Das Versammlungsrecht nicht gegen den Infektionsschutz ausspielen!
Die Menschenrechte müssen auch und gerade während einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite maximal möglich gewährt werden.
Im Zuge des Corona-Lockdown hat der Berliner Senat (wie die meisten Landesregierungen) Ende März durch Verordnung sämtliche Demonstrationen verboten – unabhängig von tatsächlichen Infektionsgefahren. Diese zeitweilige Abschaffung eines wichtigen Grundrechts durch einen einfachen Beschluss der Exekutive darf sich nicht wiederholen. Das allgemeingültige behördliche Versammlungsverbot wurde mit der Lockerung der Maßnahmen in Berlin am 4. Mai erstmals mit reduzierter Teilnehmendenzahl, schließlich am 30. Mai nahezu gänzlich zurückgenommen. In jüngerer Zeit wird die Versammlungsfreiheit jedoch erneut behindert. Dabei gilt grundsätzlich: Der exekutiv angeordnete Infektionsschutz wiegt deutlich geringer als das im Grundgesetz verankerte Versammlungsrecht aller Bürger:innen, nach dem Versammlungen prinzipiell keiner Genehmigung bedürfen. Wir wiederholen so den Tenor der Stellungnahme „Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: auch nicht Datenschutz in der Pandemie!“ des HU-Bundesverband vom April 2020. Entsprechende Maßnahmen, die Versammlungen einschränken, können nur durch nachvollziehbare Abwägungen, aufgrund wissenschaftlicher Evidenz beibehalten und unter besonderen Umständen verschärft werden.
Zu den jüngeren Entwicklungen um die Versammlungsfreiheit in Berlin nimmt die Humanistische Union, Landesverband Berlin-Brandenburg, wie folgt Stellung:
(1) VERBOTE: Durch Verbote aus präventiven und offenbar auch politischen Erwägungen sehen wir die Versammlungsfreiheit akut bedroht. Während ein generelles Demonstrationsverbot (wie es im Frühjahr wochenlang galt) sowohl durch parlamentarischen Beschluss als auch durch die Verordnungsgeber:in als prinzipiell verfassungswidrig einzuschätzen ist, sind einzelne Demonstrationsverbote nur im Falle der Gefährdung der öffentlichen Ordnung angezeigt. Proteste gegen umstrittene Polizeieinsätze wie in der Liebigstraße müssen auch in der Nähe des Geschehens möglich sein. Das Verbieten oder taktische Verhindern von Demonstrationen aus Gründen des Infektionsschutzes ist gerade auch in Krisenzeiten einer Gesellschaft, deren Grundlage die Menschenrechte darstellen, nicht würdig. Auch das Demonstrieren gegen geltende Infektionsschutzverordnungen kann nicht als Angriff auf die bestehende Ordnung, deren Grundlage nicht der Gesundheitsschutz, sondern maßgeblich der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und alle Menschenrechte sind, gewertet werden. Auch Demonstrationen für eine andere Verfassung und gegen Inhalte unserer bestehenden Verfassung sind durch das Grundgesetz geschützt. Es ist zudem zu hinterfragen, ob das Verbieten von Demonstrationen gerade bei angekündigten hohen Teilnehmendenzahlen als sinnvoll oder funktional einzuschätzen ist; schließlich bedeutet das Verbieten einer Demonstration nicht zwangsläufig, dass sich größere Menschenansammlungen tatsächlich verhindern lassen.
(2) AUFLAGEN: Wenn in epidemischen Notlagen wie der aktuellen den Organisator:innen Auflagen oder Beschränkungen der Teilnehmendenzahlen zugemutet werden, müssen sie durch nachvollziehbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegbar, umsetzbar und durch Ordnungskräfte in angemessener Weise kontrollierbar sein.
Viel deutet darauf hin, dass die Regierenden Maßnahmen des Infektionsschutzes missbrauchen, um ungewollte Versammlungen zu behindern. Das lehnen wir entschieden ab.
(3) AUFLÖSUNGEN: Auch das zum Teil bereits praktizierte Auflösen von Demonstrationen ist besonders unter den Bedingungen des Infektionsschutzes als höchst fragwürdig einzuschätzen, da dies zur Eskalationen und zur Verdichtung von Menschenmassen beitragen kann. Es ist überdies fraglich, ob und inwieweit die Polizeieinsatzkräfte über Expertise im Infektionsschutz verfügen und es ist zu fragen, auf welche gesundheitspolitischen Vorgaben sie ihre Entscheidung zur Auflösung stützen. Besonders in Zeiten des Infektionsschutzes muss das Gebot der Deeskalation gelten.
Es ist die Aufgabe des Staates, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bestmöglich zu gewähren. Unter Umständen können daher unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit für absehbare Zeit oder Einzelfälle andere Rechte eingeschränkt werden. Die Substanz der Menschenrechte darf allerdings nicht gefährdet werden und dem herrschenden Präventionsgrundsatz anheimfallen; vielmehr muss gerade in Krisenzeiten gelten: Menschen- und Bürgerrechte zuerst!
(Diese Erklärung wurde am 14. Oktober 2020 auf dem Aktiventreffen des HU-Landesverbandes Berlin-Brandenburg beschlossen.)
Diese Erklärung schließt an folgende Erklärungen der HU an:
Bundesverband: Grundrechte gehören nicht in Quarantäne (20. April 2020): www.humanistische-union.de/nc/aktuelles/aktuelles_detail/back/aktuelles/article/grundrechte-gehoeren-nicht-in-quarantaene/
Bundesverband: Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: auch nicht Datenschutz in der Pandemie! (27. April 2020): www.humanistische-union.de/nc/aktuelles/aktuelles_detail/back/aktuelles/article/grundrechte-gehoeren-nicht-in-quarantaene-auch-nicht-datenschutz-in-der-pandemie/
Bundesverband: Corona-App – müssen wir jetzt alle ganz freiwillig die App installieren? (16. Juni 2020): www.humanistische-union.de/nc/aktuelles/presse/pressedetail/back/presse/article/corona-app-muessen-wir-jetzt-alle-ganz-freiwillig-die-app-installieren/
Landesverband Berlin-Brandenburg: Bürgerrechte und soziale Menschenrechte gelten in Zeiten der Krise! (13. Mai 2020): berlin.humanistische-union.de/nc/presse/berlinpressedetail/back/presse-3/article/buergerrechte-und-soziale-menschenrechte-gelten-in-zeiten-der-krise/