Offener Brief zur nachträglichen Therapieunterbringung
aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 39-42
(Red.) Der folgende Offene Brief wurde am 12. Dezember 2013 an die damals amtierende Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, abgeschickt, mit der freundlichen Bitte um Weiterleitung an ihren Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat am 6. Februar 2014, als Privatperson, auf den Brief reagiert und betont, dass sie sich als Ministerin „strikt gegen eine nachträgliche Therapieunterbringung eingesetzt“ habe. Ferner: „Viele Argumente stehen in dem offenen Brief. Es wird dringend eine öffentliche Debatte gebraucht“.
Der offene Brief wurde im Januar 2014 an den neuen Bundesjustizminister, Heiko Mass abgeschickt. Den 39 Erstunterzeichner_innen hatten sich zu diesem Zeitpunkt 18 Organisationen und 112 Einzelpersonen angeschlossen. Mit Schreiben vom 7. Februar 2014 antwortete der Bundesjustizminister Heiko Maas darauf wie folgt:
„Mir ist sehr wohl bewusst, welche Probleme eine nachträgliche Unterbringungsmöglichkeit im Strafrecht aufwirft und notwendigerweise aufwerfen muss, gleich wie sie im Einzelnen ausgestaltet ist. Es wird sicherlich noch hinreichend Gelegenheit geben, einzelne Aspekte, die auch im offenen Brief angesprochen sind, vertieft zu erörtern. In der Grundsatzfrage, ob eine solche Unterbringungsmöglichkeit unter dem Kompetenztitel des Strafrechts geschaffen werden sollte, hat sich der Gesetzgeber allerdings, nicht zuletzt beeinflusst durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004, schon vor einiger Zeit entschieden, und die Koalitionsvereinbarung für diese Wahlperiode knüpft jedenfalls insoweit an diese Grundsatzentscheidung an.“
Sehr geehrter Herr Bundesjustizminister,
im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD ist unter Ziffer 5.1. vorgesehen:
„Zum Schutz der Bevölkerung vor höchstgefährlichen, psychisch gestörten Gewalt- und Sexualstraftätern, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während der Strafhaft herausstellt, schaffen wir die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung.“
Wir sind ein Arbeitskreis aus Wissenschaft und Praxis, der sich seit einem Jahr mit den Entwicklungen im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung kritisch auseinandersetzt. Das Vorhaben einer nachträglichen Therapieunterbringung lehnen wir nachdrücklich ab. Gegen deren Einführung sprechen insbesondere die folgenden Gründe:
1. Umetikettierung: Mit der „nachträglichen Therapieunterbringung“ würde die „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ unter einem anderen Namen wiedereingeführt (vgl. auch § 2 Abs. 2 ThUG in der Fassung vom 5.12.2012 mit der Unterbringungsmöglichkeit in der Sicherungsverwahrung), obwohl dieses Instrument sich nach übereinstimmender Auffassung in Wissenschaft und Praxis nicht bewährt hat, für den Schutz der Allgemeinheit nicht erforderlich ist und daher folgerichtig vor kurzem (fast) vollständig abgeschafft wurde.
2. Widersprüchlichkeit: Die Einführung der nachträglichen Therapieunterbringung widerspräche dem Grundgedanken der im Jahr 2010 beschlossenen Reform des Sicherungsverwahrungsrechts, wonach die vorbehaltene Sicherungsverwahrung die nachträgliche Unterbringung überflüssig machen sollte. Da der Anwendungsbereich vorbehaltener Sicherungsverwahrung zu diesem Zweck erheblich ausgedehnt wurde, bestünden nach der Erweiterung der Therapieunterbringung sogar mehr Möglichkeiten zur Anordnung einer gefährlichkeitsbedingt unbefristeten Unterbringung als vor der Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung. Darin läge zugleich ein grundlegender Widerspruch zu dem mit der nämlichen Reform verfolgten Ziel, die Unterbringungsmöglichkeiten im Sinne des ultima-ratio-Gedankens insgesamt einzuschränken.
3. Netz-Erweiterung: Stattdessen würde an die in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu beobachtende bedenkliche Entwicklung, unbefristete Formen der Unterbringung auszudehnen, angeknüpft. Das stünde auch im Widerspruch zu der ebenfalls unter Ziffer 5.1. des Koalitionsvertrages aufgeführten Absicht, das Recht der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern dergestalt zu reformieren, dass insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Wirkung verholfen wird.
4. Menschenrechtswidrigkeit: Die Einführung einer zusätzlichen nachträglichen Unterbringung ist auch angesichts des EGMR-Urteils vom 28.11.2013 (Glien gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 7345/12) höchst fragwürdig. Der EGMR weist in seiner Entscheidung darauf hin, dass der Begriff „unsound mind“ eine Geistesstörung von einiger Schwere voraussetzt und deshalb enger sein dürfte als der einer bloßen „psychischen Störung“ im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes.
5. Vorrangigkeit des Erkenntnisverfahrens: Bei der nachträglichen Therapieunterbringung soll es nicht mehr zwingend auf erst im Vollzug der Freiheitsstrafe erkennbar gewordene Tatsachen („nova“) ankommen. Ausreichend sein soll vielmehr eine während des Strafvollzugs festgestellte besondere Gefährlichkeit aufgrund einer diagnostizierten psychischen Störung. Da diese aber zumeist bereits im Zeitpunkt der Verurteilung bestanden haben wird, begründete die nachträgliche Therapieunterbringung auch einen Verstoß gegen den von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof bei § 66b StGB a.F. betonten Grundsatz der Vorrangigkeit des Erkenntnisverfahrens bzw. gegen das Verbot einer Korrektur rechtskräftiger Entscheidungen.
6. Prognoseproblem: Die Rückfalluntersuchungen von Alex, Kinzig und Müller/ Stolpmann(1) belegen, dass für hoch gefährlich gehaltene Sexual- und Gewaltstraftäter nur selten erneut mit einschlägigen Rückfalltaten auffallen. Dies weist darauf hin, dass nach wie vor erhebliche Unsicherheiten bei Kriminalprognosen bestehen. Diese Unsicherheiten sind bei nachträglichen Unterbringungsentscheidungen sogar besonders groß, weil dem prognostisch wenig aussagekräftigen Vollzugsverhalten zwangsläufig zentrale Bedeutung zukommt.
7. Klimaverschlechterung im Vollzug: Zwingende Folge der (Wieder-)Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung/Therapieunterbringung wären erneut erhebliche Belastungen für den Strafvollzug durch hohen bürokratischen Aufwand, Verunsicherung von tausenden Strafgefangenen, welche die formellen Voraussetzungen der Therapieunterbringung erfüllen, und Behinderung von Resozialisierungsmaßnahmen (double-bind für Gefangene).
8. Sanktionierung von Haftschäden: Zudem würde Gefährlichkeit ausschließlich den Gefangenen angelastet, obwohl sie in erheblichem Maße eine Folge von iatrogenen, d. h. dem Vollzug zuzurechnenden, Faktoren darstellt.
9. Schlechterstellung im Strafvollzug: Der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 4.5.2011 betonte „ultima-ratio-Grundsatz“ besagt, dass Strafgefangene Anspruch auf eine intensive und individuelle Betreuung haben, wenn ihnen die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung droht. Während des Strafvollzugs muss alles dafür getan werden, um die Maßregelvollstreckung noch zu vermeiden. Diesem Grundsatz könnte bei der nachträglichen Unterbringung nicht Rechnung getragen werden, weil deren Anordnung erst zum Ende des Strafvollzugs erfolgt. Strafgefangene, gegen welche die Unterbringung nachträglich angeordnet würde, stünden daher sogar deutlich schlechter als solche mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung (§ 66 c Abs. 2 StGB).
10. Stigmatisierung psychisch Kranker: Zurecht haben deutsche Psychiater(2) die Ausweitung psychiatrischer Diagnosen zu sicherheitspolitischen Zwecken als Missbrauch der Psychiatrie bezeichnet und vor der mit der Gleichsetzung von Gefährlichkeit und psychischer Störung verbundenen Stigmatisierung psychisch Kranker gewarnt.
Wir fordern Sie deshalb auf, das gesamte Maßregelrecht einer gründlichen – am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten – Prüfung zu unterziehen und insbesondere von einer weiteren Ausdehnung der Sicherungsverwahrung, verkappt als Therapieunterbringung, abzusehen.
Anmerkungen:
(1) Alex, Michael: Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel. 2. Aufl., Holzkirchen 2013; Kinzig, Jörg: Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter. 2. Aufl., Freiburg 2010; Müller, Jürgen. L. und Georg Stolpmann: Untersuchung der nicht angeordneten Sicherungsverwahrung – Implikationen für die Neuregelung der Sicherungsverwahrung. In: Müller, Jürgen L.; Nedopil, Norbert; Saimeh, Nahlah; Habermeyer, Elmar; Falkai, Peter (Hrsg.): Sicherungsverwahrung – wissenschaftliche Basis und Positionsbestimmung. Berlin 2012.
(2) Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde: www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/stellungnahmen/2011/stn-2011-02-10-sicherungsverwahrung.pdf.