Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 205: Reform der Sicherungsverwahrung

Editorial

aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 1/2

Wenn sicherheitspolitische Versprechen in strafrechtliche Normen umgemünzt werden, geht das meist auf Kosten der Vernunft und der rechtsstaatlichen Grundsätze. So auch bei der Sicherungsverwahrung (SV): Jahrzehntelang sanken die Fallzahlen von Sexualstraftaten, reduzierte sich die Zahl der Insassen in den Einrichtungen der Sicherungsverwahrung so weit, das einige Fachleute schon über die Abschaffung des nahezu irrelevanten Instruments nachdachten. Dennoch reichten Ende der 1990er Jahr hitzige Medienberichte über einige wenige spektakuläre Sexualverbrechen aus, um eine neue Konjunktur der Sicherungsverwahrung einzuläuten und deren gesetzliche Anwendungsbereiche nahezu uferlos auszuweiten. Mit symbolischer Härte wollte der deutsche Gesetzgeber die Bevölkerung vor den gefährlichen Gewalttätern schützen. 1998 wurden die Hürden für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung deutlich gesenkt, und die bis dato geltende 10-Jahres-Frist gestrichen. Vier Jahre später wurde die vorbehaltene Sicherungsverwahrung zunächst für Erwachsene eingeführt, zwei Jahre später auch für Heranwachsende. 2004 wurde schließlich auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung für jene Straftäter geschaffen, deren vermeintliche Gefährlichkeit sich erst während der Haft herausstellen sollte.

Diese Spirale immer neuer Erweiterungen einer „vorsorglichen“ Inhaftierung stoppte erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), als er in mehreren Entscheidungen 2009/2010 zentrale Vorschriften der deutschen Gesetze zur nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig erklärte. Die dadurch angestoßenen Reformen der Sicherungsverwahrung in Deutschland behandelt diese Ausgabe der vorgänge im Schwerpunkt.

Zunächst erläutert Kirstin Drenkhahn die nach den EGMR-Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien zum sogenannten Abstandsgebot. Jenes Gebot beschreibt den Minimalstandard, in dem sich die Sicherungsverwahrung künftig von der Strafhaft (positiv) zu unterscheiden hat. Das Abstandsgebot ist die Voraussetzung dafür, dass die Sicherungsverwahrung zumindest verfassungsrechtlich nicht mehr als zusätzliche Haft (Doppeltbestrafung) bzw. als Strafe ohne begangene Straftat und damit als unzulässig zu bewerten wäre. Drenkhahn beschreibt, wie der Bundesgesetzgeber die gerichtlichen Vorgaben im Strafgesetzbuch und im Strafvollzugsgesetz umgesetzt hat und wie die Rechtsprechung darauf reagiert.

Wie schwer sich die Gerichte mit der – häufig sehr schleppenden Umsetzung – der notwendigen Reformen in den Einrichtungen der SV tun, schildert der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer im Interview. Er hat nicht nur jene Urteile des EGMR mit erstritten, die den Anstoß für die derzeitigen Veränderungen gaben, sondern vertritt derzeit auch SV-Insassen, die keine Therapieangebote erhalten oder weiterhin in normalen Haftzellen einsitzen.

Die Betroffenen der Sicherungsverwahrung stehen im Mittelpunkt dieser Schwerpunktausgabe: Was hat sich für die Insassen in den Einrichtungen tatsächlich geändert? Wie nehmen Mitarbeiter und Verantwortliche die Reformen wahr? Das zeigen die aktuellen Erfahrungsberichte zur Sicherungsverwahrung, die Claudia Krieg gesammelt und zusammen gestellt hat.

Den vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichneten Weg, bei der Sicherungsverwahrung den Aspekt der Besserung bzw. resozialisierenden Behandlung in den Vordergrund zu stellen, hat mittlerweile auch der Gesetzgeber aufgegriffen. 2011 trat das Therapieunterbringungsgesetz in Kraft, welches die (zwangsweise) Einweisung von Gewalt- und Sexualstraftäter_innen in geschlossene Einrichtungen ermöglicht. Bereits damals kam Kritik auf, dass es sich dabei um eine verdeckte zweite, zivilrechtliche Variante der Sicherungsverwahrung handle. Diese Befürchtungen wurden von der aktuellen Koalition bestärkt, als sie angekündigte, das Verfahren der Zwangseinweisung um eine nachträgliche Therapieunterbringung zu erweitern. Auf diesen Etikettenschwindel weist Johannes Feest in seinem Beitrag hin. Welche Gründe noch gegen die nachträgliche Therapieunterbringung sprechen, fasst ein Appell engagierter Wissenschaftler_innen an den Bundesjustizminister in zehn Punkten so kurz wie prägnant zusammen, den wir dokumentieren. Christian Laue befasst sich zum Abschluss des Schwerpunkts mit der Rechtshistorie der Sicherungsverwahrung, insbesondere unter dem Aspekt, in welchem Maße sie für Jugendliche und Heranwachsende angewandt wurde und wird.

Neben dem Schwerpunkt bieten auch diese vorgänge wieder zahlreiche Beiträge zu aktuellen rechtspolitischen Streitfragen: Volker Gerloff kommentiert die bevorstehende Gesetzgebung zum Asylbewerberleistungsgesetz, Anja Heinrich analysiert die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts zu den Videoübersichtsaufnahmen von Demonstrationen und Martin Kutscha skizziert die zu erwartenden Auswirkungen des TTIP-Freihandelsabkommens auf demokratische Entscheidungshoheit und rechtsstaatliche Standards.

Wir wünschen Ihnen wie immer eine anregende Lektüre mit den neuen vorgängen und freuen uns über Ihre Anmerkungen, Kommentare und Kritiken.

Claudia Krieg und Sven Lüders

VORSCHAU
vorgänge 206/207  Überwachungsfragen und Folgen der NSA-Überwachungsaffäre
vorgänge 208  Europäische Abschottungstendenzen nach Innen und Außen

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