Auf dem Weg zur Standort Deutschland GmbH. Umbau und Abbau der Sozialstaatlichkeit
Klaus Kittler
Grundrechte-Report 1997, S. 155-159
Das Sozialstaatsgebot hat Verfassungsrang (Art. 14 und 20 GG). Aber was heißt das eigentlich: Sozialstaat? Ein Begriff, der noch vor einigen Jahren eine Selbstverständlichkeit zu beschreiben schien, zerrinnt nun unter den Fingern oder entrückt in die Ferne eines unerreichbaren Ideals. Die öffentliche Diskussion wird von dem gebieterischen Argument beherrscht, man könne doch nur das Geld ausgeben, das man habe, und die öffentlichen Kassen seien nun eben leer. Dieses Argument wird, obwohl der gesamtgesellschaftliche Reichtum zunimmt, ständig wiederholt und dient zur Rechtfertigung eines rapiden Sozialabbaus. Täglich stehen neue Einzelheiten in der Zeitung, aber die Publizität scheint niemanden aufzurütteln. Ihre einzige spürbare Auswirkung ist die Gewöhnung des Publikums an den Sozialabbau, der Sozialstaatsabbau ist.
Die Wirtschaft wächst. Die Aktienkurse, ob Dow Jones oder Dax, erreichen Spitzenwerte. Großbanken und Industriekonzerne wie Siemens machen Rekordumsätze und auch Rekordgewinne. „Rekord in Deutschland: Immer mehr Millionäre leben in Niedersachsen“, meldete die hannoversche Neue Presse am 23.9.1996. Die Zahl der Vermögensmillionäre war nämlich innerhalb von fünf Jahren um 30 Prozent gestiegen. Hätten da nicht für Arbeitslose und Arme, für Kranke und Rentner wenigstens einige Krumen übrigbleiben müssen? Weit gefehlt: „Mehr Millionäre – aber sie zahlen weniger Steuern“, stand schon am 24.8.1996 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Die Zahl der Einkommensmillionäre hatte sich innerhalb von nur vier Jahren sogar verdoppelt, aber die Summe ihrer Steuerzahlungen wuchs nur um 39 Prozent. In Stuttgart kündigte Daimler-Benz an, bis zum Jahre 2000 sei nicht mit Steuerzahlungen des Konzerns zu rechnen (der übrigens neben Siemens einer der großen Subventionsempfänger in Deutschland ist).
Auf der anderen Seite waren, um beim nordwestdeutschen Beispiel zu bleiben, Ende 1996 beim Landesarbeitsamt Niedersachsen/Bremen weit über 400000 Menschen arbeitslos gemeldet. Von diesen erhielten aber nur rund 300000 Zahlungen der Arbeitsämter (Arbeitslosengeld oder -hilfe). Im Monatsdurchschnitt kamen hier auf eine gemeldete offene Stelle 14,7 gemeldete Arbeitslose. Statistisch war mehr als ein Viertel der gut 2,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Nordwestdeutschland einmal im Jahr von Arbeitslosigkeit betroffen. Das Landesarbeitsamt sprach von einer „alarmierenden Entwicklung auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt“.
Die Aufwendungen für die Sozialhilfe zum Lebensunterhalt stiegen 1996 bundesweit um mehr als zehn Prozent. Der Grund dafür lag nicht im Anstieg der Regelsätze (ein Prozent), sondern in der steigenden Zahl der Anspruchsberechtigten, also der auf diese Hilfe Angewiesenen. Schon von 1980 bis 1992 hatte sich ihre Zahl verdoppelt. Eine Forschungsgruppe an der Universität Bremen stellte fest, daß, über einen längeren Zeitraum gesehen, fast ein Drittel der Bevölkerung zeitweilig von Armut betroffen war, das heißt weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens hatte (s. Leibfried/Leisering u. a.: Zeit der Armut, Frankfurt a. M. 1995, S. 306).
Im selben Zeitraum (1980-1992) hatte sich die Anzahl der wohlhabenden Haushalte mit einem monatlich verfügbaren Einkommen von 10000 Mark und mehr fast verfünffacht, und in den Jahren darauf öffnete sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Wie reagieren Politik und Gesellschaft auf diese Entwicklung? Angesichts von so viel Wohlstand und Reichtum scheinen doch einige Stichkanäle zu genügen, um etwas Milch und Honig auch auf die Schattenseite der Gesellschaft fließen zu lassen.
Ende September 1996 debattierte der Bundestag über die Armut in Deutschland. Tags darauf zitierte die Frankfurter Rundschau (28.9.1996) den Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer: Wenn die Zahl der Sozialhilfebezieher aufgrund der Zuwanderung steige, sei dies nicht als „Ausdruck neuer Armut, sondern von Hilfsbereitschaft“ anzusehen. Tatsächlich aber wurden mit der Reform des Bundessozialhilfegesetzes 1996 die Regelsätze bis zur Jahrtausendwende gedeckelt, Mehrbedarfszuschläge wurden gestrichen, die Sanktionen für angebliche Arbeitsverweigerer wurden verschärft. Mit dem Arbeitslosenhilfereformgesetz wurde beschlossen, die Arbeitslosenhilfe jährlich und pauschal zu senken. Die sogenannte originäre Arbeitslosenhilfe (die nach kurzfristigen Arbeitsverhältnissen gezahlt wird, wenn noch kein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht) wurde befristet. Mit dem kommenden Arbeitsförderungsreformgesetz soll sie ganz gestrichen werden. Damit verbunden sind weitere Kürzungen bei Fortbildung und Umschulung. Die Bemessungsgrundlage für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen soll auf 80 Prozent des Tariflohnes abgesenkt werden.
Bezeichnend für den Umgang mit dem Verfassungsrecht ist folgendes Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hatte 1995 für verfassungswidrig erklärt, daß Sozialabgaben von Einmalzahlungen (Urlaubs- oder Weihnachtsgeld) zwar rentensteigernd wirken, aber nicht auch zu höheren Lohnersatzleistungen wie Kranken- oder Arbeitslosengeld führen. Daraufhin verabschiedete die Regierungsmehrheit im Oktober 1996 ein neues Gesetz: Von Urlaubs- oder Weihnachtsgeld sowie zusätzlichen Monatsgehältern werden weiterhin Sozialbeiträge erhoben, ohne daß den Versicherten dadurch höhere Ansprüche auf Arbeitslosengeld oder -hilfe entstehen. Statt die Politik an den Grundsätzen der Verfassung auszurichten, wurde das Recht den politischen Prioritäten angepaßt.
In den Auseinandersetzungen um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, um die dritte Stufe der Gesundheitsreform und auch um die Zukunft der Renten zeigt sich immer dieselbe Tendenz: Soziale Risiken werden zunehmend auf die Betroffenen abgewälzt. Davon ist keine Säule der sozialen Sicherung mehr ausgenommen. Mit der Einführung des Pflegegesetzes wurde eine Abkehr von dem Prinzip eingeleitet, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Sozialversicherung zu gleichen Teilen finanzieren. Soziale Sicherung sollte eigentlich vor den Risiken der Arbeitslosigkeit und Armut, der Krankheit und des Alters schützen. Jetzt wird sie derart umgebaut, daß Menschen in diesen Lebenslagen soziale Ausgrenzung befürchten müssen, wenn sie nicht bereits vorher ausreichend Mittel zur Verfügung hatten, sich zusätzlich privat abzusichern. Dieser Prozeß des Abdrängens von öffentlichen Leistungen in den privaten Bereich, auch eine Art der Ausgrenzung, reicht schon bis in die Sozialhilferechtsprechung hinein. Die Klage eines Stuttgarter Sozialhilfeempfängers, dem die Sozialhilfe gekürzt worden war, wurde mit der Begründung abgelehnt, er hätte doch vom besonders billigen Angebot der „Schwäbischen Tafel“ leben können (die Frankfurter Rundschau vom 30.3.1996 berichtete darüber unter der Überschrift „Richter strich Sozialhilfe mit Hinweis auf Armenspeisung“). Solche Tafel-Initiativen sind in vielen Großstädten entstanden. Sie sammeln Lebensmittel, die in normalen Geschäften nicht mehr verkauft werden, als Spenden ein und geben sie unter Marktpreisen oder unentgeltlich an Bedürftige weiter. Wie lange wird es noch dauern, bis mit dem Hinweis auf diese privaten Hilfen die Sozialhilfe generell gekürzt werden kann?
Auch die ausführenden Ämter sind an diesem Prozeß beteiligt. Mit dem Arbeitslosenhilfereformgesetz wurde eine pauschale jährliche Absenkung der Arbeitslosenhilfe beschlossen. Das Gesetz trat zum 1.Juli 1996 in Kraft, aber in einem Sammelerlaß der Nürnberger Bundesanstalt wurden die Arbeitsämter aufgefordert, bei der Anpassung der Ansprüche im Vorgriff auf die beabsichtigte gesetzliche Regelung schon vom 1.April 1996 an so zu verfahren. Darüber hinaus haben sich CDU-Politiker bereits dafür ausgesprochen, die Bemessungsgrundlage für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf 70 Prozent des tariflichen Entgelts zu senken und sogar das Arbeitslosengeld zu besteuern.
Die Ungleichheit vergrößert sich. Die Gesellschaft polarisiert sich. Überdurchschnittlich groß ist der Anteil der Kinder, die in Armut leben; und weil sie arm sind, haben sie auch schlechtere Chancen auf Bildung, Arbeit, Wohnung, gesundheitliche Versorgung (s. Walter Hanesch, Armut in Deutschland, Reinbek 1994). Die wachsende Ungleichheit hat auch Folgen für die Demokratie: Die Verlierer im Kampf um die materiellen Güter unserer Gesellschaft gehen nicht mehr wählen; von den Politikern versprechen sie sich nichts mehr. Nach jeder Wahl zeigt ein Blick in die Ergebnis-Tabellen, daß in den Armutsbezirken die Wahlbeteiligung am geringsten ist.
Während der Staat bei den Armen kürzt und sie mit immer höheren Zahlungspflichten belastet, entlastet er die Reichen, zum Beispiel durch Abschaffung der Vermögensteuer und Senkung des Spitzensatzes der Einkommensteuer. Die Verantwortlichen geben für diese Politik, die die Armen immer ärmer, die Reichen immer reicher macht, nur eine einzige, immer wiederkehrende Begründung: Im Zeichen der wirtschaftlichen Globalisierung müsse der „Standort Deutschland“ gesichert werden. Die Politik habe gleichsam nur noch die Dienstleistungsfunktion, dem frei um den Globus fliegenden Kapital ein Nest zu bereiten, damit es sich hier eine Zeitlang niederlassen möge; sie müsse auf den „Shareholder-value“ bedacht sein, für möglichst hohen Profit sorgen. Aber wenn die Globalisierung von Menschen gemacht (und gerade von deutschen Unternehmern und Politikern vorangetrieben) wird, dann sollte es auch möglich sein, sie anders zu machen. In der sozialpolitischen Debatte wird die Globalisierung zum Totschlagargument – das allerdings viel von seiner Wirkung verlöre, wenn die Regierungspropaganda und die von ihr beeinflußte Publizistik nicht verschweigen würden, daß die großen deutschen Unternehmen zu Lasten der Wirtschaft anderer Länder Gewinner der Globalisierung sind, daß die deutsche Wirtschaft große Exportüberschüsse erzielt, daß die Lohnstückkosten in Deutschland niedriger sind als beispielsweise in den USA und Japan und daß es neben den Arbeitskosten noch ganz andere Standortfaktoren gibt, beispielsweise die Qualität der Arbeitsbeziehungen und des Rechtssystems, die politische Stabilität und das Niveau des Bildungswesens. Insofern kann gerade das Kaputtsparen des Sozialstaates zum größten Standortrisiko werden, zumal sich der Rückgang der Inlandsnachfrage nicht auf Dauer durch Eroberung ausländischer Märkte ausgleichen läßt. Nicht nur Moral und Verfassungsrecht, sondern auch volkswirtschaftliche Vernunft gebietet eine gerechte Verteilung der Arbeit und des durch Arbeit entstandenen Reichtums.
Gesetzgeber, Rechtsprechung und ausführende Behörden arbeiten gemeinsam daran, den Sozialstaat zu einer Art Standort Deutschland GmbH umzubauen, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung vor allem für ihre schwächsten Mitglieder. Die besondere Gefährlichkeit dieser Politik liegt darin, daß sich die Verantwortlichen der öffentlichen Diskussion entziehen. Unter der Überschrift „Bitte nicht stören!“ meldete die Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21.10.1996, daß die Evangelische Akademie Loccum eine Tagung zum Thema „Arbeitslosigkeit und Sozialstaat“ mehrmals absagen mußte, weil es nicht möglich war, „die Bereitschaft der gesellschaftlichen Akteure, vor allem im Bereich der Politik und der Wirtschaftsverbände, zu wecken“.