Abschiebungshaft: Strafe ohne Rechtsgrund und Rechtsschutz
Hubert Heinhold
Grundrechte-Report 1997, S. 21-25
Alltag in Deutschland: Der Ausländer A wird festgenommen. Er hat die Dauer seines Aufenthaltes in Deutschland überzogen und sich damit strafbar gemacht. Eine Rückfrage bei der Staatsanwaltschaft ergibt kein Strafverfolgungsinteresse: Das Verfahren wird wegen Geringfügigkeit eingestellt werden. Auf Nachfrage bei der Ausländerbehörde wird ein Haftantrag gestellt. Routiniert und auf Formblatt erläßt der zuständige Haftrichter den Haftbefehl gemäß § 57 AuslG.
Abschiebungshaft ist die niederträchtigste Haftart. Wer in Untersuchungs- und Strafhaft sitzt, kennt den Grund und akzeptiert ihn – zumindest allgemein, wenn nicht für die eigene Person. Er akzeptiert die Strafe als Sühne oder Rache oder wehrt sich emotional gegen die Ungerechtigkeit. Er kennt das Ende in Jahren, Monaten und Tagen oder zumindest, wenn er noch in Untersuchungshaft ist, in konkreter Perspektive der Hauptverhandlung.
Anders der Abschiebungshäftling. Er ist nur deshalb in Deutschland inhaftiert, damit man ihn außer Landes bringen kann, und er sitzt deswegen auf unbestimmte, wenn auch auf 18 Monate Höchstdauer begrenzte Zeit. Die Sinnlosigkeit der Haft und die Ungewißheit über ihre Dauer machen die Inhaftierung so schwer erträglich, daß sich seit der Änderung des Asylrechtes am 1.Juli 1993 bereits 13 Menschen während der Abschiebungshaft das Leben genommen haben.
Dazu beigetragen haben auch die Haftbedingungen. Denn für Abschiebungshäftlinge gibt es keine bundeseinheitlichen, gesetzlichen Vorgaben. Manche Abschiebungshäftlinge teilen nicht nur die Zellen, sondern auch die Lebensumstände mit den Straf- und Untersuchungshäftlingen; in anderen Bundesländern gibt es eigene „Abschiebeknäste“ und Vollzugsregeln für Abschiebungshäftlinge. Doch selbst da, wo ein solches Regelwerk existiert, legt es den „Schüblingen“ weit mehr an Repressionen auf, als der Haftzweck es erlaubt. Denn der besteht einzig und allein darin, „die Abschiebung sicherzustellen“.
1. Verfassungswidrig ist daher die Vollzugspraxis in Deutschland.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon in seiner Entscheidung vom 14.März 1972 (BVerfGE 33, 1) für den Strafvollzug entschieden, daß auch hier die Grundrechte nur aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen; für den Vollzug von Haft bedürfe es eines den Vollzug regelnden Gesetzes. Diese Forderung wurde durch das Strafvollzugsgesetz für den Bereich der Strafjustiz eingelöst.
Nach wie vor fehlt es jedoch an einer gesetzlichen Regelung der Abschiebungshaft. Die zur Rechtfertigung dieses Mankos herangezogene Paragraphenkette ( § 8 II Freiheits-Entziehungs-Verfahrens-Gesetz § § 171, 173-175 Strafvollzugs-Gesetz) genügt nicht, da es sich hierbei um Generalklauseln handelt, die den Besonderheiten der Abschiebungshaft auch nicht ansatzweise Genüge tun.
In der Praxis unterliegen Abschiebungshäftlinge vielfach denselben Restriktionen wie Strafhäftlinge: Ihr Besuchsverkehr ist eingeschränkt, ihre Post wird zensiert, sie dürfen nicht frei telefonieren, unterliegen hinsichtlich der Lebensgestaltung (Freizeit, Sport, Fernsehen, Lektüre etc.) der restriktiven generellen Anstaltspraxis. Familien werden auseinandergerissen. Wenn sie nicht in verschiedenen Anstalten einsitzen, beschränkt sich der Besuchsverkehr teilweise auf eine halbe Stunde alle zwei Wochen. All diese Restriktionen sind aus dem einzig gesetzmäßigen Haftgrund „Sicherung der Abschiebung“ nicht erklärbar!
2. Verfassungswidrig ist die Dauer der Haft.
Die Abschiebungshaft in Form der Sicherungshaft kann im Regelfall bis zu sechs Monaten angeordnet werden und bis zu 18 Monaten verlängert werden, wenn der Ausländer oder die Ausländerin seine oder ihre Abschiebung verhindert.
Diese Höchstzeiten sind nicht mehr verhältnismäßig. Grundsätzlich ist jede Haft ein empfindliches Übel. Sie ist nicht nur die temporäre Beschränkung der Bewegungsfreiheit, sondern auch der Entfaltungsmöglichkeit einer Person. Haft ist die schwerste Sanktionsmöglichkeit eines Staates nach der Todesstrafe. Um die Schwere dieser Sanktion erfühlen zu können, möge man einmal für sich selbst bedenken, was es bedeutet, nicht aufstehen zu können, wann man will, sondern stets zur gleichen Zeit geweckt zu werden, die Scham vergessen zu müssen, weil die Toilette in dem Aufenthaltsraum ist, den man mit einem anderen Menschen teilt, nicht den eigenen Tagesrhythmus leben zu dürfen, weil der Tag von einer Anstaltsordnung geregelt wird, nicht lesen zu dürfen, wann und was man möchte, zu wissen, daß die Briefe von einem fremden Richter gelesen werden, andere als die Mitinhaftierten nur alle 14 Tage für eine halbe Stunde sehen zu dürfen (und dann auswählen zu müssen, wen man empfangen darf) und generell in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein – und zwar nicht nur für einen oder zwei Tage, sondern für eine unbestimmte Vielzahl von Tagen.
Dies alles mag als staatliche Reaktion auf schwerwiegende Straftaten unter den Gesichtspunkten der Sühne und der Vorsorge diskutabel sein. Unter dem einzigen Zweck, sicherzustellen, daß jemand das Land verläßt, sind derartige Eingriffe für die Dauer von einem halben oder gar eineinhalb Jahren unerträglich. Die Auslieferungshaft, die zur Voraussetzung hat, daß der Betreffende wegen eines dringenden Verdachtes einer Straftat von einiger Schwere verdächtig ist, darf 40 Tage nicht überschreiten; die Untersuchungshaft muß im Verhältnis zur Dauer der erwarteten Strafe stehen, so daß eine halbjährige Untersuchungshaft allenfalls dann gerechtfertigt werden kann, wenn eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung zu erwarten ist. Wenn, wie in der Praxis durchaus nicht selten, die Abschiebungshaft ein halbes Jahr dauert, ist sie eine unzulässige Nebenstrafe, die sich nicht aus ihrem eigentlichen Zweck, sondern nur aus der Aversion des deutschen Rechtes – und derer, die es vollziehen – gegen Ausländer erklärt.
3. Verfassungswidrig ist die eingeschränkte Prüfung durch die Haftrichter.
Die gegenwärtige Rechtsprechung unterstellt, daß die Prüfungskompetenz der Haftrichter im Abschiebungshaftverfahren dergestalt eingeengt ist, daß er bei der Haftentscheidung nur noch die Voraussetzungen des § 57 Ausländergesetz zu überprüfen hat und an die vorangegangenen ausländerrechtlichen Entscheidungen gebunden ist. Dies soll selbst dann gelten, wenn substantiiert dargetan wird, daß die vorangegangenen Entscheidungen grundrechtswidrig seien. Allenfalls an einen nichtigen Verwaltungsakt soll der Haftrichter nicht gebunden sein.
Abgesehen davon, daß diese Rechtsprechungspraxis vielfach dazu geführt hat, daß viele Haftrichter Haftbefehlsanträge unbesehen und weitgehend ungeprüft unterzeichnen, was ihnen den Vorwurf eingetragen hat, sie seien als „Unterschriftenmaschine“ (DRiZ 1994, 33) bzw. als „Erfüllungsgehilfen der Ausländerbehörden“ (Heldmann, § 57 AuslG, Rdn. 9) tätig, wird durch sie im Ergebnis Art. 19 IV GG verletzt. Denn der Grundsatz der richterlichen Kontrollbefugnis und -pflicht verlangt auch, daß eine vorangegangene Verwaltungsentscheidung nicht mit Bindungswirkung akzeptiert werden muß, sondern läßt allenfalls eine Indizwirkung bei umfassender Prüfungskompetenz zu. Die gegenwärtige schmale Prüfungskompetenz des Haftrichters – die in der Praxis nicht einmal ausgeschöpft wird – bewirkt, daß die Frage, ob Abschiebungshaft verhängt wird, de facto weitgehend von den Ausländerbehörden entschieden wird.
Es erstaunt nicht, daß es erhebliche Regelungsdefizite gibt, wenn es um die Verhaftung von Ausländern und ihre Haftbedingungen geht. Schließlich hat die Geringachtung der Fremden hierzulande Tradition. Ein Beispiel liefert das Auswärtige Amt in einer Auskunft vom 28.Februar 1996, in der es zur Folter in Tunesien heißt, derartige Übergriffe würden „von Tunesiern nicht in gleichem Maße wie von Europäern als Eingriff in persönliche Rechte empfunden“. So denken hierzulande offenbar viele. Daß die Dauer der Haft sich mehr an der Langsamkeit von Verwaltungsabläufen und dem staatlichen Abschiebungsinteresse als an den Menschenrechten der Ausländer orientiert, verwundert da offenbar kaum noch. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Flughafenurteil vom 14.Mai 1996 die Verweigerung eines effektiven Rechtsschutzes für Asylbewerber für zulässig erklärt und damit „der Exekutive freie Hand eingeräumt“, wie die drei abweichenden Richter zu Recht feststellen. Gleichwohl muß eine solche Rechts-, Verwaltungs- und Justizpraxis uns alle aufrütteln: An Minderheiten wird stets vorexerziert, was eine starke Lobby bei der Mehrheit (noch?) verhindert. Wer die Rechte der Schwachen nicht einfordert, könnte selbst bald rechtlos sein.