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"Die Gerichte stellt die neue Rechtslage vor erhebliche Probleme". Sebastian Scharmer zur Realität der SV-Reform in Recht­spre­chung und Vollzug­s­praxis

aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 29-32

SEBASTIAN SCHARMER

Jahrgang 1977, ist sei 2006 in Berlin als Rechtsanwalt tätig. Er hat sich u.a. auf die Bereiche Straf-, Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht spezialisiert und vertritt seit Jahren zahlreiche Insassen der Sicherungsverwahrung. Sebastian Scharmer hat mit seinen Mandaten wesentlich dazu beigetragen, dass das deutsche System der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für menschenrechtswidrig befunden wurde.

Im Interview spricht er über den Minimalismus von Gesetzgeber und Exekutive bei der Erfüllung der höchstrichterlichen Vorgaben zur Gestaltung der Sicherungsverwahrung, und über die mangelnde Courage der deutschen Gerichte, endlich einmal Konsequenzen aus der mangelhaften Umsetzung der SV-Reformen zu ziehen.

Wie bewerten Sie die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum deutschen System der Sicherungsverwahrung aus heutiger Sicht? Haben sich die damit verbundenen Hoffnungen auf eine Besserung der Situation der SVler erfüllt?

Leider nur zum Teil. Der EGMR hatte damals im Kern bemängelt, dass die nachträgliche Anordnung oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 Absatz 1 und gegen Artikel 7 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt, weil sie sich zum einen für die Betroffenen nicht anders darstellt, als die Verlängerung ihrer Strafe und zudem nicht rückwirkend angeordnet werden darf. Der Gerichtshof hat sich insbesondere mit dem Bericht des CPT [1] auseinandergesetzt, der die Situation von Sicherungsverwahrten in der JVA Berlin-Tegel untersuchte. Daraus folgte national letztlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, mit der alle damaligen Regelungen zur Sicherungsverwahrung aufgehoben, der Gesetzgeber zur Neuregelung und die Exekutive zur faktischen Neuausgestaltung binnen zwei Jahren aufgefordert wurden. Statt nun die Chance zu nutzen, grundsätzlich über Sinn und Unsinn von präventivem Freiheitsentzug auf mehr als unsicherer prognostischer Basis zu diskutieren, über eine Abschaffung oder zumindest grundsätzliche Reform der Sicherungsverwahrung nachzudenken, verfolgten wesentliche Teile der Politik und der Verwaltung schlicht das Ziel, so wenig wie möglich zu ändern, um am Ende möglichst viele Sicherungsverwahrte nicht entlassen zu müssen. Geradeso sollten die Vorgaben aus Straßburg und Karlsruhe noch eingehalten werden – und keinen Millimeter mehr.

Noch nicht einmal das ist gelungen. Durch den massiven gesetzlichen Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird potentiell die Zahl der Betroffenen eher steigen, als sinken. Selbst die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist letztlich zumindest für „Altfälle“ nicht abgeschafft worden. Noch heute erlaubt § 66 StGB bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz oder Raubtaten ohne Gewalteinwirkung die Anordnung von Sicherungsverwahrung.

Praktisch saßen am 1. Juni 2013 meine Mandanten in der JVA Tegel immer noch im selben Haftraum, auf derselben Station und unter den nahezu gleichen Bedingungen, wie sie zuvor der EGMR in seiner Entscheidung aus 2009 dargestellt und kritisiert hatte. Für den Neubau, der nach den Vorgaben aus Karlsruhe am 1. Juni 2013 hätte bezogen werden müssen, war gerade erst im Dezember zuvor der Grundstein gelegt worden – da waren bereits eineinhalb Jahre der zweijährigen Frist bereits abgelaufen. Dann kam „überraschend“ ein „harter Winter“ in Berlin, so dass sich der Bau weiter verzögerte. Heute – im September 2014 – ist „geplant“, dass im nächsten Monat die ersten Sicherungsverwahren einziehen. Nicht anders sieht es mit dem Angebot spezifischer Therapieangebote oder gar der Gewährung von ausreichenden Lockerungen aus. Dagegen blieben alle Rechtsmittel – bis zum Bundesverfassungsgericht – ohne Erfolg. Kein Gericht wollte die Konsequenz der Feststellung, dass die Vorgaben zur Reform tatsächlich nicht umgesetzt worden waren, tragen – das wäre nämlich die sofortige Entlassung vermeintlich gefährlicher Menschen gewesen.

Hat sich die deutsche Rechtsprechung den europäischen Vorgaben angepasst, oder wo sehen Sie gegebenenfalls weiteren Nachbesserungsbedarf?

Die Gerichte stellt die neue Rechtslage vor erhebliche Probleme. Aktuell läuft langsam die erste Welle der Monitoringverfahren nach § 119a Strafvollzugsgesetz an. Danach sollen die Strafvollstreckungskammern alle zwei Jahre überprüfen, ob eine ausreichende Behandlung im Vollzug zur Vermeidung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung angeboten wird. Erstmals sind die Gerichte also von Gesetzes wegen dazu aufgefordert, kritisch die Vollzugssituation von Inhaftierten zu beleuchten und nicht – wie zuvor oft praktisch gehandhabt – schlicht die Angaben von Vollzugsanstalten als wahr zu unterstellen. Das ist für viele Richterinnen und Richter ein echter – und seit langem notwendiger – Paradigmenwechsel. Dabei gibt es durchaus auch gute Ansätze, allerdings für derart aufwendige Verfahren zu wenig Personal und letztlich auch zu wenig Erfahrung und Fortbildung. Wollen sich Gerichte sachverständigen Rat holen, ist es aufgrund der Masse der Verfahren schwierig, Gutachter zu finden und noch schwieriger, solche zu beauftragen, die genügend Wissen, Erfahrung und vor allem nötige Distanz zur Institution des Vollzugs aufweisen. Notwendige Konsequenz kann allein die Änderung der Gesetzesgrundlagen sein. Eine Abschaffung der SV – oder zumindest eine Eingrenzung auf schwerste Anlasstaten – würde Mittel freisetzen, die im Strafvollzug für Behandlungsangebote für alle Gefangenen dringend benötigt werden. Eine bessere Resozialisierung aller Gefangenen ist meiner Meinung wesentlich effektiver geeignet, um Rückfallgefahren insgesamt zu senken, als das präventive Wegsperren einer nach mehr als unsicheren Prognosekriterien ausgesuchten kleinen Gruppe.

Entspricht die gesetzliche Reform der Sicherungsverwahrung in Deutschland den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte? Wo sehen Sie gegebenenfalls Nachbesserungsbedarf?

Aus meiner Sicht ist die Sicherungsverwahrung abzuschaffen. Dann gäbe es auch nichts nachzubessern. Wenn man aber die Linie einer mit Konventionsrecht kompatiblen Sicherungsverwahrung verfolgen will, gäbe es beim aktuellen Stand immer noch gesetzlichen Handlungsbedarf. Beispielsweise gehören zumindest die nachträgliche Sicherungsverwahrung und alle später im Rahmen von Etikettenschwindel umgetauften Maßnahmen, wie etwa das Therapieunterbringungsgesetz, aufgehoben. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung dürfte ebenfalls nur schwer mit den Vorgaben aus Straßburg vereinbar sein, denn der Vorbehalt im Urteil stellt letztlich nichts anderes dar als einen Türöffner, um dann doch neue Tatsachen aus der Vollzugszeit zur Anordnung der Sicherungsverwahrung heranzuziehen. Dann wäre die Sicherungsverwahrung wiederum nicht aufgrund der Anlasstat im ursprünglichen Urteil und der daraus vermeintlich resultierenden Gefährlichkeit angeordnet, sondern faktisch nachträglich. Daneben fehlen in den zahlreichen neuen Ländergesetzen zum Vollzug der Sicherungsverwahrung Regelungen, die den notwendigen Abstand zum Strafvollzug konsequent ausgestalten würden. Sicherungsverwahrte sind praktisch weit davon entfernt hinter Mauern so zu leben, wie es eine Angleichung an die Lebensverhältnisse in Freiheit erlauben würde.

Die zahlreichen Gerichtsentscheidungen zur Sicherungsverwahrung haben die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema gesteigert. Hat sich aus Ihrer Sicht die Wahrnehmung von Sicherungsverwahrten in der Bundesrepublik in den letzten Jahren geändert und wenn ja, wie?

Während die Fachöffentlichkeit – auch über einen interessierten Kreis von Vollzugskritikern hinaus – das Thema inzwischen differenzierter diskutiert, ist die Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit und in den Medien nach wie vor von populistischen Scheinrealitäten geprägt. Es herrscht die Vorstellung, Sicherungsverwahrte wären allesamt unverbesserliche „Kinderschänder und Mörder“, die für immer weggesperrt werden müssten. Selbst Minimalstandards bei der Unterbringung werden als „Hotelvollzug“ diffamiert; die Entscheidungen aus Straßburg und Karlsruhe als notwendiges Übel angesehen. Deswegen ist meines Erachtens über die Fachöffentlichkeit hinaus Aufklärungsarbeit wichtig. Nur so kann auch die öffentliche Diskussion zu einer notwendigen weiteren Gesetzesreform beitragen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

[1] CPT – Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Die Staatenberichte des CPT zu Deutschland sind abrufbar unter www.cpt.coe.int/en/states/deu.htm.

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