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Das dauernd umkämpfte Recht auf Demon­s­tra­tion

Wolf-Dieter Narr

Grundrechte-Report 1997, S. 101-106

Grund- und Menschenrechte wirken nur durch ihren dauernden und damit unvermeidlich umstrittenen Gebrauch. Für das Grundrecht auf Demonstration gilt dies besonders.

Niemand hat prägnanter den zentralen Stellenwert des Demonstrationsrechts herausgearbeitet als der ehemalige Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse. In seiner nicht oft genug zu bedenkenden Formulierung kommt zum Ausdruck, daß es sich beim Demonstrationsrecht um einen dringend nötigen Brocken demokratischen Urgesteins im unverbindlich weiten und bürgerarmen Schwemmland repräsentativer Demokratie handelt. Versammlungen, so schreibt Hesse in seinen (1991 zum 21. Mal aufgelegten) „Grundzügen des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“, „enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem wichtigen Beschluß vom 14.5.1985, dem sogenannten Brokdorf-Urteil (s. BVerfGE 69, 343ff), mit gutem Grund Hesses Qualifizierung ins Zentrum seiner Argumentation gestellt: „Auflösung und Verbot (einer Demonstration sind, WDN) nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter“ zulässig. Es sei „versammlungsfreundlich“ zu verfahren. Bei einem möglichen unfriedlichen Auswüchsen „vorbeugenden Verbot der gesamten Veranstaltung“ seien „strenge Anforderungen an die Gefahrenprognose“ zu stellen; „die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel, welche den friedlichen Demonstranten eine Grundrechtsverwirklichung ermöglichen“, sei zu gewährleisten.

Gegen diese Auslegung eines zentralen demokratischen Grundrechts hat schon vorweg das erste Versammlungsgesetz von 1953 verstoßen, das den Gesetzesvorbehalt, der im Art. 8 Abs. 2 GG enthalten ist, erstmals ausgeführt hat. Dieses Gesetz atmete allein den Geist autoritärer deutscher Staatstradition, der die nicht weiter begründete Staatssicherheit über Bürgersicherheit und vor allem über die Sicherung demokratischer Teilnahmerechte des Bürgers stellte. So konzentrierte sich das Versammlungsgesetz primär auf Aspekte polizeilicher Sicherung entgegen dem Grundrecht. Obwohl Demonstrationen im Sinne Hesses seit Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik geradezu entdeckt worden und heute nicht mehr wegzudenken sind, ist das Versammlungsgesetz in der geltenden Fassung von 1985, erneut verändert durch das Artikelgesetz von 1989, nach wie vor mehr von der autoritären als der demokratisch-grundrechtlichen Tradition geprägt. Auch vor Mitte der 60er Jahre gab es eine Fülle von demonstrativen Äußerungen. Wolfgang Kraushaar hat diese Demonstrationsvielfalt der frühen Republik dankenswerterweise in seiner 1996 erschienenen „Protestchronik 1949-1959“ nüchtern und ereignisgenau ins Gedächtnis gerufen. Allerdings waren die seinerzeit gewählten Formen anders. Sie entsprachen als „Aufzüge und Aufmärsche“, die von großen Verbänden und Parteien organisiert worden sind, eher der Vorstellung des Versammlungsgesetzes.

Am Kampf ums Demonstrationsrecht und die verfassungsrechtlich-verfassungswirklich akzeptablen Grade und Grenzen seiner Praktizierung beteiligen sich unmittelbar vor allem Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern in unterschiedlicher Zahl zu diversen Demonstrationszielen. Am Kampf nehmen teil die staatlichen Instanzen, vertreten vor allem von der am Demonstrationsort eingesetzten Polizei. Und über die Möglichkeiten und Grenzen beider Seiten befinden nicht zuletzt in der üblichen Stufenfolge – in der Regel – die Verwaltungsgerichte. Neben dem Versammlungsgesetz sind vor allem einzelne Paragraphen des Strafgesetzbuches, vor allem die Bestimmungen über Landfriedensbruch ( § § 125/125 a StGB) sowie solche des Polizeirechts und neuerdings sogenannte Gefahrenabwehrgesetze (vgl. die jüngste niedersächsische Version von 1996) einschlägig.

Umstritten ist vor allem, wo, wann und zu welchen Zwecken auf welche Weise demonstriert werden darf; an welchen Merkmalen läßt sich rechts- und also polizeizwingend ablesen, ob eine Demonstration als friedlich oder unfriedlich zu qualifizieren ist: Wann ist ein Demonstrationsverbot insgesamt zulässig? Darf dies – und wann – vorausgreifend und weiträumig so erfolgen, daß Demonstrationen ortlos werden? Welche Auflagen ans Aussehen („vermummt“ oder nicht) und an Mitbringsel derjenigen, die an einer Demonstration teilnehmen wollen, sind eventuell zulässig? Welche organisatorischen Voraussetzungen einer Demonstration (Anmeldung, genauer Verlauf, Zurechenbarkeit zu verantwortlichen Personen u. ä. m.) sind den Demonstrierenden in jedem Fall abzuverlangen? Kurzum: Wie verhält es sich mit Gewaltäußerungen im Kontext von Demonstrationen; was ist Gewalt; geht Gewalt potentiell immer von Demonstrierenden aus, oder droht die Gefahr gleicherweise von der Art und Weise des eingesetzten staatlichen Gewaltmonopols, also der Polizei? All diese Fragen sind entsprechend dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genau abzuwägen. Und all diese Fragen sind unter den beteiligten Parteien – und selbstverständlich ist auch die staatliche Exekutive Partei – meist heftig umstritten. Ein gut Teil der Medienberichterstattung, gereizt vom Einschaltquotenwert aller Gewalt, fällt verzerrt aus. Darum sind von Bürgern und Bürgervereinigungen getragene, möglichst detaillierte Beobachtungen von Demonstrationen sehr bedeutsam.

Demonstrationen gehören heute zum bundesdeutschen Alltag. Sie demonstrieren ihrerseits, unbeschadet all ihrer Grenzen, lebendige Demokratie (sogar solche „rechtsradikaler“ Art). Sie sind auch die Konsequenz der Meinungsfreiheit, die sich hier kollektiv ereignet. Die Art der Demonstrationen, ihr Umfang, ihre Ziele, ihre Reichweite und ihre Verlaufsformen umfassen quantitativ und qualitativ ein großes Spektrum. Am Exempel dreier Demonstrationen bzw. verhinderter Demonstrationen seien einige allgemeine Eigenarten und Gefahren von Demonstrationen und des regierungsoffiziellen Umgangs mit ihnen apostrophiert: an der Demonstration rund um Gorleben gegen den 2. Castor-Transport im Mai 1996; an der verhinderten Als-ob-Demonstration in den sogenannten Chaostagen im Juli/August 1996 und an einer regierungsamtlichen Demonstration, der feierlichen Rekrutenvereidigung im Mai 1996 zu Berlin-Charlottenburg, sowie der verhinderten Gegendemonstration.

Zum ersten: Demonstrationen sind ein Politikum, genauer noch: ein „Demokratikum“. Ohne Demonstrationen kämen Bürgerinnen und Bürger, so minderheitlich oder auch mehrheitlich ihre Meinungen und Interessen sein mögen, nur repräsentativ bis zur Unkenntlichkeit verdünnt zu Wort. Welche Ansicht man immer in Sachen Kernkraftwerke und Zwischen- und Endlagerung vernutzter Brennstäbe hegen mag, die Art und Weise, wie politisch von oben – und immer erneut ohne ausreichende, umfängliche und zeitvolle Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern – eine bestimmte KKW-günstige Energiepolitik einseitig durchzupauken versucht wurde und wird, ist energiepolitisch schädlich, ja falsch und verstößt auch und gerade gegen den Sinn einer repräsentativen Demokratie. Sofern dieselbe auch noch Demokratie sein soll, steht ihr ein in der Bundesrepublik praktizierter repräsentativer Absolutismus entgegen. Was in den 80er Jahren von der bayerischen Staatsregierung im Taxölder Forst zu Wackersdorf geschehen ist, als dieser Forst gewaltsam gegen vernünftigen Bürgerprotest abgeholzt worden ist, spricht nach wie vor Bände.

Zum zweiten: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1985, die speziell die Vorlage eines Kieler Gerichts in Sachen Brokdorf betraf, der jedoch in Sachen Grundrecht auf Demonstration eine grundsätzliche Bedeutung zukommt, wird von Regierungsseite weithin mißachtet. In ähnlicher Mißachtung verhalten sich die höheren Instanzen der Verwaltungsgerichte. Es gibt allerdings Richter in der Bundesrepublik, die das Grundgesetz zu lesen vermögen.

Diese Mißachtung von Verfassung und Verfassungsgericht zeigt sich in der 1996 fortgesetzten, seit Jahren feststellbaren Inflation von „Allgemeinverfügungen“. Diese „Allgemeinverfügungen“, wer immer sie qua Zuständigkeit nominell ausgefertigt hat, tragen insofern ihren Namen zu Recht, als ohne skrupulöse Güterabwägung raumweit und zeitlang Demonstrationen verschoben bzw. verboten werden. Sowenig Gewalt leichtgenommen werden darf – Bürgerrechte kreisen erstlich und letztlich um das allen Menschen gleicherweise eignende Recht auf Integrität, zu deutsch: auf Unversehrtheit -, sowenig geht es an, gewaltmäulige Äußerungen einiger Gruppen, die an einer Demonstration teilnehmen wollen, ja selbst tatsächliche Zerstörungsakte von Sachen zum allgemeinen Gewaltakt aufzublasen, um eine Demonstration allgemein verbieten zu können. Durch staatliches Vorgehen dieser Art werden öffentliche Thematisierungen verhindert – gefördert werden gewaltförmige Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und einzelnen, die an einer Großdemonstration teilnehmen, und der regierungsamtlich häufig mißbrauchten Polizei. Statt Politik zu treiben (und das heißt auch und vor allem, sich mit kritischen Bürgerinnen und Bürgern auseinanderzusetzen), wird die Polizei eingesetzt.

Zum dritten: Seit Jahren findet eine auffällige innere gesetzesförmige Aufrüstung statt. Diese findet man beispielsweise im erneuerten niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz, das mit den Chaostagen begründet wurde, die im Juli/August 1996 mit Punk-Gruppen und -Grüppchen zum wiederholten Male in Hannover stattfinden sollten. Das verschärfte Gefahrenabwehrgesetz, das unter anderem viertägige Verhaftungen von Bürgerinnen und Bürgern ohne weitere Begründung und ohne rechtsanwaltlichen Schutz erlaubt, demonstriert geradezu die Verwahrlosung eines der Kernelemente des herkömmlichen Rechtsstaats, insofern ein besonderer Fall („Chaostage“) dazu herhalten muß, ein allgemeines Gesetz zu verabschieden. Mehr noch: Mit gesetzlichen Kanonen wird auf Spatzen möglicher regelverletzender Akte geschossen, die weithin im normalbürgerlich ungewöhnlichen Auftreten zu bestehen scheinen. Hinzu gesellte sich dann im Juli konsequent eine über 14 Tage sich erstreckende, für die Stadt und den Landkreis Hannover geltende „Allgemeinverfügung“. Der Zweck wurde erreicht. Eine polizeiliche Allpräsenz sorgte ohne weitere Störungen des „normalen“ Einkaufsverkehrs dafür, daß punkartig und jung aussehende Bürger abgeschoben wurden.

Zum vierten: An der in Berlin inszenierten Vereidigung vor dem Charlottenburger Schloß wird ein Umstand besonders deutlich, der auch anderwärts eine Rolle spielt. Die aktuellen Regierungen nehmen, als handele es sich um vordemokratische, um vorgrundrechtliche Zeiten, „den Staat“ und das ihm eignende Gewaltmonopol für ihre höchst einseitigen Zwecke in Anspruch. Gewiß: Die Bundesregierung kann beschließen, irgendwo in Berlin Truppen in pathetisch-symbolischem Akt öffentlich zu vereidigen (so zweifelhaft eine solche öffentliche Vereidigung „mit singendem Spiel“ Ende des 20. Jahrhunderts auch ist). Indes: Diese Bundesregierung muß dann eben gewärtigen, von gleichfalls berechtigten Bürgerinnen und Bürgern mit anderer Öffentlichkeit konfrontiert zu werden. Es geht nicht an, die regierungsamtliche Öffentlichkeit – zum Beispiel mit Tage vorausreichenden Reservierungs- und Besuchverboten in anliegenden Restaurants -, als sei sie die staatlich allgemeine schlechthin, gegen die Bürgeröffentlichkeit polizeihart durchzupauken.

Das Recht auf Demonstration (und seine Praxis) ist die Luftröhre der Demokratie. Gegen seine Verkürzung ist bürgerlich und bürgerrechtlich alles zu tun, wozu wir in der Lage sind – der nichteinvernehmende und nichtautoritäre Plural sei mir ausnahmsweise appellhaft gestattet. Nicht zuletzt dadurch, daß wir das Recht auf Demonstration wahrnehmen; daß wir darauf achten, daß keine Verletzungen menschlicher Integrität (auch, versteht sich, der Polizeibeamten) passiert; und daß wir für sorgfältige und scheuklappenlose Demonstrationsbeobachtungen sorgen. So wichtig es ist, dagegen anzugehen, daß Demonstrationen mit Hilfe im voraus behaupteter und immer nur bei den Bürgern angenommener Gewalt pauschal verboten oder auf die eine oder andere Weise unterdrückt werden, so sehr kommt es darauf an, sich unter allen Teilnehmenden an Demonstrationen, so divers ihre politischen Ziele sein mögen, immer erneut darauf zu verständigen, keine Gewalt zu benutzen. Nur dann ist der Kampf um das Recht auf Demonstration nicht einäugig.

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