Behinderung der Behinderten
Karl Finke
Grundrechte-Report 1997, S. 56-61
Am 30. Juni 1994 ergänzten die Mitglieder des Bundestages den Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes um den folgenden Satz 2: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Im Grundgesetz wurde damit erstmalig die besondere Situation von Menschen mit Behinderungen in den Blick genommen und ihnen ein eindeutiger Schutz vor Diskriminierung gewährt. Die erkämpfte Aufnahme des Diskriminierungsverbotes in die Verfassung ist Ausdruck eines gewandelten Bewußtseins vor allem bei uns Betroffenen selbst. Behinderte, in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend Objekte staatlicher Fürsorge, fordern heute die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstvertretung. Wir sind nicht mehr Bittsteller, die an die Türen von Behörden klopfen und auf deren Mitgefühl und Wohlwollen angewiesen sind, sondern haben auf der Grundlage des Grundgesetzes einklagbare Ansprüche erworben. Der Grundgesetzergänzung gingen zähe Diskussionen im zuständigen Ausschuß des Bundestages und vielfältige Aktivitäten von Menschen mit Behinderungen und ihrer Organisationen voraus. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag verweigerte sich bis zur letzten Minute; schließlich kam nicht zuletzt wegen des öffentlichen Drucks die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit doch zustande. Aber schon zu diesem Zeitpunkt war klar, daß der neuen Grundrechtsnorm Antidiskriminierungsgesetze auf Bundes- und Länderebene und andere gesetzliche Regelungen folgen müßten. Diese rechtliche Konkretisierung des Benachteiligungsverbotes ist bisher noch nicht erfolgt. Unabhängig davon wissen wir, daß geänderte Gesetze erfahrungsgemäß nicht sofort und unmittelbar veränderte gesellschaftliche Verhältnisse nach sich ziehen. Die Diskriminierung Behinderter ist nicht seit dem 30.Juni 1994 abgeschafft. Ein politisches Signal ist gesetzt, und Menschen mit Beeinträchtigungen haben bessere Möglichkeiten, sich gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen.
Was bedeuten nun „Benachteiligung“ und „Diskriminierung Behinderter“ im Sinne des Grundgesetzes? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst klären, was unter „Behinderung“ zu verstehen ist. Die gängige Zuschreibung, die behinderte Menschen als defizitäre Wesen mit Funktionsbeeinträchtigungen sieht, deren Körper, Seele oder Geist sich in einem „regelwidrigen Zustand“ befindet, akzeptieren wir nicht mehr. In Anlehnung an den Behindertenbegriff der Weltgesundheitsorganisation definiert das Forum behinderter Juristinnen und Juristen folgendermaßen:
„Schädigung“: Eine Schädigung ist jede Minderung körperlicher Funktionen, geistiger Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit.
„Beeinträchtigung“: Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn Menschen aufgrund einer Schädigung nicht nur vorübergehend die jeweils üblichen Anforderungen der natürlichen und sozialen Umwelt nicht oder nicht vollständig erfüllen können und dadurch ihr Leben in der Gesellschaft, die Teilnahme am Erwerbsleben oder die selbstbestimmte Gestaltung ihres Alltags erschwert oder eingeschränkt ist. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten.
„Behinderung“: Eine Behinderung ist jede Maßnahme, Struktur oder Verhaltensweise, die Menschen mit Beeinträchtigungen Lebensmöglichkeiten nimmt, beschränkt oder erschwert. Behinderte im Sinne dieser Definition sind Personen, die von einer hier skizzierten Behinderung betroffen sind.
„Diskriminierung“: Eine Diskriminierung liegt vor, wenn Menschen wegen ihrer Beeinträchtigung in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft oder in ihrer selbstbestimmten Lebensführung behindert oder benachteiligt werden. Eine schuldhafte Diskriminierung ist die vorsätzliche oder fahrlässige Veranlassung, Fortsetzung oder Aufrechterhaltung von Maßnahmen, Strukturen, Verhaltensweisen oder Feststellungen, die geeignet sind, Menschen mit Beeinträchtigungen zu behindern oder zu benachteiligen.
Diese Differenzierung im Sinne der Weltgesundheitsorganisation ermöglicht es, den auf die Person bezogenen Aspekt der körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung klar von der Behinderung oder Diskriminierung durch die Gesellschaft abzugrenzen. Dadurch können Probleme und Verantwortlichkeiten deutlicher benannt und so ins Bewußtsein der Menschen gerückt werden. In diesem Sinne müßten das Sozialgesetzbuch IX, öffentliches und privates Recht sowie das Strafrecht daraufhin überprüft werden, ob sie Behinderte diskriminieren oder benachteiligen bzw. nicht gewährleisten, daß Diskriminierungen und Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden.
Drei Jahre nach der Verabschiedung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG werden Menschen mit Behinderungen faktisch in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen und in nahezu allen Lebensbereichen weiterhin alltäglich diskriminiert. Öffentliche Verkehrsmittel sind nach wie vor häufig für Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder Sinnesschädigungen nicht benutzbar. Von einer Gleichstellung im Arbeitsleben sind wir Lichtjahre entfernt. Der Anteil der schwerbehinderten Arbeitslosen liegt nach wie vor um 50 Prozent über der durchschnittlichen Arbeitslosenquote. Menschen mit geistiger Behinderung finden fast gar keine Beschäftigung, außer in besonderen Werkstätten für Behinderte. Bauliche Barrieren sind allgegenwärtig. Sowohl öffentliche Gebäude als auch Geschäfte und Gaststätten, Kinos, Theater und andere Lebensorte sind auch heute noch Behinderten oft nicht zugänglich. Kinder mit Beeinträchtigungen werden in der Regel in Sondereinrichtungen betreut und beschult, also nicht integriert.
Im folgenden werde ich an zwei Beispielen aufzeigen, wie Menschen mit Beeinträchtigungen an der Ausübung ihrer Grundrechte gehindert werden oder wie – im Falle der Bioethik-Konvention – ihnen Grundrechte abgesprochen werden.
Eine Schule für alle
Obwohl nun das Grundgesetz Schutz vor Diskriminierung verspricht und sogar die überwiegende Zahl der Landesverfassungen Möglichkeiten des integrativen Schulunterrichts vorsehen, wird einer wachsenden Zahl von behinderten Kindern der Besuch einer Regelschule verweigert. In Niedersachsen zum Beispiel wurden im Schuljahr 1994/95 nur etwa 500 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Integrationsklassen unterrichtet. Dagegen befanden sich mehr als 29800 Kinder in Sonderschulen (Schulen für Lernbehinderte, Geistigbehinderte, Körperbehinderte, Sinnesbehinderte, Sprachbehinderte und Verhaltensgestörte). Wie ist das angesichts der anscheinend positiven Rechtslage möglich?
Zwar sehen die meisten Schulgesetze der Bundesländer mittlerweile die Möglichkeit der integrativen Beschulung vor, jedoch wird in der Regel einschränkend darauf hingewiesen, daß die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten hierfür gegeben sein müssen. Exemplarisch heißt es in § 4 des Niedersächsischen Schulgesetzes: „Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, sollen an allen Schulen gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern erzogen und unterrichtet werden, wenn auf diese Weise dem individuellen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler entsprochen werden kann und soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten erlauben.“ Der Grundsatz der gemeinsamen Beschulung begründet keinen individuellen Integrationsanspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Was im Schulgesetz als Regel formuliert ist, bleibt im wirklichen Leben die Ausnahme. Das Land verweist darauf, wegen der schlechten Haushaltslage keine weiteren Lehrkräfte für Integrationsklassen einstellen zu können. Die Kommunen verweisen darauf, wegen der schlechten Haushaltslage die möglicherweise notwendigen sächlichen Gegebenheiten (Rampe, Aufzug, Behindertentoilette) nicht bereitstellen zu können. Und schließlich verweisen Schulkollegien darauf, daß sie ohne angemessene personelle und sächliche Ausstattung keine Integrationsklasse einrichten können. Am Ende dieser Ablehnungskette stehen behinderte Schülerinnen und Schüler, die einer Sonderschule zugewiesen werden.
Ein am 30.Juli 1996 ergangener Beschluß des Bundesverfassungsgerichts bestärkt nun betroffene Kinder und Eltern darin, daß zumindest für Niedersachsen und Bundesländer mit vergleichbaren Schulgesetzen der Grundsatz der gemeinsamen Beschulung nicht wie bisher mit dem pauschalen Verweis auf fehlende personelle, sächliche und organisatorische Gegebenheiten ausgehebelt werden darf. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „Ausstrahlungswirkung“ des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf die im konkreten Einzelfall zu treffende Entscheidung. Anlaß war die Auseinandersetzung mit einem Bechluß des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, dem es vorwirft, seine Entscheidung lasse „nicht das Bewußtsein erkennen, daß das Interesse der Beschwerdeführerin [einer Schülerin, d. Verf.], wegen ihrer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geschützt ist“. Man kann nur hoffen, daß der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Bewußtseinswandel schnell eintritt.
Körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde für alle
Obwohl es im Grundgesetz seit dessen Verkündung 1949 heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art.1 Abs. 1 GG) und: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 GG), wird in der Bundesrepublik und anderen Ländern seit einigen Jahren eine neue Lebens(un)wert-Debatte geführt. Beispielhaft hierfür steht die Diskussion über die Bioethik-Konvention des Europarates. Die Bioethik und in ihrem Gefolge Mediziner(innen) und Jurist(innen) treffen Wertungen in bezug auf menschliches Leben. Im Rahmen einer solchen rationalen Ethik sei es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu töten, wenn bestimmte Kriterien nicht erfüllt sind, vertritt die australische Wissenschaftlerin Helga Kuhse, eine Kollegin des Euthanasiebefürworters Peter Singer. Um diese Kriterien zu gewinnen, wird von den Bioethikern zwischen Menschen und Personen unterschieden. Während der „bloße“ Mensch, das Gattungswesen, von Peter Singer auch als „human vegetable“ bezeichnet, in bestimmten Fällen kein Lebensrecht aus sich heraus besitzt, kommt dieses Personen zu. Wissenschaftler stellen Kriterien dafür auf, was eine Person ausmacht: Rationalität, Selbstbewußtsein, Zukunftsorientierung, Wahrnehmungsfähigkeit, Überlebensinteresse. Menschliches Leben wird bei den Bioethikern also erst durch bestimmte Qualitätsmerkmale zu personalem Leben. Darunter oder davor ist menschliches Leben unpersonal – ohne Sinn, ohne Würde, ohne Wert und ohne Recht.
Die Bioethik bestreitet damit – wenngleich sie sich selber auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit beruft – die Universalität der Menschenrechte und die Unverletzlichkeit der Person eines jeden Menschen. Dieser verdankt dann seine Grundrechte anderen, die darüber entscheiden, ob seine Eigenschaften und Leistungen ausreichen. Letztlich führt die scheinbar rational argumentierende Bioethik dazu, daß einer großen Gruppe von Menschen in dieser Gesellschaft Menschenrechte und Menschenwürde aberkannt werden. Diese Gruppe wird in der Bioethik-Konvention „nichteinwilligungsfähige Personen“ genannt. Menschen mit geistiger Behinderung sind hier ebenso umfaßt wie demente alte Menschen, Patienten im Wachkoma oder etwa Neugeborene und kleine Kinder. Für diese nichteinwilligungsfähigen Personen soll gemäß Bioethik-Konvention das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht mehr uneingeschränkt gelten. Sie können unter bestimmten Voraussetzungen zu Objekten medizinischer Forschung degradiert werden. In verschiedenen europäischen Länder besteht die Möglichkeit zur fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen bereits.
In der Bundesrepublik dürfen solche Eingriffe bisher nicht legal durchgeführt werden. Namhafte Demenzforscher (s. Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, Stuttgart 1995) fordern jedoch auch hier „Rechtssicherheit“ im Sinne legaler Forschungsmöglichkeiten an Nichteinwilligungsfähigen. Sollte eine solche Regelung in der Bundesrepublik wirksam werden, werden die Grundrechte der im juristischen Sinne nicht einmal klar definierten Gruppe der nichteinwilligungsfähigen Personen eklatant verletzt. Die Bioethik-Konvention legalisiert darüber hinaus die bisher in der Bundesrepublik durch das Embryonenschutzgesetz verbotene Forschung an in vitro (außerhalb der Gebärmutter) erzeugten Embryonen und eröffnet Spielräume für die Weitergabe von Gentestergebnissen an Dritte, wie zum Beispiel Versicherungen und Arbeitgeber. Alle drei Regelungen stellen einen Angriff auf Grundrechtsnormen unserer Verfassung dar.