraussetzungen, doch kann die Sicherungsverwahrung darüber hinaus auch bei Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§  176 StGB) vorbehalten werden (§  106 Abs.  3, 4 JGG).Die Beschränkung der Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen und Heranwachsenden auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung erscheint angemessen, denn es bleibt dadurch eine mehrjährige Entwicklungsphase der jungen Person, in der die Chance besteht, durch Behandlungsmaßnahmen im Vollzug eine Besserung zu bewirken, bevor über eine solch einschneidende und rechtsstaatlich bedenkliche Freiheitsentziehung entschieden wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung insbesondere bei jungen Menschen tatsächlich im Sinne einer ultima ratio des Strafrechts der absolute Ausnahmefall bleibt.

CHRISTIAN LAUE ist Privat-Dozent am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg.

Anmerkungen:

(1) Siehe hierzu Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, Freiburg i.Br. 1996, S. 7 ff.

(2) VO vom 4.10.1939, RGBl. I, 2000.

(3) Gemeint ist wohl: „er“.

(4) Abgedruckt in Peters: RJGG vom 6.11.1943, Berlin 1944, Nr. 24.

(5) Ministerialblatt für die innere Verwaltung 1944, 431.

(6) Siehe dazu Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989, S. 481 ff.; Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, Berlin 2004, S. 92 ff.

(7) Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Kontrollrat (1945-1948), Tübingen, S. 177 f.

(8) Potrykus, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, Darmstadt 1954, § 7 Bem. 4.

(9) BT-Drs. V/4095, S. 30.

(10) Damit nahm der Gesetzgeber eine Anregung des Entwurfes für ein StGB 1962 auf. Siehe zur geplanten Gesetzesentwicklung Brunner, Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl., Berlin 1975, § 106 Anm. 2.

(11) BGH, Urt. v. 1.7.2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180 (195 f.).

(12) Siehe Blau, Die Sicherungsverwahrung – ein Nekrolog? In: Festschrift für H.-J. Schneider, Berlin 1998, S. 759.

(13) Siehe Schöch, Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten, NJW 1998, 1257; Laubenthal, Die Renaissance der Sicherungsverwahrung, ZStW 2004, 703 ff.

(14) Durch das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21.8.2002 (BGBl. I, S. 3344) wurde der neue § 66a StGB eingeführt.

(15) Durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl. I, S. 3007).

(16) Für Bayern: Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten Straftätern vom 24.12.2001 (BayGVBl., S. 978); für Sachsen-Anhalt: Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 6.3.2002 (GVBl., S. 80).

(17) BVerfG, Urt. v. 10.2.2004 – 2 BvR 834, 1588/02, BVerfGE 109, 190.

(18) Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.7.2004 (BGBl. I, S. 1838).

(19) Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom. 8.7.2008 (BGBl. I, S. 2121).

(20) Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 4.10.2007, BT-Drs. 16/6562, 1.

(21) BT-Drs. 16/6562, 7; BGH, Urt. v. 9.3.2010 – 1 StR 554/09, NJW 2010, 1539, 1540.

(22) Das LG Regensburg hatte den zur Tatzeit 19-Jährigen wegen Mordes an einer Joggerin zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt, die der Verurteilte vollständig verbüßte. Im Vollzug der Jugendstrafe erwies sich der Verurteilte als weitgehend therapieresistent; bei ihm wurde eine multiple Störung der Sexualpräferenz mit einer sadistischen Komponente und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ diagnostiziert. Sexuelle Gewalt- und Tötungsfantasien begleiteten den Verurteilten bereits seit dem Alter von 15 Jahren, siehe BGH, Urt. v. 9.3.2010 – 1 StR 554/09, NJW 2010, 1539.

(23) EGMR v. 17.12.2009 – 19359/04 – M. vs. Deutschland – NJW 2010, 2495.

(24) Siehe hierzu Laue, Die Sicherungsverwahrung auf dem europäischen Prüfstand, JR 2010, 203.

(25) Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22.12.2010 (BGBl. I, 2300).

(26) Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 (BGBl. I, 2425). Dieses Gesetz ging zurück auf ein Einschwenken des BVerfG auf die Linie des EGMR durch BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, BVerfGE 128, 326.

(27) Sie ist jetzt sowohl bei Jugendlichen und Heranwachsenden als auch bei Erwachsenen nur noch bei Erledigterklärung einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) möglich (§§ 7 Abs. 4, 106 Abs. 7 JGG; § 66 b StGB).

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