Ist die Wehrpflicht noch zu rechtfertigen?
Ulrich Finckh
Grundrechte-Report 1997, S. 130-133
Manchmal macht eine kleine Verfremdung nachdenklich. Was würden wir sagen, wenn die Türkei oder Nigeria wegen der vielen Angriffe auf Landsleute in Deutschland ein Kommando Sicherheitskräfte (KSK) aufstellen würde, um Landsleuten notfalls zu Hilfe zu kommen? Wir würden das ohne Zweifel als Angriffsdrohung verurteilen. Was ist dann aber zu unserem neuen „KSK“ zu sagen, den Krisenreaktionskräften (KRK)? Ist dieses Kommando vereinbar mit dem Verbot des Angriffskrieges nach Artikel 26 des Grundgesetzes?
Eine andere Frage: Was würden wir sagen, wenn Polen eine Verkleinerung seiner Armee ablehnen würde mit der Begründung: Je mehr Weißrußland, die Ukraine oder Rußland abrüsten, desto wichtiger wird eine große polnische Armee in der Mitte Europas? So ist die offizielle deutsche Haltung: Je kleiner die Armeen der Verbündeten, desto größer die deutsche (Frankfurter Rundschau vom 3.2.1997). Entspricht das der Verpflichtung des Grundgesetzes, „dem Frieden der Welt zu dienen“ (Präambel)?
Die derzeitige Diskussion über die Bundeswehr ist höchst problematisch. Der Kampfeinsatz in Bosnien erfolgt im Rahmen der NATO – aber außerhalb des klar definierten Vertragsgebietes. Er gilt als Einsatz im Auftrag der UNO – aber die Bestimmungen der UN-Charta über Kampfeinsätze sind nicht eingehalten.
Die meisten Politiker und Militärs betonen die Notwendigkeit der Wehrpflicht. Häufig wird sie als Normalfall hingestellt, Kriegsdienstverweigerung als Ausnahme. Wer dann im Grundgesetz nachliest, wird schnell feststellen: Freiheit der Berufswahl, Verbot von Zwangsdienst – das ist nach Art. 12 GG der Normalfall. Der folgende Art. 12a GG regelt insgesamt nur eine Ausnahme. Der Gesetzgeber kann – nicht etwa muß oder soll – eine Wehrpflicht regeln. Diese Pflicht ist dann eine Ausnahme vom Zwangsdienstverbot des Art. 12 GG.
Wenn der Gesetzgeber ermächtigt wird, einen weitgehenden Eingriff in das Leben einzelner Menschen vorzunehmen, so ist das keine Erlaubnis zu Willkür. Ohne Zweifel muß ein solcher Eingriff begründet werden. Die Begründung liefert allein Art. 87a Abs. 1 GG: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Schon 1978 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß damit nicht die Wehrpflicht verlangt wird. Ob Freiwilligen- oder Wehrpflichtarmee, ist Sache des Gesetzgebers. Er hat zu prüfen, was notwendig und angemessen ist.
Bei der Einführung der Wehrpflicht 1956 ging der Gesetzgeber von einer akuten Bedrohung durch den Warschauer Pakt und der Notwendigkeit einer Bundeswehr von 500000 Mann aus. Ohne Wehrpflicht war das nicht machbar. Wo aber ist heute die akute Bedrohung? Wieso muß Deutschland über 300000 Soldaten haben, wenn Staaten wie Frankreich oder Großbritannien mit viel weniger Soldaten auskommen? Und welchen Sinn haben Soldaten, die nur zehn Monate Dienst tun, in einer technisch immer komplizierter werdenden Armee?
Die Bundeswehr soll nach ihrer eigenen Planung aus 56800 Berufssoldaten, 143200 Zeitsoldaten, 20000 freiwillig länger dienenden Wehrpflichtigen (W 12-W 23), 115000 Wehrpflichtigen (W 10), 2000 Soldatinnen und 3000 Reservisten bestehen. Wehrpflichtige (W 10) sind demnach nur noch ein Drittel der 340000 Soldaten. Alle Vorgesetzten und Spezialisten sind länger dienende Freiwillige. Die sogenannten Krisenreaktionskräfte (KRK) bestehen nur aus Freiwilligen. Die einfachen Wehrpflichtigen sind also nur die Handlanger für einfache Dienste oder Reserve, um die Freiwilligen zu ersetzen. Für tatsächliche Verteidigungsaufgaben sind sie nicht ausreichend ausgebildet, Einfluß auf die Armee haben sie nicht. Für die internationalen Einsätze kommen sie kaum in Frage.
Wie ist unter diesen Umständen die Wehrpflicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren? Ist die Ausnahmeerlaubnis des Art. 12a gegenüber der Norm des Art. 12 GG noch anwendbar? Eine Verteidigungsnotwendigkeit gibt es für Deutschland, umgeben von Verbündeten und befreundeten Staaten, nicht. Die Mehrheit der NATO-Staaten verzichtet derzeit auf die Wehrpflicht, eine Bündnisnotwendigkeit kann es also auch nicht mehr geben. Im Gegenteil sind die integrierten Verbände mit Verbündeten, die nur Freiwillige haben, ein Argument gegen die Wehrpflicht.
Was rechtfertigt den schweren Eingriff der Wehrpflicht ins Leben des jungen Staatsbürgers? Spricht nicht inzwischen alles dagegen, daß die Verfassungsermächtigung unter diesen Umständen noch in Anspruch genommen werden darf?
Wie stark die Wehrpflicht in Leben und Beruf der jungen Männer eingreift, muß man sich klarmachen: Vor der Ableistung des Wehr- oder Ersatzdienstes finden viele keine dauerhafte Arbeit. Der Verlust eines Jahres bedeutet für junge Akademiker oft, daß sie als Berufsanfänger zu alt werden. Für künstlerische Berufe und für Selbständige kann die erzwungene Unterbrechung das Ende der Berufspläne bedeuten. Hinzu kommen der erzwungene Einnahme- und Konsumverzicht, die Trennung von Familie, Freunden, Freundin und die Unfreiheit eines Lebens unter dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Wer dies alles jungen Männern zwangsweise auferlegen will, muß gute, dringende Gründe haben, sonst ist das mit der Garantie der Menschenwürde, den Freiheitsgarantien und dem Zwangsdienstverbot des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren. Solche Gründe gibt es aber seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr.
Ein weiteres Problem ist die Wehrgerechtigkeit. 115000 Wehrpflichtige (W 10) bedeuten, daß im Laufe eines Jahres 138000 Wehrpflichtige einberufen werden. Ebenfalls im Laufe eines Jahres werden ca. 120000 Ersatzdienstpflichtige zum Zivildienst einberufen, ca. 15000 Wehrpflichtige zum Katastrophenschutz verpflichtet und ca. 1000 zu anderen Ersatzdiensten. Die Gesamtzahl entspricht fast genau der Zahl der jährlich einberufenen Wehrpflichtigen (W 10). Von den ca. 400000 Männern eines Geburtsjahres leistet also ziemlich genau ein Drittel als Wehrpflichtige (W 10) Wehrdienst und ein weiteres Drittel Ersatzdienst. Das dritte Drittel leistet entweder keinerlei Dienst (Untaugliche, Wehrdienstausnahmen wie Theologen, Väter, dritte Söhne, unabkömmlich Gestellte) oder bezahlte Dienste, die auf die Wehrpflicht angerechnet werden (Freiwillige der Bundeswehr, Polizisten etc.). Die Wehrpflicht steht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1978 unter dem Gebot der Wehrgerechtigkeit, abgeleitet aus Art. 3 GG. Wenn Wehrpflicht, dann allgemein und für alle gleich. Ob die Wehrgerechtigkeit noch gegeben ist, muß unter diesen Umständen bezweifelt werden.
Tatsächlich interessiert ist die Bundesregierung nur noch an den freiwillig länger dienenden Soldaten, die sie für die Krisenreaktionskräfte braucht. Ihre Einheiten werden besser ausgerüstet und intensiver ausgebildet. Die freiwillig länger Dienenden erhalten viel mehr Geld als andere Soldaten (über 1000 DM im Monat zusätzlich), dazu Prämien und Vergünstigungen zum Dienstende. Wie ist die Ungleichbehandlung gegenüber den einfachen Wehrpflichtigen (W 10) zu rechtfertigen? Widerspricht sie nicht dem Gleichheitsgebot des Art. 3 GG?
Wer die derzeitigen Aufgaben und die derzeitige Praxis der Bundeswehr genauer betrachtet, muß feststellen: An vielen Stellen kollidiert die Wehrpflicht inzwischen mit der Verfassung. Auch der Einsatz von Krisenreaktionskräften außerhalb des NATO-Gebietes ist mit der Friedenspflicht und mit der Beschränkung der Bundeswehr auf Verteidigungsaufgaben unvereinbar.