Berufsverbote: "Treuepflicht" und Meinungsfreiheit
Peter Becker, Klaus Dammann
Grundrechte-Report 1997, S. 125-129
Eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte scheint endlich seinem Ende zuzugehen: der Radikalenerlaß und seine Folgen. Bezeichnenderweise ist nicht etwa eine politische Entscheidung der Grund dafür, sondern ein Richterspruch; und er wurde auch nicht durch die deutsche Justiz hervorgebracht, sondern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Mit dem Radikalenerlaß vom 28.1.1972 sollten „verfassungsfeindliche“ Beamtenbewerber vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden. Eigentlich ging es aber um eine unbequeme Folge der Ostverträge: 1956 war die KPD verboten worden. 1968 gründete sich die Kommunistische Partei als Zeichen des Klimawandels neu. Ein erneuter Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht schied aus. Also griff man zu einem Umweg: Die Mitgliedschaft von Beamtenbewerbern in der DKP oder anderen mißliebigen – insbesondere linken – Organisationen begründeten Zweifel an der Verfassungstreue. Bewerber mußten einen Gegenbeweis führen, der aber so wenig zu führen war wie der Entlastungsbeweis im Hexenprozeß. Deswegen ist schon früh von einem „verdeckten Parteiverbot“ gesprochen worden. Peter Glotz, ehemals Bundesgeschäftsführer der SPD, schrieb, der Radikalenerlaß habe durchaus erreicht, „was er erreichen sollte: Der Zustrom zur kommunistischen Partei wurde sichtbar verringert.“
Es ist durch zahlreiche Antworten der Bundes- und der Landesregierungen und durch den Untersuchungsbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1987 bekannt, welche quantitativen Auswirkungen der Radikalenerlaß hatte:
Ende 1984 waren im öffentlichen Dienst 2220 Linksextremisten bekannt. Die tatsächlichen Zahlen seien allerdings weit höher. Entlassen wurden aber im Bereich des Bundes seit 1980 lediglich fünf und im Bereich des Landes Niedersachsen 33 Beamte, also 1 bis 1,5 Prozent. Bei den Bewerbern war zwar die Zahl der Ablehnungen deutlich höher, aber – gemessen an den Untersuchungsmaßnahmen – verschwindend gering. In insgesamt 3,5 Millionen Fällen wurde die sogenannte Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern durchgeführt.
Die Justiz hat nach anfänglichen mutigen Urteilen – wie man leider konstatieren muß – versagt. Das Bundesverwaltungsgericht traf im Mai 1975 die erste Leitentscheidung im Falle Lenhart. Die Mitgliedschaft, eine Funktion und eine Kandidatur für die DKP reichten zur Ablehnung aus.
Der „Radikalen-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts postulierte zwar, daß eine „Entfernung aus dem Dienst … nur aufgrund eines begangenen konkreten Dienstvergehens möglich“ sei und daß eine Einzelfallprüfung gefordert werde. Lag aber ein Dienstvergehen darin, wenn sich ein Beamter außerhalb des Dienstes für eine als verfassungsfeindlich eingestufte Partei engagierte? Was war ein Einzelfall?
Ein traurig beginnender und glücklich endender Fall war der der niedersächsischen Beamtin Dorothea Vogt. Sie war in Kenntnis ihres früheren politischen Engagements in den Schuldienst eingestellt worden. Die CDU-Landesregierung ließ sie disziplinarisch aus dem Dienst entfernen. Ihre Klage hatte in keiner Instanz Erfolg.
Immerhin war dieses Verfahren, weil das BVerfG angerufen worden war, das erste eines entlassenen Beamten, das zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR) geführt werden konnte. Zwar war Frau Vogt durch Entscheidung ihres nunmehr zum Ministerpräsidenten gewordenen ehemaligen Prozeßbevollmächtigten Gerhard Schröder wieder in den Dienst eingestellt worden. Eine Rehabilitierung für die Vergangenheit wurde aber ausdrücklich abgelehnt.
In der Beschwerde wurde insbesondere der Eingriff in die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und in die Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 gerügt. Frau Vogt konnte zwar nach wie vor für ihre Partei, die DKP, tätig sein. Sie konnte auch ihren Beruf ausüben. Beide Rechte konnte sie aber nur alternativ und nicht zusammen ausüben. Dieser Eingriff in die Menschenrechte war konventionswidrig.
Die Kommission stimmte der Beschwerde mit 10:1 Stimmen zu. Die Bundesregierung rief die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) an, die der Beschwerde mit 10:9 Stimmen stattgab. Der EuGHMR sah in der Entlassung der Lehrerin trotz untadeliger Amtsführung einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Menschenrecht der Meinungs- und der Vereinigungsfreiheit, der einer demokratischen Gesellschaft nicht angemessen sei.
Welches sind nun die Auswirkungen des EuGHMR-Urteils?
Mit dieser Entscheidung ist der Schutz der Meinungs- und der Vereinigungsfreiheit verstärkt worden, soweit der Geltungsbereich der Konvention reicht. Bedauerlich ist nur, daß der EuGHMR die Bewerber um Einstellung in den öffentlichen Dienst (Beamte auf Probe, auf Widerruf) aus dem Schutzbereich der Konvention herausgenommen hat. In seinem abweichenden Votum hat der slowenische Richter Jambrek zutreffend kritisiert, daß auch beim Zugang zum öffentlichen Dienst ebenso wie bei der disziplinaren Entfernung aus dem Dienst das entscheidungserhebliche Kriterium dasjenige der „politischen Treuepflicht“ sei. Zu dieser folgerichtigen Interpretation hat sich der EuGHMR allerdings nicht durchringen können, er hätte dann auch ausdrücklich von seinen vorherigen Entscheidungen aus dem Jahre 1985 (Glasenapp und Kosiek) abrücken müssen.
Im innerstaatlichen Bereich entfaltet das Urteil des EuGHMR rechtsverbindliche Wirkungen. In Art. 53 der Konvention haben sich die Staaten verpflichtet, sich in allen Fällen, an denen sie beteiligt sind, nach den Entscheidungen des EuGHMR zu richten. Dies gilt auf jeden Fall für noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren. Im konkreten Fall Vogt folgt darüber hinaus aus Art. 50 der Konvention, daß die erlittenen Nachteile durch eine Entschädigung kompensiert werden. Dieses ist zwischenzeitlich durch eine Vereinbarung zwischen Frau Vogt und der Bundesrepublik Deutschland sowie dem Land Niedersachsen geschehen.
Rechtliche Auswirkungen ergeben sich darüber hinaus auf bereits rechtskräftig abgeschlossene Disziplinarverfahren von Beamten auf Lebenszeit. In den beamtenrechtlichen Disziplinarordnungen des Bundes (BDO) und der Länder ist eine Wiederaufnahme des förmlichen Disziplinarverfahrens ausdrücklich vorgesehen. So regelt § 97 Abs. 2 BDO, daß eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist, wenn neue Tatsachen beigebracht werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind bei einer durch seine Entscheidung geänderten Rechtsprechung neue Tatsachen im Sinne des § 97 Abs. 2 S. 1 BDO gegeben. Dies folgt aus der Bindungswirkung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts auf die Fachgerichte. Da die Urteile des EuGHMR nach Artikel 25 des Grundgesetzes eine ebensolche Bindungswirkung entfalten, sind sie ebenfalls als neue Tatsachen zu werten.
In zehn rechtskräftig abgeschlossenen Berufsverbotsprozessen sind bereits bei den Verwaltungs- bzw. Oberverwaltungsgerichten bzw. beim Bundesdisziplinargericht Wiederaufnahmeanträge gestellt worden. Es müßte geprüft werden, ob nicht noch in weiteren Verfahren von disziplinarisch verfolgten Lebenszeitbeamten ebenfalls Wiederaufnahmeanträge gestellt werden.
In diesen Verfahren kommt es also darauf an, die Disziplinargerichte davon zu überzeugen, daß mit der Entscheidung des EuGHMR auch im rechtlichen Sinne neue Tatsachen vorliegen. Möglicherweise wird wieder ein Gang durch die Gerichtsinstanzen im nationalen Bereich notwendig, mit der Folge, daß dann wiederum der EuGHMR zur Entscheidung angerufen werden könnte.
Das Urteil des EuGHMR hat allerdings auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte zu den Kündigungen aus politischen Gründen im Bereich der ehemaligen DDR. Das Bundesarbeitsgericht hat zu den Kündigungen, die auf die Vorschriften des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel XIX gestützt werden, in ständiger Rechtsprechung festgestellt, daß die Radikalenrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfange Anwendung findet. Diese Rechtsgrundsätze sind allerdings im Lichte des Straßburger Urteils konventionskonform neu zu definieren.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Vorwegnahme der Straßburger Entscheidung bereits mit Beschluß vom 21.2.1995 festgestellt, daß zum einen bei der persönlichen Eignung von Beschäftigten im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR Tätigkeiten auch nach dem 3.10.1990 mitbeurteilt werden müssen und zum anderen die Grundsätze für die Beurteilung der Verfassungstreue nicht rückwirkend auf das Verhalten von Angehörigen im öffentlichen Dienst der DDR angewandt werden können.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das Straßburger Urteil Maßstäbe gesetzt hat. Diese werden künftig weder von der Bundesregierung noch den Landesregierungen, noch den Verwaltungen mißachtet werden können. Beamte, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst können einen größeren Freiraum im politischen Meinungskampf auch im Rahmen politischer Parteien und Organisationen für sich in Anspruch nehmen. Dies ist der eigentliche Gewinn. Aus diesem Grunde sollte folgerichtig eine politische Lösung zur Rehabilitierung der vom Berufsverbot Betroffenen folgen.